100. Geburtstag von Georges Brassens

Der Chansonnier und die Deutschen

30:20 Minuten
Georges Brassens 1966 bei einem Konzert in Bobino
Für viele deutsche Liedermacher ein großes Vorbild: der Chansonnier Georges Brassens. © imago images/Prod.DB
Von Susanne von Schenck und Ralf Bei der Kellen |
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In Frankreich galt er als Poet unter den Chansonniers. In Deutschland wurde Georges Brassens von Liedermachern wie Franz Josef Degenhardt oder Hannes Wader verehrt. Wenig bekannt ist, dass Brassens vor 1945 bei Berlin Zwangsarbeiter war.
Georges Brassens‘ "Chanson pour l’Auvergnat" - 1954 erschien dieses wahrscheinlich bekannteste Lied des französischen Chansonniers. Des französischen Chansonniers. An dem Tag, an dem er stirbt, am 29. Oktober 1981, titelt die Tageszeitung "France Soir": "La mort du poète" – Der Tod des Dichters.
Sein Name muss nicht erwähnt werden. Jede Französin und jeder Franzose, die auch nur ansatzweise kulturinteressiert sind, wissen an diesem Tag, wer gemeint ist. Für alle anderen ist unter der Schlagzeile sein Bild.
Georges Brassens, geboren am 22. Oktober 1921 im südfranzösischen Sète, gestorben am 29. Oktober 1981 in der Nähe von Montpellier. Gelebt hat er vor allem in Paris. Der Vater ist ein kleiner Bauunternehmer, die Mutter eine italienischstämmige Kriegerwitwe. Sie bringt die Musik mit in die Familie und begeistert ihn für das Chanson. Das wird zu seinem Lebensinhalt.

"Ein sehr bodenständiger, aber auch hochintellektueller Mann"

"Ich hatte immer etwas den Eindruck, das ist einerseits ein sehr bodenständiger, aber auch hochintellektueller, intelligenter Mann, mit sehr vielen detaillierten Kenntnissen der französischen Literatur, der französischen Lyrik und Metrik, Strophenform."
Der Übersetzer Gisbert Haefs hat zum 100. Geburtstag von Georges Brassens den Großteil seiner Chansons ins Deutsche übersetzt.
"Persönlich dachte ich, der kann aufmüpfig sein, französisch-anarchisch, nicht unbedingt anarchistisch. Man möchte ihn eigentlich kennenlernen und hätte ihn gerne als Onkel."
Wenn man in den 1960er- und 1970er-Jahren auf der anderen Seite des Rheins aufwächst und entweder öfter Radio hört oder sich in auch nur in latent frankophonen Kreisen bewegt, kann man Brassens nicht entkommen.
Nach dem Weltkrieg Nummer zwei haben viele junge Menschen, zumal in Westdeutschland, ihr Herz für den ehemaligen Erbfeind entdeckt – für sein Savoir-vivre, seine Literatur, seine Filme und – für seine Chansons. Was im Falle von Brassens heißt: Poesie vorgetragen zur Gitarre in einem fast monotonen Gesangsstil.

