Zwischen Tod und Trauma

Inga Osmers im Gespräch mit Ulrike Timm |
Sechs Monate lang dauerte der Kampf um die Macht an der Elfenbeinküste und hinterließ Tote und Verletzte. Laut Inga Osmers von "Ärzte ohne Grenzen" war die Gesundheitsversorgung vor dem Bürgerkrieg zwar "verhältnismäßig gut". Die große Zahl von Kriegsverletzten setze das Gesundheitssystem jedoch "unter enormen Stress".
Ulrike Timm: Das geht ganz schnell: Kaum hat sich in einem afrikanischen Land die politische Lage ein klein wenig stabilisiert, ist es aus den Schlagzeilen – auch wenn es den Menschen dort deshalb noch lange nicht besser geht. Wir wollen dagegenhalten hier im "Radiofeuilleton" und schauen jetzt auf die humanitäre Lage in der westafrikanischen Elfenbeinküste. Dort regiert seit knapp zwei Wochen der gewählte Präsident Ouattara, dessen Wahlsieg sein Vorgänger Gbagbo nicht akzeptieren wollte. Sechs Monate lang dauerte der Kampf um die Macht, ausgetragen auf dem Rücken der Bevölkerung. Mindestens 3000 Tote hat es in diesem Bürgerkrieg gegeben, mehr als 120.000 Menschen flohen ins benachbarte Liberia, und Hunderttausende verließen im eigenen Land ihre Häuser und Dörfer und versteckten sich im Busch, um nicht zwischen die Fronten zu geraten. Inga Osmers hat dort als Medizinerin für Ärzte ohne Grenzen geholfen, seit wenigen Tagen ist sie von der Elfenbeinküste zurück. Frau Osmers, willkommen in unserem Studio!

Inga Osmers: Vielen Dank!

Timm: Frau Osmers, Sie sind Chirurgin, das ist wahrscheinlich in einem Land, wo die Menschen immer noch damit rechnen müssen, dass sie jederzeit eine Kugel treffen kann, eine ganz besonders gesuchte Qualifikation, oder?

Osmers: Ja, sicher, also in so einer Situation des bewaffneten Konfliktes, wie es ja gerne genannt wird, gibt es ja ein großes Defizit; es ist ja nicht nur, dass die Gesundheitsversorgung, die ja auch in Zeiten des Friedens häufig nicht ganz ausreichend ist, ... die wird jetzt natürlich besonders strapaziert, einmal dadurch, dass die Leute aus den Gesundheitsstrukturen selber fliehen, dass es keinen Nachschub gibt an Materialien, die benutzt werden können, und zum anderen, dass es natürlich einen sehr viel größeren Bedarf gibt. Was man dabei immer so ein bisschen vergisst, ist, dass es nicht nur ein Mehr an Bedarf gibt, also in dem Fall an Kriegsverletzten, die versorgt werden müssen, sondern dass natürlich die ganze Zeit auch die ganz normale Gesundheitsversorgung weitergehen muss – das heißt, Frauen bekommen weiter ihre Kinder, Frauen brauchen zum Überleben unter Umständen einen Kaiserschnitt. Und das setzt solche Gesundheitsstrukturen, solche bestehenden Gesundheitsstrukturen unter enormen Stress.

Timm: Gibt es in der Elfenbeinküste überhaupt eine funktionierende medizinische Grundversorgung, also zum Beispiel afrikanische Mediziner vor Ort, mit denen Sie sinnvoll zusammenarbeiten konnten, oder hat sich das alles im Zuge des Bürgerkriegs mehr oder weniger aufgelöst?

