Heike Kleffner, geboren 1966, ist Geschäftsführerin des Verbandes der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt. Die Journalistin schreibt seit den 1990er Jahren über rechte Gewalt, Neonazis und die Situation von Geflüchteten, u. a. für "Taz", "Zeit Online", "Tagesspiegel" und "Frankfurter Rundschau". Zuletzt hat sie mit Matthias Meisner den Band "Extreme Sicherheit: Rechtsradikale in Polizei, Verfassungsschutz, Bundeswehr und Justiz" (Herder, 2019) herausgegeben.
"Zum Glück gibt es viele Menschen, die beherzt eingreifen"
29:50 Minuten
Rassistische Übergriffe werden nicht nur von Neonazis verübt, sagt Journalistin Heike Kleffner. Gelegenheitstäter seien ebenso gefährlich wie organisierte Neonazis. Jeder könne sich allerdings als Zeuge zur Verfügung stellen, um Opfer zu unterstützen.
Angesichts des rassistischen Attentats von Hanau mit zehn Todesopfern sollten wir die Opfer in den Blick nehmen, betont die Journalistin Heike Kleffner. "Die Menschen, die in Hanau erschossen wurden, die sind von hier, die haben hier gelebt, die wollten hier eine Zukunft aufbauen, die haben hier eine Ausbildung gemacht."
Anders als bei den Morden des NSU oder beim Oktoberfestattentat des Jahres 1980 sei die Bundesregierung im Fall Hanau aber "zum Glück" auf die Familien und Angehörigen der Opfer zugegangen. Zuständig sei dafür der Opferbeauftragte der Bundesregierung, Edgar Franke (SPD).
Dieser könne staatliche Hilfen anbieten und insbesondere die Anerkennung von Seiten der Bundesregierung übermitteln, dass die Betroffenen Opfer von Rassismus geworden sind. Kleffner nannte dies "ein sehr wichtiges Signal".
Taten sollen Angst und Schrecken verbreiten
Bei rassistischen, antisemitischen und rechtsextremen Gewalttaten handele es sich um sogenannte Botschaftstaten, "mit denen Angst und Schrecken verbreitet werden soll", sagt die Journalistin. Die Opfer würden als Individuen angegriffen, aber auch als Teil einer Gruppe, die in den Augen der Täter weniger wert sei, politisch bekämpft und vernichtet werden solle.
Täter seien nicht zwingend Neonazis. "Die sogenannten Gelegenheitstäter sind mindestens so gefährlich wie organisierte Neonazis", betont die Rechtsextremismus-Expertin. Täglich würden Menschen in Supermärkten, in der Straßenbahn oder im öffentlichen Raum angegriffen. Anders als im Mordfall des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke im August 2019, der mutmaßlich von aktiven Neonazis mit langjähriger, lückenloser Gewaltgeschichte getötet wurde, seien diese Gelegenheitstäter den Ermittlungsbehörden oft nicht bekannt.
Mehr Personal für die Ermittlungsbörden
Lange Zeit sei von den Behörden unterschätzt worden, dass die extreme Rechte tatsächlich nicht nur Waffen hortet, weil sie waffenaffin ist, sondern weil sie damit Menschen umbringen wolle, betont Kleffner. Ziel der extremen Rechten sei die Inszenierung eines sogenannten Bürgerkriegs, damit die demokratische Grundordnung ausgehebelt und dann nach dem Führerprinzip ein autoritärer Staat errichtet werden könne.
Wenn man die Ermittlungsbehörden, das Bundeskriminalamt und auch die Landeskriminalämter, mit mehr Personal ausstatten und außerdem in allen Bundesländern Schwerpunktstaatsanwaltschaften zu rassistischer und rechtsextremer Gewalt einrichten würde, dann wäre dies der richtige Schritt, sagt Kleffner.
Besonders wichtig sei nicht zuletzt, dass wir die Opfer nicht allein lassen, so die Journalistin. "Zum Glück gibt es viele Menschen, die beherzt eingreifen – bei Rassismus, bei Antisemitismus." Jeder könne die 110 wählen und sich als Zeuge oder Zeugin zur Verfügung stellen. Für die Überlebenden von Gewalttaten mache es einen "zentralen Unterschied", ob jemand geholfen habe oder nicht.