Viele junge Fans in Deutschland

"Es setzte sich ja auch für diese Generation sehr, sehr wohltuend und beinahe erlösend ab von diesem deutschen, schnarrenden Sound, den sie gewohnt waren aus der Nazizeit oder auch von dem Pathos, das die ganze deutsche Liedkultur ja beinahe durchzieht – sogar die Arbeiterlieder und die aus dem spanischen Bürgerkrieg von Ernst Busch weisen ja diesen Erhabenheitspathos des deutschen Liedes auf", sagt Kai Degenhardt.
"Also kann ich mir das durchaus vorstellen, dass es gerade für das Milieu, das alles Deutsche und Deutschnationale verwerfen wollte, und sich woanders hin sehnte, dass es da natürlich auf ganz, ganz fruchtbaren Boden fiel."
"Ich weiß, dass meine Eltern im Jahr 1957 gemeinsam in Paris waren … und dort sahen sie zum ersten Mal im Pariser Quartier Montparnasse auf der berühmten Konzertbühne Bobino eben Georges Brassens und waren davon total angetan."
Kai Degenhardt ist Sohn des Liedermachers Franz Josef Degenhardt.
"Die waren nach Paris gereist gewissermaßen auf den Spuren ihrer cineastischen und literarischen ‚éducation sentimentale‘ von Simenon, Sartre und den frühen französischen Série Noir-Filmen – und liefen die Stadt danach ab", erzählt er.
"Und waren dann eben bei dieser Gelegenheit auch auf dem Brassens-Konzert, was sie wohl – und vor allem meinen Vater – sehr, sehr nachhaltig beeinflusst hat. Und er hat sich auch abgeschaut diese Haltung beim Gitarre spielen, mit dem einen Fuß auf der Sitzfläche eines Stuhls und auf dem Oberschenkel die Gitarre –so wie man das eben macht als junger Mensch, der einem Vorbild nacheifert, als Rollenmodell. Ein starker Einfluss für meinen Vater, ganz sicher, der Georges Brassens."
"Ich muss Ihnen gestehen, dass ich, als ich ihn zum ersten Mal gehört habe, gar nicht verstanden habe vom Text her. Sondern, dass ich nur angezogen war von seiner Musik und von seiner Stimme."
Damit ist Degenhardt Senior nicht allein. Auch viele andere Liedermacher der ersten Stunde zitieren Brassens als wichtigen oder gar wichtigsten Einfluss. So sagt Hannes Wader 1976 in einem Interview mit dem NDR:
"Dann hörte ich Georges Brassens. Der spielte Gitarre. Und sang dazu. Und zwar ganz normal, ziemlich schlecht... also vom Belcanto jetzt her gesehen, vom reinen Schönsingen her. Und da hab ich gedacht – das müsst‘ ich auch können. Ich verstand natürlich kein Französisch und habe mir das übersetzen lassen… und war also überrascht und… das war so eine Initialzündung, die da bei mir abgelaufen ist. Dieser Mann erzählte von sich, von seiner Situation in seiner Welt und – ich wollte das auch machen."
Der deutsche Liedermacher Hannes Wader in den 1970er-Jahren
"Dieser Mann erzählte von sich, von seiner Situation in seiner Welt und – ich wollte das auch machen", sagte Hannes Wader 1976 über Georges Brassens.© picture alliance / United Archives / Schweigmann
Auch Reinhard Mey nannte Brassens in der Deutschlandfunk-Reihe "Mein Klassiker":
"Ich bin als elfjähriger Junge, glaube ich, zum ersten Mal in eine französische Gastfamilie gekommen, ich kam vom französischen Gymnasium in Berlin… ich kam also in eine französische Familie und die hatten einen Plattenspieler, und ich habe ihren Plattenschrank erobert, das waren damals noch 78er-Schellackplatten und da war ein Lied von einem französischen Chansonsänger, den ich da entdeckt habe, Georges Brassens…"
Konzert von Reinhard Mey in der Wiener Stadthalle am 10. November 1971
Reinhard Mey entdeckte Brassens auf einem Schüleraustausch nach Frankreich für sich.© picture alliance / IMAGNO/Votava
"Man hat mich gar nicht an ihn herangeführt, sondern ich habe ihn mir wirklich aus dem Plattenschrank geholt und habe sofort eine Zuneigung zu seinen Liedern empfunden, die ich nicht auf Anhieb verstanden habe, weil er eine sehr persönliche Diktion hat, die die französischen Worte, die ich grade mühselig gelernt hatte, auf eine Art betont hat, die mir das Verstehen nicht unbedingt leicht gemacht hat. Ich hab‘ es gemocht, ich hab‘ sein Gitarrenspiel gemocht und – ich musste mehr von diesem Mann wissen."
"In den 40er-Jahren war dieses Gelände also Gelände der Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter. Anfang der 40er-Jahre waren hier noch Leute angeworben worden, die kamen noch freiwillig, aber dann, von 40, 42 an waren sie zwangsverpflichtet, wie wir es von den französischen Freunden von Brassens gehört haben. Das heißt, man hat ihnen in Paris den Ausweis abgenommen und dann sollten sie den im Polizeirevier abholen. Aber da war nichts mit Abholen, sondern sie mussten dann die Zwangsarbeit antreten, Ausweis nicht wiederbekommen. Ohne Ausweis war man letztendlich vogelfrei und konnte erschossen werden. Die Gruppe um Georges Brassens ist 1943 im März von Paris hierher transportiert worden."

