Soziologe Rainer Paris

"Nur wer selber steht, kann dem Gestürzten aufhelfen"

Der Soziologe Rainer Paris im Studio von Deutschlandradio Kultur
Ein Polizeibeamter und Flüchtling am Münchner Hauptbahnhof © AFP / CHRISTOF STACHE
Rainer Paris im Gespräch mit Florian Felix Weyh |
Wenn sich die Deutschen dieser Tage erstaunlich hilfsbereit zeigen, sind die Machtverhältnisse dahinter durchaus kompliziert. "Die Hilfebeziehung ist in einem wörtlichen Sinne ein Verhältnis direkter Über- und Unterlegenheit", sagt der Soziologe Rainer Paris.
"Wann immer die Rede auf Macht und Machtverhältnisse kommt, müssen wir aufpassen, was wir sagen", warnt der Soziologe Rainer Paris – auch sich selbst – im Vorwort seiner Aufsatzsammlung zur Machttheorie.
Wo man spröde akademische Abhandlungen und philosophische Tiefenlotungen erwarten könnte, bleibt Paris immer eng an der Realität. Er ist ein Beobachter der Welt und entdeckt überall im sozialen Leben Variationen der Macht: Die Macht des Lobs wie die Macht der Provokation, die Macht der Frechheit wie die Macht von Raten und Helfen. Aufpassen muss er dabei, weil er bisweilen an Tabuzonen gerät oder sich als unfreiwilliger Helfer der einen oder anderen Seite in Machtspiele einbezogen sieht.
Der Soziologe Rainer Paris im Studio von Deutschlandradio Kultur
Der Soziologe Rainer Paris im Studio von Deutschlandradio Kultur© Deutschlandradio / A. Bräunlein
Wenn sich die Deutschen dieser Tage erstaunlich hilfsbereit zeigen, sind die Machtverhältnisse dahinter durchaus kompliziert. "Die Hilfebeziehung ist in einem wörtlichen Sinne ein Verhältnis direkter Über- und Unterlegenheit", sagt Paris. "Nur wer selber steht, kann dem Gestürzten aufhelfen." Das Helfen verwandle Gleiche in Ungleiche: "Die Kompetenz des einen ist das Unvermögen des anderen."
Wer Hilfe leistet, muss sich daher einerseits seiner Rolle bewusst sein, ist andererseits – um nicht überfordert zu werden – auf eine endliche Perspektive angewiesen. Paris nennt das die "Teleologisierung des Helfens, eine zeitliche und sachliche Begrenzung des Engagements und Ressourceneinsatzes".
Stellt sich heraus, dass Hilfe potenziell unendlich lange weitergeführt werden muss, kippt das Machtverhältnis zugunsten derjenigen um, denen geholfen werden muss. Die ehemals "altruistische Macht" des Helfers tue sich nämlich schwer damit, sich ein Scheitern einzugestehen. Sie ist auf Erfüllung und Erfolg angewiesen:

"Der Grund dafür liegt in den bereits getätigten Investitionen, die eine vorzeitige Beendigung vernichten würde. Lieber macht man mürrisch und unzufrieden weiter, als sich einzugestehen, auf das falsche Pferd gesetzt zu haben."
Macht ist nicht nur ein Lebenselixier für viele Mächtige
Manchmal findet auch die Obrigkeit, sie könne nicht auf ihre Untertanen wetten. Dann hat sie seit jeher drei Machtmittel: Zuckerbrot, Peitsche und Glauben. Letzterer ist das dauerhaft wirksamste Mittel, aber auch am schwierigsten aufrecht zu erhalten. Wollen die Untertanen gegen die Obrigkeit angehen, bleiben ihnen Frechheit, Witz und Provokation. "Provokationen sind die bevorzugte Waffe der Mindermächtigen", sagt Paris "Die Provokation führt den Mächtigen als Mächtigen vor und bestreitet zugleich seine Legitimität."
Rainer Paris: "Der Wille des Einen ist das Tun des Anderen"
Rainer Paris: "Der Wille des Einen ist das Tun des Anderen"© Velbrück Wissenschaft
Das geht nicht immer gut. Oftmals reagiert die bloßgestellte Macht mit schierer Brutalität. Denn definiert man Macht als negative Freiheit, nämlich "Freiheit zur Negation von Freiheit", hat derjenige mit den kleinsten Skrupeln und der größten Gewaltbereitschaft die besten Karten.
In komplexen sozialen Zusammenhängen, wie etwa in der Welt der Universität, wird die simple Gewaltfrage viel filigraner und verästelter aufgelöst. Der Thematisierungsmacht rückt in den Vordergrund: Wer lenkt die Aufmerksamkeit worauf? Wer verschafft wem Legitimität? Dabei hilft es dann nicht selten, sich der "Diktatur des Sitzfleisches" zu bedienen und anstrengende Diskurse ins Leere laufen zu lassen, bis man als letzter übrigbleibt und das letzte Wort hat.
Macht ist nicht nur ein Lebenselixier für viele Mächtige – wie Luft scheint sie jeden Raum einzunehmen. Ob Rainer Paris angesichts seiner Beobachtungen noch einen optimistischen Blick auf die Welt hat, wird er in der Sendung verraten.


Rainer Paris: Der Wille des Einen ist das Tun des Anderen
Aufsätze zur Machttheorie
Velbrück Wissenschaft, 376 Seiten, 39,90 Euro
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