(huc)
_____________________________________________________________________________________________________________________
Das Interview im Wortlaut:
Deutschlandfunk Kultur: Man hat den Eindruck, dass der Terroranschlag von Halle eine Zäsur war. Die "Tat komme aus der Hölle des Hasses und der Verblendung", schreibt ein Kommentator in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Bluttaten wie in Hanau kämen nicht aus heiterem Himmel. -Rechtsterrorismus ist unser Thema jetzt im Tacheles-Gespräch.
Bei uns zu Gast ist Heike Kleffner, Journalistin und Buchautorin. Jüngst hat sie den Band "Extreme Sicherheit. Rechtsradikale in Polizei, Verfassungsschutz, Bundeswehr und Justiz" herausgegeben. Sie beschäftigt sich seit den 90er Jahren mit Rechtsextremismus und sie ist Geschäftsführerin des Bundesverbandes der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt. – Guten Tag, Frau Kleffner.
Heike Kleffner: Hallo und guten Tag.
Deutschlandfunk Kultur: Haben Sie damit gerechnet, dass es eines Tages so einen fürchterlichen Anschlag geben würde?
"Die wollten den Bürgerkrieg inszenieren"
Kleffner: Wenn wir uns anschauen, wie dicht aufeinander die jüngsten rechtsterroristischen Attentate erfolgt sind, dann war das tatsächlich zu befürchten. Schauen Sie: Der Mord Walter Lübcke, dem CDU-Regierungspräsidenten in Kassel ist ja noch nicht mal ein halbes Jahr her. Da waren die mutmaßlichen Täter langjährig organisierte Neonazis. Dann das fürchterliche antisemitische, rassistische, rechtsterroristische Attentat in Halle an der Saale mit zwei Toten, fünfzig glücklicherweise Überlebenden, vielen Verletzten, das ist gerade mal vier Monate her. Als dann in der letzten Woche bekannt wurde, dass das BKA und der Generalbundesanwalt gegen die sogenannte rechtsterroristische "Gruppe S" vorgegangen sind mit mindestens zwölf mutmaßlichen Beteiligten, darunter ein Verwaltungsbeamter der Polizei, die hatten geplant, Moscheen anzugreifen. Die wollten den Bürgerkrieg inszenieren. Da hatten wir alle befürchtet, dass das wirklich nicht das letzte Attentat durch Rechtsterroristen sein würde.
Deutschlandfunk Kultur: Ich möchte auf etwas anderes zu sprechen kommen. Bei solchen Anschlägen ist zunächst immer viel von den Tätern die Rede und von deren Motiven. Das ist auch wichtig. Aber ich möchte jetzt mit Ihnen zunächst über die Opfer rechtsextremer Gewalt reden.
In diesem Fall, in Hanau, waren es Menschen mit Migrationshintergrund. – Wer wird in der Regel Opfer rechtsextremer Gewalt? Gibt es da ein Muster?
Kleffner: Ich würde es anders formulieren. Die Menschen, die in Hanau erschossen wurden, sind von hier. Wo sie oder ihre Familien herkommen, ist sehr unterschiedlich. Die haben hier gelebt. Die wollten hier eine Zukunft aufbauen. Die haben hier eine Ausbildung gemacht. Ihre Familien haben als Kurden hier Schutz vor politischer Verfolgung gesucht. Die haben hier ihre Kinder großgezogen. Das sind Menschen von hier.
Die Unterscheidung zwischen sogenanntem Migrationshintergrund und anderen, sollte aufhören. Das ist die rassistische Unterscheidung, die die Täter machen, die den Tätern die Steilvorlage geben. Wir sollten davon sprechen, dass insbesondere Menschen, die von Tätern wegen ihrer vermeintlichen oder realen Herkunft, wegen ihrer vermeintlichen oder realen Religionszugehörigkeit, wegen ihres politischen Engagements ausgewählt werden, wegen ihrer Behinderung, besonderen Schutz brauche – von uns allen, von der gesamten Gesellschaft.
Deutschlandfunk Kultur: Ich wollte damit auch nicht eine Hierarchie aufstellen, sondern meine Frage zielte darauf, ob solche rechtsextremistischen Gewalttäter besondere Gruppen im Auge haben und die auch Opfer werden. Das können ja ganz unterschiedliche sein.