Osmers: Na, also es herrschen natürlich große Auflösungserscheinungen, aber die Elfenbeinküste als Land gilt als relativ weit entwickelt im afrikanischen und vor allem im westafrikanischen Maßstab. Das Land hat eine hohe Alphabetisierungsrate zum Beispiel, und auch in entlegenen Dörfern sprechen die Leute die offizielle Amtssprache Französisch, das ist nicht überall immer in allen Ländern in Afrika so. Und es gibt eine Gesundheitsversorgung, die verhältnismäßig gut ist. Es ist sogar so gewesen, dass bis Ende Mai jetzt noch die neue Regierung verfügt hat, dass die Gesundheitsversorgung, die bestehende, frei ist – also dass die Menschen nicht bezahlen müssen, vorher mussten sie immer ein bisschen was bezahlen –, und wir als Organisation, also "Ärzte ohne Grenzen", versuchen natürlich, die bestehenden Strukturen mit einzubeziehen. Also ich habe mit Kollegen, auch Chirurgen, die aus der Elfenbeinküste sind, zusammengearbeitet, wir waren in Krankenhäusern, die zum Teil vom Gesundheitsministerium geführt werden und versuchen, die zu unterstützen, sowohl mit Personal als auch mit Versorgungsmaterialien.

Timm: Nun waren Sie ja vor Ort wegen des aktuellen Konflikts in den vergangenen Monaten, wegen des Machtkampfs zwischen dem jetzigen Machtinhaber und seinem Vorgänger. Merken die Menschen eigentlich, dass dieser Konflikt nun vorbei ist beziehungsweise glauben sie schon dran? Denn menschenrechtsmäßig tun sich die beiden wohl nicht viel, beide haben in den vergangenen Monaten gefoltert, geschossen und verletzt.

Osmers: Ja, also die Menschen, muss man sagen, die Patienten – das war mein Eindruck, und nicht nur mein Eindruck – sind zum Teil tief traumatisiert gewesen, haben große Gewalt erlebt, haben viel Leid und auch Tod um sich herum erlebt, sind manchmal die Einzigen, die mit dem Leben davongekommen sind, die Häuser oder Hütten sind zum Teil zerstört worden, und es herrscht eine große Unsicherheit noch. Das wurde im Laufe der Zeit langsam besser, aber es gibt bis heute, vermutet man, noch viele Menschen, die sich im Busch verstecken, die Angst haben, zurückzukehren, die auch kein Zuhause haben, in das sie zurückkehren können.

Timm: Wenn so ein traumatisierter, kriegsverletzter Mensch zu Ihnen auf die Krankenstation kommt, wie ist da Ihre Erfahrung – sprechen die überhaupt, oder sagen sie gar nicht, woher ihre Verletzungen rühren und sind einfach da, und Sie tun, was Sie können? Wie ist das?

Osmers: Also wir versuchen natürlich, oder unser Bemühen ist, absolut neutral uns zu verhalten, das heißt, wir behandeln jeden, der als Verletzter kommt, egal warum er verletzt wurde – ob das Angehörige der Armee sind oder ob das zivile Bevölkerung ist.

Timm: Das ist das Credo von "Ärzte ohne Grenzen". Ich denke mir einfach, wenn jemand zu Ihnen in die Station kommt: Erzählen die Menschen, kommen Sie mit ihnen ins Gespräch, oder – weil Sie eben sagten, sie sind traumatisiert – müssen sie einfach helfen und stehen aber auch vielleicht selber ein bisschen sprachlos davor?

Osmers: Wir fragen nicht, warum sie kommen. Wenn die Patienten anfangen, zu erzählen, dann lassen wir sie natürlich erzählen. Es war auch in dem einen Projekt, kurz bevor ich da war, war ein Psychologe da, der sich hingesetzt hat und einfach die Patienten hat erzählen lassen. Wie traumatisiert die Patienten tatsächlich sind, das kann man als Außenstehender, Weißer – ich glaube, wir haben immer nur eine leise Ahnung, was in den Menschen wirklich vorgeht, aber es ist zum Teil so offensichtlich gewesen, dass die Leute weinen, dass sie auch schwer krank sind, also Zeichen von schwerer Krankheit zeigen.

Timm: Deutschlandradio Kultur, das "Radiofeuilleton", wir sprechen mit Inga Osmers, sie half als Chirurgin für "Ärzte ohne Grenzen" in der Elfenbeinküste. Frau Osmers, Sie haben an zwei Orten gearbeitet, in Bangolo und in der Hafenstadt Abidjan. Unterscheidet sich denn die Situation je nach Region?

