Warum US-Politiker so viel über Liebe reden

Von R. Jay Magill |
Die Europäer haben schon länger verstanden, dass Täuschung und Heuchelei unangenehme Bestandteile der Macht sind. Wir Amerikaner dagegen sind besessen von unserer eigenen Unschuld und lassen uns gerne vom heuchlerischen Gefühlsüberschwang der Mächtigen blenden, meint der US-Bürger R. Jay Magill.
Täuschung und Betrug gehören für die Mächtigen Amerikas seit Menschengedenken zum Geschäft, wie für jede andere Staatsmacht auch. Schon Gründervater John Adams schrieb: "Heuchelei ist die oberste Maxime weltlicher Weisheit." Und selbst vor Abraham Lincoln - Honest Abe, der ehrliche Abe, wie wir Amerikaner ihn liebevoll nennen - haben seinerzeit die politischen Gegner gewarnt: Seine scheinbare Unschuld täusche, dahinter lauerten versteckte Waffen.

Die Europäer mit ihrer konfliktreichen Geschichte haben schon länger verstanden, dass Täuschung und Heuchelei unangenehme Bestandteile der Macht sind. Wir Amerikaner dagegen sind besessen von unserer eigenen Unschuld. Mit unserer religiös gefärbten politischen Rhetorik verlangen wir noch immer nach Aufrichtigkeit, gerne gefeiert als das Gegenteil von Berechnung und Gerissenheit, um die Wähler daran zu erinnern, dass ihre Führer so sind wie sie selbst: rein und unverfälscht.

Auf dem Parteitag der Republikaner im August wurde das mehr als deutlich. Der Kandidat für die Vizepräsidentschaft erzählte, wie sehr er hoffe, dass seine Eltern stolz auf ihn sind. Der Gouverneur von New Jersey redete davon, wie sehr er seine Mutter liebte. Beide haben ein bisschen geweint. Und Ann Romney, die Frau des damaligen Präsidentschafts-Kandidaten, erklärte auf dieser hyper-politischen Veranstaltung: "Heute Abend werde ich nicht über Politik sprechen. Ich werde über Liebe reden."

Dieses Szenario kann man sich in Europa nur schwer vorstellen. Hier hält man emotionale Aufrichtigkeit für politisch irrelevant. Nach alter Tradition ist es europäischen Führern erlaubt, in der Öffentlichkeit eine Maske zu tragen, die ihre persönlichen Gefühle versteckt. Sie sind öffentliche Figuren in einem öffentlichen Raum, der von bürokratischen Vorgängen bestimmt wird. Das hat mit ihnen als privaten Individuen nichts zu tun. Sie zu fragen, ob sie aufrichtig seien, wäre so, als frage man seinen Zahnarzt, ob er großzügig sei: Das ist eine schöne Eigenschaft, aber für die Zahnsteinentfernung nicht von Bedeutung.

Das heißt nun keinesfalls, dass man von europäischen Führern nicht erwartet, dass sie ehrlich sind. Doch während Aufrichtigkeit bedeutet, offen seine wahren Gedanken und Gefühle preiszugeben, bezieht sich Ehrlichkeit auf objektive Tatsachen. Dieser Unterschied wurde im Februar dieses Jahres schmerzhaft deutlich. Bundespräsident Christian Wulff sprach bei seinem Rücktritt nicht über die objektiven Details der Korruptionsvorwürfe, sondern sagte: "Ich habe Fehler gemacht, aber ich war immer aufrichtig." Die Deutschen rollten kollektiv mit den Augen.

In den USA wäre es Herrn Wulff besser ergangen. Schließlich messen wir die Wählbarkeit eines möglichen Präsidenten daran, ob wir uns vorstellen können, mit ihm ein Bier zu trinken. Und weil Politiker das wissen, triumphiert das Intime allzu oft über die weniger kuschelige Politik: etwa über die Fähigkeit, eine politische Strategie in einem strengen gesetzlichen Rahmen umzusetzen, oder bei harten politischen Verhandlungen die Weisheit und Fähigkeit zu besitzen, Kompromisse einzugehen.

Dieser letzte Punkt ist in Amerika zu einem Problem geworden. Die Extreme des politischen Spektrums, insbesondere die Tea Party, stellen ihre eigenen Positionen über den demokratischen Prozess. Sie nennen das "Prinzipientreue", aber im demokratischen Kontext ist das gleichbedeutend mit Selbstsucht und Kleingeist. "Wer keine Kompromisse machen kann, ist für die Demokratie nicht zu gebrauchen", stellte Helmut Schmidt einmal fest. Das gilt gerade dann, wenn so viele Dinge auf dem Spiel stehen wie bei der US-Präsidentschaftswahl: die nationale Gesundheitsversorgung, die Zusammensetzung des Obersten Gerichtshofs, die Umweltpolitik, Frauenrechte, die Rechte von Homosexuellen.

Denn Demokratie und Kompromisse bedeuten, dass wir manches akzeptieren müssen, was wir aufrichtig ablehnen, um zu erreichen, was wir aufrichtig wollen.

R. Jay Magill Jr., 1972 in Philadelphia geboren, hat Philosophie und Amerikanistik studiert und in Hamburg als Ph.D. abgeschlossen. Er lehrte in Lüneburg und Harvard. Seit 2007 arbeitet Magill für die American Academy in Berlin. Er ist Autor mehrerer Bücher: "Chic Ironic Bitterness" (University of Michigan Press, 2007) sowie "Sincerity: How a moral ideal born five hundred years ago inspired religious wars, modern art, hipster chic, and the curious notion that we all have something to say (no matter how dull)" (W. W. Norton, 2012). Darin beschäftigt er sich mit Cultural Studies und Philosophie. Weitere Informationen: www.rjaymagill.com
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