Kleffner: Genau. Wenn wir uns die Statistiken und die Zahlen sowohl des Bundeskriminalamtes als auch die unabhängigen Zahlen der Opferberatungsstellen anschauen, dann sehen wir, dass in den letzten fünf Jahren überwiegend Menschen aus rassistischen Motiven angegriffen worden sind, weil sie als Geflüchtete, als Frauen mit Kopftüchern, als Menschen mit oder ohne Migrationsgeschichte und Erfahrung in dem Weltbild der Täter rassistisch als "die anderen" markiert werden.
Und wir müssen auch sehen, dass die Feindbestimmung der Täter tatsächlich direkt zurückgeht auf die nationalsozialistische Ideologie.
Deutschlandfunk Kultur: Wo knüpfen die denn da genau an? Ist das belegbar?
Eine Kontinuitätslinie
Kleffner: Ja. Das sehen wir in den Äußerungen oder Selbstbekenntnissen der Attentäter, sei es im Fall von dem Attentat von Halle/Saale oder auch jetzt in diesem Fall: offener Rassismus, offener Antisemitismus. Das sind im Übrigen auch die gleichen Feindbilder wie wir sie beim nationalsozialistischen Untergrund gesehen haben, wie wir sie auch beim Rechtsterrorismus der 70er- und 80er-Jahre gesehen haben.
Wenn wir dann schauen, wen die Nationalsozialisten umgebracht haben als Feindbilder, als "andere" markiert haben, dann ist das eine Kontinuitätslinie. Man darf auch nicht vergessen, die Täter beziehen sich ja positiv auf die Vernichtungsideologie der Nationalsozialisten, verherrlichen die Shoa, verherrlichen den Völkermord an Roma und Sinti.
Deutschlandfunk Kultur: Sie sind Geschäftsführerin des Bundesverbandes der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt. – Wie können Sie Menschen helfen, die sich an diese Beratungsstellen wenden?
Kleffner: Glücklicherweise, muss man sagen, gibt es diese Beratungsstellen inzwischen in allen Bundesländern. In Ostdeutschland gibt es die schon länger, nämlich seit dem furchtbaren rassistischen Mord an Alberto Adriano zur Jahrtausendwende. In Hessen zum Beispiel oder auch in Bayern und in anderen westdeutschen Bundesländern gibt es die seit ungefähr zehn Jahren.
Menschen, die sich an die Beratungsstellen wenden oder von den Beratungsstellen Hilfe angeboten bekommen, bekommen Hilfestellung unter anderem bei Antragstellungen, aber auch psychosoziale Beratung. Sie werden zu Prozessen begleitet, werden zu Vernehmungen bei der Polizei oder der Staatsanwaltschaft begleitet, weil es eben auch die Erfahrung gibt, dass insbesondere Betroffene von Rassismus leider allzu oft mitverantwortlich gemacht werden für die Gewalt, die sie erlebt haben, oder dass ihnen mit rassistischen Vorurteilen begegnet wird.
Deutschlandfunk Kultur: Bei den Behörden, bei der Polizei?
Kleffner: Bei den Behörden, bei der Polizei! Denken Sie an die Erfahrung, die die Angehörigen der Mordopfer des NSU gemacht haben, die quasi über ein Jahrzehnt hinweg kriminalisiert wurden in ihren Familien. Den Getöteten wurde unterstellt, sie seien Teil von organisierter Kriminalität. Ihre Hinweise darauf, dass die Mörder Neonazis sein müssten, sind ungehört verhallt.
Jetzt sehen wir zum Glück, muss man sagen, in Hanau ein sehr gutes Zugehen auf die Familien, auf die Angehörigen, unter anderem durch den Opferbeauftragten der Bundesregierung.
Deutschlandfunk Kultur: Dann bleiben wir mal bei diesem Opferbeauftragten. Das ist zurzeit Edgar Franke. Er soll sich um die Opfer und Hinterbliebenen von Terroranschlägen allgemein kümmern. – Was kann denn ein solcher Opferbeauftragter leisten?
Kleffner: Was der Opferbeauftragte – das ist, glaube ich, auch eine sehr wichtige Funktion – leisten kann, ist, dass er den Angehörigen, den Hinterbliebenen, aber auch den Verletzten staatliche Hilfe anbieten kann und auch die Anerkennung von Seiten der Bundesregierung, dass sie Opfer von Rassismus geworden sind, dass der Staat sie schützen und sie unterstützen will. Das ist ein sehr wichtiges Signal.