Osmers: Ja, ich war erst eine Woche in Bangolo in dem kleinen Krankenhaus – was ein sogenanntes District-Krankenhaus ist, das ist so vergleichbar mit einem kleinen Kreiskrankenhaus zum Beispiel in Deutschland, also in dem Land, es sieht natürlich anders aus als ein Kreiskrankenhaus bei uns –, und das ist eine eher ländliche Gegend. Das ist dicht an der Grenze nach Liberia, das ist auch der Grund gewesen, warum wir da dieses Projekt kurzfristig eröffnet haben. Da gab es große Gewaltausbrüche auch um die Stadt Duékoué herum. Und die Verletzungsmuster da waren andere, es waren vor allem Machete-Verletzungen. In der Stadt in Abidjan, das ist die wirtschaftliche Hauptstadt des Landes, das ist eine weit entwickelte Stadt mit Hochhäusern und die Bevölkerung ist sehr urban – da ist sowohl die Bevölkerung anders, das sind Städter, als auch die Verletzungsmuster, die sich so ein bisschen unterschieden haben, also es waren vor allem dann eher Schussverletzungen.

Timm: Und wie ist das in einer Situation, die in unserer Agentur- und Fernseh- und Zeitungslage immer jetzt als etwas beruhigt beschrieben wird? Haben Sie da eigentlich mehr Menschen oder weniger Menschen auf der Station gehabt? Ich frage deshalb, weil ich denke: Wenn die Situation ein wenig entspannter ist, dann trauen sich vielleicht auch schlicht mehr Menschen auf die Straße und kommen mal in eine Krankenstation, als wenn überall die Kugeln fliegen.

Osmers: Ja, das war in beiden Situationen so ein bisschen ähnlich. Also die Lage im Westen des Landes, in Bangolo hatte sich etwas früher beruhigt, weil die Frontlinie da früher durchgezogen ist als in Abidjan. In Abidjan hielt der Konflikt etwas länger an, also der ganz akute militärische Konflikt. Das Problem war aber in beiden Projekten ähnlich: Die Menschen wurden verletzt, durch welche kämpferischen, kriegerischen Auseinandersetzungen auch immer, und hatten keinen Zugang zu Gesundheitsversorgung. Das heißt, im Westen des Landes haben die sich halt lange im Busch versteckt und haben sich nicht hervorgetraut und sind erst hervorgekrochen, kann man sagen, wenn sie schon schwer krank waren, mit schlimmen infizierten Wunden; und in Abidjan, in der Hauptstadt war es ganz ähnlich, da ging halt der Konflikt, also die Kämpfe hielten relativ lange an und die Leute konnten nicht aus den Häusern raus. Und als sie dann aus den Häusern heraus konnten, waren ihre Wunden bereits mehrere Tage, manchmal sogar eine Woche alt, und das bringt ganz eigene Schwierigkeiten mit sich. Die Wunden sind entzündet, die Leute hatten auch nicht genug zu essen und zu trinken, das verkompliziert die Verletzungen.

Timm: Hat man eine Vermutung, wie viele Menschen sich derzeit noch verstecken, weil sie der Situation einfach nicht trauen?

Osmers: Also ob es da konkrete Zahlen gibt, das weiß ich ehrlich gesagt nicht. Wenn man durch die Dörfer fährt, dann sieht man doch viele Dörfer oder einige Dörfer, die zerstört sind, die also geradezu ausgestorben sind, andere Dörfer, in denen das alltägliche Leben schon wieder vermeintlich normal weitergeht, aber man hat so den Eindruck: Eigentlich leben da mehr Menschen. Also die Größe des Dorfes und die Menschen, die sich darin aufhalten – man hat den Eindruck, da fehlen noch Menschen.

Timm: Was ist denn jetzt aus Ihrer Sicht die dringlichste Aufgabe für den neuen Amtsinhaber Ouattara?

Osmers: Ja, wahrscheinlich das Land zu befrieden, also möglichst integrativ zu wirken, dass sich die Konfliktparteien einander annähern können, und ich denke auch, dass die Menschenrechtsverletzungen doch, also wirklich Gräueltaten, die da von beiden Seiten wohl verübt wurden, dass das aufgearbeitet wird.

Timm: Inga Osmers von Ärzte ohne Grenzen, gerade zurückgekehrt von der Elfenbeinküste. Ich danke Ihnen herzlich für Ihr Gespräch!

Osmers: Gerne!
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