Echoraum der Eitelkeit und Nachrichtenportal
Inzwischen ist es wichtiger Bestandteil des Alltags von Promis, Politikern und Journalisten. Das war aber nicht immer so. Zuerst waren viele verunsichert, wozu das Portal eigentlich gut sein sollte. Laf Überland blickt zurück auf zehn Twitter-Jahre.
Gestern Abend auf einem Twitter-Kanal der ARD:
"Das 'ne Hochschwangere im #tatort erschossen wird, zeigt ganz gut die zunehmende Verrohung der Unterhaltungsindustrie."
"Nervige Diskussionen mit dem Elektroschocker beenden. Ich denk drüber nach."
Das gemeinsame Kommentieren der Zuschauer auf #tatort ist inzwischen ein sinnstiftendes Ritual geworden wie das Fußballgucken in der Fankurve - nur ironischer.
Wozu nutzen?
Das Schöne bei Twitter war, dass man niemandem erst erklären musste, wie man es benutzt: Man trägt im Feld ein, was man in 140 Zeichen grad mitteilen will, und wenn man eine Raute mit einem Wort dahinter einstellt (den so genannten Hashtag), findet jeder, der darauf klickt, alle Tweets, die sich zu diesem Thema angesammelt haben, in chronologischer Reihenfolge. Ganz einfach.
Schwieriger war, den Leuten klarzumachen, wozu sie es benutzen sollten. Für viele Nutzer war Twitter schlicht ein Echoraum der Eitelkeit – oder der Einsamkeit: Habe gerade ein Gebot auf eBay abgegeben. Den Zuschlag bekomme ich ja sowieso nicht. Es gab Tweets zu jedem neuen Kaffee und zu jeder Idee, was man vielleicht abends tun wollte oder vielleicht lieber doch nicht, und manche legten auch Accounts für Haustiere oder Gegenstände an.
Journalismus wurde schneller, aber nicht notwendig besser
Jedenfalls dauerte es eine Weile, bis die Nutzer erkannten, was man mit diesem Dienst tatsächlich machen konnte: nämlich auch ernsthafte Nachrichten verteilen und zu Meinungsdebatten auffordern und natürlich zu allen Themen, die einen interessierten, diese Nachrichten auch kriegen - man musste nur den entsprechenden Twitterern folgen.
Als dann Barack Obama 140 Zeichen lange Nachrichten ans Volk schickte, selbst der Vatikan einen Twitter-Account eingerichtet hatte, als Twitter dann über die 140 Zeichen hinaus Bilder und Filme anzeigen ließ, passierte kurz danach das Initialereignis für Twitter als Nachrichtenpool: als nämlich jemand einen schwimmenden Airbus mit Menschen auf den Tragflächen einstellte und dazu schrieb: Da ist ein Flugzeug im Hudson. Ich bin auf der Fähre, die die Menschen abholt. Verrückt. Von da ab wurde der Journalismus schneller - aber nicht notwendig besser.
Die Faszination von Twitter besteht darin, dass jegliche Inhalte sich rasend schnell viral durch das Netz verbreiten können - manchmal noch vor den offiziellen Nachrichten: zum Beispiel als Whitney Houston gestorben war oder bei den Bombenanschlägen 2008 in Mumbai oder im Herbst in Paris. Als Steve Jobs zurücktrat, folgten 7064 Tweets pro Sekunde. Und der arabische Frühling wäre ohne Twitter wohl auch anders verlaufen.
Hashtag-Aktivismus
Aber auch Hashtag-Aktivismus ist, dank Twitter, längst fester Teil der Kultur geworden.
#jesuischarlie: Alle waren plötzlich einig, waren Charlie und trauerten um die Opfer des Anschlags auf die Redaktion der Satire-Zeitschrift Charlie Hebdo.
#icebucketchallenge: Im Sommer 2014 schütteten sich plötzlich Menschen in aller Welt kübelweise Eiswürfel über den Kopf und forderten auf, es ihnen nachzutun.
#aufschrei: FDP-Politiker Rainer Brüderle, eine Stern-Journalistin und eine anzügliche Dirndl-Bemerkung an einer Hotelbar. Und eine bis dato eher unbekannte Feministin, die im Tweet dazu aufruft, Erfahrungen mit Sexismus zu sammeln: mehr als 180 000 Tweets im Jahr 2013 und ein Grimme-Online-Award für die Initiatorin, die sich später als sehr nonchalant im Umgang mit Fakten und Zahlen erweist.
Teil des Alltags
Nach zehn Jahren gehört Twitter für Journalisten, Politiker oder Promis inzwischen zum Arbeitsalltag. Andere Menschen twittern vielleicht für ihre drei Follower jeden Tag, was sie gegessen haben. Und zig Millionen Twitternutzer gucken nur zu, aber mit den Tweets lassen sich ja auch wunderbar Wartezeiten überbrücken: gucken, was Lady Gaga gerade treibt oder die jordanische Königin Noor.
In Deutschland boomt zur Zeit #regrettingmotherhood: Kinder sind jetzt Wellness-Schädlinge. Wie konnte es so weit kommen?
Aber wem all dieses Twitter-Gewitter zu den Aufregern des Tages zu laut ist, der kann sich ja gemächlich in Nischen über Fliegenfischen austauschen. Oder dem twitternden Schäfer Sven de Fries aus Oberschwaben folgen - mit tausend Schafen und 5.000 menschlichen Followern.