Deutschlandfunk Kultur: Dass sie letztlich Teil dieser Gesellschaft sind und dazu gehören und eben genauso behandelt werden wie jeder andere auch behandelt werden will?
Kleffner: Ja, und dass die Opfer von rassistischer, antisemitischer Gewalt hoffentlich nie wieder die Erfahrung machen müssen, die die Angehörigen der NSU-Mordopfer und die Verletzten der NSU-Anschläge eben gemacht haben, dass sie kriminalisiert wurden, dass sie – wie Kubasik und Semia Simsek, die Töchter von zwei der Mordopfer, gesagt haben – nicht einmal ein Opfer sein durften. Da ist wirklich zu hoffen, dass das nie wieder passiert.
Deutschlandfunk Kultur: Ist dieser Beauftragte eine effektive Institution? Wir haben ja auch jetzt seit mehreren Jahren Beauftragte für Antisemitismus zum Beispiel. Ist es damit sozusagen getan? Oder funktioniert das in Ihren Augen in der Praxis erstmal so?
Kleffner: Da gibt es sicherlich unterschiedliche Erfahrungen. Der Opferbeauftragte ist ja auch Beauftragter zum Beispiel für die Überlebenden des Breitscheidplatz-Anschlags.
Deutschlandfunk Kultur: Ein islamistischer Anschlag.
Kleffner: Genau. Er ist der Beauftragte für die Überlebenden und Verletzten und die Angehörigen des antisemitischen Attentats in Halle. Wichtig scheint mir etwas anderes, dass nämlich auch über so einen Opferbeauftragten eben deutlich gemacht wird, dass der Staat sofort an der Seite der Opfer ist. Wir wissen es von anderen Überlebenden rechtsterroristischer Attentate, zum Beispiel der Opfer des Oktoberfest-Attentats. Dieses Jahr wird sich das zum vierzigsten Mal jähren.
Deutschlandfunk Kultur: Das war 1980, ist nie aufgeklärt worden.
Kleffner: Genau. Wir wissen, dass diese Opfer quasi drei Jahrzehnte komplett alleine gelassen wurden. Erst nach der Selbstenttarnung des NSU hat man auch wieder angefangen, sich aktiv um sie zu kümmern. Wir wissen das auch von anderen Opfern der rassistischen Brandanschläge der 1990er-Jahre. Die sind auch sehr lange alleine gelassen und stigmatisiert worden.
Insofern ist ein staatlicher Opferbeauftragter wirklich ein wichtiges Signal.
Das andere wichtige Signal ist tatsächlich, dass die Bundesregierung, und zwar unabhängig von den parteipolitischen Zusammensetzungen der Bundesregierung, seit fast zwei Jahrzehnten mit den unabhängigen Opferberatungsstellen als Teil der Programme "für Demokratie, gegen Rechtsextremismus", dafür sorgt, dass es ein nichtstaatliches Beratungs- und Unterstützungsangebot gibt. Für viele Menschen, die – aus was für Gründen auch immer – schlechte Erfahrungen oder Vorerfahrungen gemacht haben, beispielsweise mit Polizei, ist es wichtig, auch nichtstaatliche Ansprechpartner zu haben.
Deutschlandfunk Kultur: Also, ein sogenanntes "niederschwelliges Angebot" zur Verfügung zu stellen.
Kleffner: Genau.
Deutschlandfunk Kultur: Gibt es etwas, was die Opfer Rechtsextremer oder überhaupt dieser extremistischen Gewalt unterscheidet von den Opfern – in Anführungsstrichen – "normaler" Kriminalität?
Kleffner: Ja, und zwar: Opfer von rassistischer, antisemitischer und auch rechtsextremer Gewalt werden als Individuen angegriffen, aber sie werden auch als Teil einer Gruppe angegriffen, die in den Augen der Täter weniger wert ist, politisch bekämpft werden soll, vernichtet werden soll. Es handelt sich um sogenannte "Botschaftstaten", mit denen Angst und Schrecken verbreitet werden sollen.
Deswegen ist es auch so wichtig, präzise zu benennen, warum jemand angegriffen wurde, was das Motiv der Täter ist. Weil, die Opfer, die Betroffenen wissen das. Ihre Freundinnen und Freunde wissen es auch. Und wir alle müssen darüber sprechen. Nur dann können wir auch wirklich a) solidarisch sein und b) auch effektiv rechte Gewalt bekämpfen.
