Parfüm und Rindswurst
Charlotte Hirdmans spektakulärer Lebenslauf ist ohne die europäische Geschichte und ihre politischen Verwerfungen undenkbar. Ihre Tochter Yvonne hat aus Tagebucheintragungen, Zeitberichten und Gedichten eine kluge Biografie gemacht.
Alles beginnt mit dem Tod ihrer Mutter im Februar 1966 und mit einer Tüte voll hinterlassener Habseligkeiten, die sie an sich nimmt: einige Taschenkalender mit stenografischen Notizen, Häkelnadeln, Abzeichen diverser Gewerkschaftsverbände. Ein Tagebuch findet sie im Papierkorb. Yvonne Hirdman spricht von einer vagen Erinnerung, wenn sie von ihrer Mutter Charlotte, auch Lottie oder Lolotte genannt, spricht. Dabei spürt sie einen zarten Hauch von Chanel No.5 sowie den Geruch von Rindswurst mit Knoblauch und Tomatenpüree. Die Kindheit ist voller Magie. Wie aber lässt sich ein halbes Jahrhundert danach ein Leben rekonstruieren, das aus weißen Flecken und sinnlichen Erinnerungen besteht. Im Prolog zu ihrem Buch spricht Hirdman aus, was zum Geheimnis der Biographen gehört. Die Verzweiflung über unzureichendes Material und die Scham, zu Lebzeiten kaum Fragen gestellt zu haben.
Dabei ist Charlotte Hirdmans Lebenslauf ohne die europäische Geschichte und ihre politischen Verwerfungen undenkbar. 1906 in Dorpat/Estland geboren, wächst sie in der Bukowina als Tochter eines Buchhändlers auf. Charlotte ist sprachbegabt und arbeitet als Stenotypistin u.a. im Jenaer Eugen Diederichs Verlag. Als sie 1929, im Jahr der Weltwirtschaftskrise, den auf Schloss Nitau/Riga geborenen Schriftsteller und Widerstandskämpfer Alexander Graf Stenbock-Fermor (Ps. Peter Lorenz) heiratet, politisiert sich ihr Leben. Das Paar zieht nach Berlin. Sie feiern rauschende Feste und genießen das Großstadtflair. Auf den wenigen Fotos, die es von Charlotte gibt, sieht man eine attraktive, modern gekleidete Lady. Bald verschlechtert sich das Klima, sie wird politisch aktiv, lässt sich scheiden und geht eine Beziehung mit dem Kommunisten Heinrich Kurella ein. Als er 1937 ein Opfer der Moskauer Schauprozesse wird, ist aus der "roten Gräfin" längst eine Kommunistin geworden. Charlotte flüchtet in die Sowjetunion, dann nach Frankreich. Dort lernt sie Einar Hirdman kennen, mit dem sie 1939 in Schweden Zuflucht findet.
Der 1943 geborenen Yvonne Hirdman ist ein kluges Buch gelungen. Mit ihrer entfesselten, offenen Erzählweise entfacht sie ein Handlungsgeschehen, das sich aus vielen "nützlichen Fasern" zusammensetzt. Jede Faser steht für ein Sprechen: Tagebucheintragungen, Zeitberichte, Gedichte, Kommentare. Dabei wird das Textganze immer wieder vom Selbstgespräch der Autorin unterbrochen. Korrigierend fällt sie sich ins Wort und stellt die gerade gewonnen Erkenntnisse in Frage. Aus der Vielfalt der Quellen gewinnt Hirdman ein eigenwilliges Ordnungsprinzip, in der die Geschichte der kommunistischen Bewegung ebenso Platz hat wie die der Weimarer Republik und der Moskauer Schauprozesse. Allem aber ist dem Lebenslauf der Mutter zugeordnet.
Besprochen von Carola Wiemers
Yvonne Hirdman: Meine Mutter, die Gräfin. Ein Jahrhundertleben zwischen Boheme und Kommunismus
Aus dem Schwedischen von Nina Hoyer
Insel Verlag 2011
574 Seiten, 22,90 Euro
Dabei ist Charlotte Hirdmans Lebenslauf ohne die europäische Geschichte und ihre politischen Verwerfungen undenkbar. 1906 in Dorpat/Estland geboren, wächst sie in der Bukowina als Tochter eines Buchhändlers auf. Charlotte ist sprachbegabt und arbeitet als Stenotypistin u.a. im Jenaer Eugen Diederichs Verlag. Als sie 1929, im Jahr der Weltwirtschaftskrise, den auf Schloss Nitau/Riga geborenen Schriftsteller und Widerstandskämpfer Alexander Graf Stenbock-Fermor (Ps. Peter Lorenz) heiratet, politisiert sich ihr Leben. Das Paar zieht nach Berlin. Sie feiern rauschende Feste und genießen das Großstadtflair. Auf den wenigen Fotos, die es von Charlotte gibt, sieht man eine attraktive, modern gekleidete Lady. Bald verschlechtert sich das Klima, sie wird politisch aktiv, lässt sich scheiden und geht eine Beziehung mit dem Kommunisten Heinrich Kurella ein. Als er 1937 ein Opfer der Moskauer Schauprozesse wird, ist aus der "roten Gräfin" längst eine Kommunistin geworden. Charlotte flüchtet in die Sowjetunion, dann nach Frankreich. Dort lernt sie Einar Hirdman kennen, mit dem sie 1939 in Schweden Zuflucht findet.
Der 1943 geborenen Yvonne Hirdman ist ein kluges Buch gelungen. Mit ihrer entfesselten, offenen Erzählweise entfacht sie ein Handlungsgeschehen, das sich aus vielen "nützlichen Fasern" zusammensetzt. Jede Faser steht für ein Sprechen: Tagebucheintragungen, Zeitberichte, Gedichte, Kommentare. Dabei wird das Textganze immer wieder vom Selbstgespräch der Autorin unterbrochen. Korrigierend fällt sie sich ins Wort und stellt die gerade gewonnen Erkenntnisse in Frage. Aus der Vielfalt der Quellen gewinnt Hirdman ein eigenwilliges Ordnungsprinzip, in der die Geschichte der kommunistischen Bewegung ebenso Platz hat wie die der Weimarer Republik und der Moskauer Schauprozesse. Allem aber ist dem Lebenslauf der Mutter zugeordnet.
Besprochen von Carola Wiemers
Yvonne Hirdman: Meine Mutter, die Gräfin. Ein Jahrhundertleben zwischen Boheme und Kommunismus
Aus dem Schwedischen von Nina Hoyer
Insel Verlag 2011
574 Seiten, 22,90 Euro