Deutschlandfunk Kultur: Wir haben damit angefangen, dass wir gesagt haben, über die Täter wird sehr viel und auch schnell berichtet. Es gab jetzt das Beispiel, dass die "BILD"-Zeitung praktisch die ganze Seite 1 diesem Täter gewidmet hatte, was heftig kritisiert wurde vom Vorsitzenden des Bundes deutscher Kriminalbeamter. – Sehen Sie das ähnlich wie dieser Kriminalbeamte?
Die Namen der Opfer verankern
Kleffner: Auf jeden Fall, und zwar noch aus einem anderen Grund. Ibrahim Aslan, der den rassistischen Brandanschlag 1992 in Mölln überlebt hat, sagt immer – und ich finde, sehr zu Recht: "Wir müssen in den Schulen, in den Medien die Namen der Opfer verankern und nicht die Namen der Täter." Wenn der in Schulklassen kommt oder wenn ich mit meinen Studierenden beispielsweise rede, dann wissen immer sofort, wer Beate Zschäpe ist, Uwe Mundlos beispielsweise. Und so wird das jetzt mit den Attentätern von Hanau und Halle auch sein.
Aber Namen die Namen der Opfer von Hanau, die müssen wir kennen. Und auf deren Familien müssen wir zugehen.
Deutschlandfunk Kultur: Frau Kleffner, kommen wir jetzt zu den Tätern. Solche Täter, wie der von Hanau und der von Halle ja auch, sind ja ein Alptraum für die Ermittlungsbehörden und die Sicherheitsbehörden, weil die im Vorfeld so schwer zu identifizieren und zu enttarnen sind. – Wie kann man dem begegnen?
Kleffner: Ich glaube, wir müssen uns wirklich sehr präzise darüber unterhalten, mit welchen Tätergruppen und potenziellen Tätergruppen wir es hier zu tun haben. Ich würde da sagen: Schauen wir uns erstmal die mutmaßlichen Täter, Tatbeteiligten im Fall von Walter Lübcke an. Aktive Neonazis, und zwar seit zwanzig Jahren eine lückenlose Gewaltgeschichte, vielfach mit Gewalttaten aufgefallen, dann aufgefallen zuletzt bei AfD-Aufmärschen in Chemnitz 2018, an die AfD gespendet und eben Mitglieder von Schützenvereinen. – Das sind Täter oder "mutmaßliche Täter", muss man ja sagen, da ist es überhaupt nicht erklärlich, wenn der Verfassungsschutz oder die Ermittlungsbehörden sagen, "die hätten sie nicht auf dem Schirm gehabt". Da stellt sich zu Recht die Frage: Was soll damit eigentlich bezweckt werden, zu behaupten, man hätte die nicht gesehen?
Dann gucken wir uns eine Tätergruppe an, aus der Stephan B. kommt, der Attentäter von Halle, der in der Gegend, in der Region aufgewachsen, groß geworden ist in Sachsen-Anhalt, in der es seit der Wende tatsächlich immer wieder zu rechten Gewalttaten gekommen ist, zu rassistischen Gewalttaten, wo es eine Normalität von Antisemitismus, von offenem Rassismus auch gibt.
Es gibt natürlich auch Leute, die dagegen sind, aber es gibt auch eine Normalität und eine zunehmende Normalisierung von offenem Rassismus, von offenem Antisemitismus und wenig Interaktion, wo gesagt wird: "Nee, das ist hier jetzt wirklich nicht okay und jetzt ist hier Schluss!" Und natürlich die Tatsache, dass der sich als Teil von einer weltweiten Bewegung der extremen Rechten versteht, die deutlich und offensiv sagen: "Uns geht’s um white supremacy", also weiße Vorherrschaft, und zwar mit allen Mitteln.
So herum kann man auch nicht mehr von Einzeltätern reden, weil die Täter sich selbst in einer extrem rechten Bewegung verorten.
Deutschlandfunk Kultur: Jetzt mal im Klartext gesprochen: Im Zeitalter des Internet gibt es keine Einzeltäter mehr. Aber für die Ermittlungsbehörden ist das trotzdem ein Problem, weil, dieser junge Mann war ja sozial ziemlich isoliert, genau auch wie der Täter von Hanau. Er hatte sich nichts zuschulden kommen lassen, wie man so schön sagt. Seine Radikalisierung fand eben vor dem Bildschirm statt. Und es ist relativ schwierig, diesen Tätern dann auf die Spur zu kommen. – Das stellt doch ein Problem dar.
Kleffner: Die spannende Frage ist: Wie definieren wir "sozial isoliert"? Zumindest im Fall von Hanau und im Fall von Walter Lübcke sehen wir, die Mitgliedschaft im Schützenverein spricht ja nicht unbedingt für eine soziale Isolation. Ich glaube, das andere ist aber viel wichtiger. Es gibt ja Hinweise darauf, dass sowohl der Attentäter von Hanau als offensichtlich auch sein Vater sich an die Sicherheitsbehörden schon im Vorfeld gewandt haben. Jetzt wissen wir den konkreten Inhalt natürlich nicht und wir wissen aus Erfahrung, dass die Behörden viele solcher Briefe kriegen. Auf jeden Fall muss darauf schneller und sensibler reagiert werden.
Deutschlandfunk Kultur: Reichen da 300 Beamte mehr beim Bundesverfassungsschutz?
Kleffner: Um es mal klarzustellen: Das Bundesamt für Verfassungsschutz ist nicht für Strafverfolgung zuständig. Wenn man die Ermittlungsbehörden, also das BKA und auch die Landeskriminalämter mit mehr Personal ausstatten würde, wenn man in allen Bundesländern Schwerpunktstaatsanwaltschaften zu rassistischer Gewalt, zu rechtsterroristischer und rechtsextremer Gewalt einrichten würde – bisher ist das ja leider nicht der Fall, ich würde sagen, das wäre der richtige Schritt.
Wir haben beim Bundesamt für Verfassungsschutz, das muss man klar sagen, acht Jahre lang Stillstand gehabt, Verharmlosung rechter Gewalt.
Deutschlandfunk Kultur: In den Verfassungsschutzberichten kam das sehr prominent vor, das muss man mal sagen. Man stellt sich gewisse Fragen angesichts der jetzigen Aktivitäten des ehemaligen Verfassungsschutzpräsidenten Maaßen. Das ist richtig. Das tun sicher viele. Aber die Szene war unter Beobachtung. – Wo sehen Sie die Defizite?
Kleffner: Ich würde die Defizite darin sehen, dass man immer noch unterschätzt und lange unterschätzt hat, dass die extreme Rechte tatsächlich nicht nur Waffen hortet, weil sie waffenaffin ist, sondern die wollen damit Menschen umbringen. Die wollen einen anderen Staat. Die wollen eine andere Gesellschaft. Und sie wollen die offene demokratische Gesellschaft, wie wir sie kennen, abschaffen. Ihr Ziel ist die Inszenierung eines sogenannten Bürgerkriegs, damit die demokratische Grundordnung ausgehebelt wird und dann nach dem Führerprinzip ein autoritärer Staat errichtet wird.
Deutschlandfunk Kultur: Den Sicherheitsbehörden, um nochmal auf diese Gewaltbereitschaft zu sprechen zu kommen, bereitet Sorge, dass der Anteil, wie Sie das schon sagten, gewaltbereiter Rechtsextremer am gesamten extremistischen, rechtsextremistischen Spektrum zunähme. Da sieht man derzeit ungefähr 13.000 Personen. Das hört sich, wenn man unsere Bevölkerung in Rechnung stellt, nicht nach besonders viel an, aber der Schaden, der von 13.000 mutmaßlichen oder vielleicht Gewaltbereiten ausgehen kann, der ist ja schon enorm.
Wie erklären Sie sich diesen Vormarsch der Gewaltbereitschaft in der rechtsextremistischen Szene?
"Das machen die selbst"
Kleffner: Es gibt zwei Faktoren. Wir dürfen uns, glaube ich, nicht nur auf Zahlen fixieren. Das, was wir und auch das BKA festgestellt haben in den letzten Jahren, ist, dass wir täglich sehen, dass Menschen aus rassistischen, aus rechten Tatmotiven angegriffen werden. Dabei handelt es sich nicht allein um organisierte Neonazis im klassischen Sinne, sondern es sind oft rassistische Gelegenheitstäter. Die treffen eine Person mit schwarzer Hautfarbe, schwarze Deutsche und ergreifen die Gelegenheit, im Supermarkt, im öffentlichen Raum, in der Straßenbahn, diese Menschen, wenn sie sie treffen, mit Gewalt anzugreifen. Diese sogenannten "Gelegenheitstäter" sind mindestens so gefährlich wie organisierte Neonazis.
Das, was wir auch sehen, ist, dass im Moment die Vorstellung bei vielen der Organisierten, aber auch des "sympathisierenden Resonanzraums", würde ich es mal nennen, da ist: Weil es auch im Parlament einen Resonanzraum gibt und Stichwortgeber, "man sei dann doch kurz vor dem Tag X, kurz vor der Machtergreifung", da hilft man halt mal schnell nach, indem man zuschlägt.
Der Zeitpunkt des Zuschlagens bestimmen die einzelnen Gruppen, die einzelnen Tatbeteiligten eben selber. Da gibt es keinen großen Führer, der das bestimmt, sondern das machen die selbst.
Deutschlandfunk Kultur: Bevor wir auf den politischen Resonanzboden, wie Sie es genannt haben, zu sprechen kommen, möchte ich nochmal eine Frage klären, die vielleicht für unsere Zuhörer und Zuhörerinnen von Interesse ist. – Sie sagten, dass diese Gelegenheitsrassisten einfach die Chance ergreifen, wo sie sehen, dass es sich lohnen könnte und dass sie ungestraft davonkommen können.
Nicht jeder ist ein Held. Nicht jeder kann physisch dazwischen gehen. Was mache ich im Alltag, wenn ich mit einer solchen Situation konfrontiert werde und ich sehe, da wird jemand rassistisch angegangen?
Kleffner: Zum Glück, und das sehen wir tatsächlich inzwischen auch häufig oder häufiger, kann jeder 110 wählen, kann jeder andere dazu auffordern, gemeinsam einzugreifen, sich schützend an die Seite des Opfers zu stellen. Wirklich jeder kann sich auch hinterher als Zeugin oder Zeuge zur Verfügung stellen.
Wir wissen auch von Überlebenden schwerster Gewalttaten, für die macht es einen zentralen Unterschied, ob jemand geholfen hat oder nicht. Wenn niemand hilft, dann bedeutet das, alle unterstützen den Täter. Alle sind an der Seite des Täters. Wenn jemand hilft, dann werde ich als Mensch, als hilfebedürftiger Mensch gesehen.
Deutschlandfunk Kultur: Also, es bedarf gar nicht großen Mutes in solchen Situationen. Es bedarf nur eines wachen Verstandes und eines beherzten Zutuns, einfach die Polizei zu rufen zumindest einmal.
Kleffner: Genau.
Deutschlandfunk Kultur: Einfach zu sagen: "Tun Sie das nicht, bitte! Helfen Sie mir!" – So in der Art und Weise.
"Wir überlassen der extremen Rechten nicht den Raum"
Kleffner: Genau. Und zum Glück gibt es viele Menschen, die inzwischen beherzt eingreifen bei Rassismus, bei Antisemitismus. Und das finde ich auch sehr wichtig. Wir wissen aus der Erfahrung mit Leuten, die aus Neonazi-Gruppen ausgestiegen sind: Je mehr wir widersprechen als Demokraten, desto mehr machen wir deutlich, wir sind viele. Wir sind die Mehrheit und wir überlassen der extremen Rechten eben nicht den Raum.
Deutschlandfunk Kultur: Wir sprachen vom "politischen Resonanzboden", wie Sie es genannt haben. Fast alle Kommentatoren haben der AfD eine Mitverantwortung für die Vergiftung des Klimas und für dieses gewaltbereite Klima mitgegeben. – Wie sehen Sie das?
Kleffner: Absolut richtig. Ich meine, da kann man jetzt auch Annegret Kramp-Karrenbauer zitieren, ehrlich gesagt. Nach dem Mord an Walter Lübcke war sie total klar, weil sie gesagt hat: "Wer Walter Lübcke vor Augen hat, darf als Christdemokrat niemals mit der AfD zusammen stimmen, niemals mit der AfD zusammen politische Initiativen machen.
Wissen Sie, man muss nur in das Buch von 2018 von Björn Höcke schauen, der da von einem "Volkstod durch Bevölkerungsaustausch" faselt, der da ganz klar mit groß angelegten "Migrationsprojekten" droht, ...
Deutschlandfunk Kultur: …nicht Migration, eigentlich Deportation.
Kleffner: …, klar, oder einer "Politik der wohltemperierten Grausamkeit".