Brassens verrichtete Zwangsarbeit in Basdorf bei Berlin

September 2020. In Basdorf, einem knapp 6000 Einwohner zählenden Ort der Gemeinde Wandlitz nördlich von Berlin führt Marion Schuster über ein Gelände voller länglicher Gebäude – die letzten der zur Zeit des Nationalsozialismus errichteten Baracken, in denen ab 1939 Zwangsarbeiter untergebracht waren.
"Um den 6. März wurden die Züge mit den jungen Menschen beladen, quer durch Deutschland. Man kam in Potsdam-Rehbrücke an, dann ging es mit öffentlichen Verkehrsmitteln weiter. Am 10. März 1943 kamen Georges Brassens und die, die er dann später als Freunde hatte, hier an. Es war Winter, und es war 20 Uhr. Man musste vom Bahnhof zwei Kilometer laufen mit Gepäck, sie waren müde und kaputt und sind also hier im Dunklen angekommen und wurden auf die Baracken verteilt."
1961 reist die damals 15-jährige Marion Schuster zum ersten Mal nach Frankreich. Ganz allein besucht sie Freundinnen in Lyon und in der Champagne. Während ihres Aufenthaltes wird die Berliner Mauer gebaut. Später studiert sie an der Freien Universität Berlin und engagiert sich im Deutsch-Französischen Jugendwerk. 1994 wechselt die Französisch- und Russischlehrerin von Reinickendorf an ein im Aufbau begriffenes Gymnasium nach Pankow. Wegen der günstigen Bahnverbindung zieht sie mit ihrem Mann ins Brandenburgische Basdorf.
"Ich habe Brassens gekannt, habe aber seine Biografie nicht gekannt. Das heißt, wir sind hierhergezogen, ohne zu wissen, dass Brassens hier Zwangsarbeit geleistet hatte. Und ich kann mich sehr gut erinnern, als 2003 die damalige Bürgermeisterin Frau Heidi Freistedt einen Artikel schrieb in der Regionalzeitung: ‚Wir werden am 4. Juli 2003 einen Brassens-Platz in Basdorf einweihen‘, da habe ich solche Augen bekommen. Ich war erschüttert, dass Brassens, den ich über die Musik her kannte, über seine Chansons, dass der hier war und dass er Zwangsarbeit geleistet hat."

Verein "Brassens in Basdorf" gründet sich in den 90er-Jahren

Sie ruft die Bürgermeisterin an – und wird sofort eingespannt. So wie der Besuch in Frankreich, der Bau und der Fall der Mauer, wird ihr Umzug in den Ostteil Deutschlands Mitte der 90er-Jahre zu einer Landmarke in ihrem Leben.
"Da waren wir dann an dem Abend da und haben alle Freunde kennengelernt. Und ja, es war unwahrscheinlich, wie sofort wir, wie soll ich sagen, mit so viel Liebe empfangen wurden, mit so viel Herzlichkeit. Ich denke heute, es war einfach Wahnsinn. Und für mich war es dann drei Tage intensiver Begleitung dieser Gruppe hier vor Ort. Und wir haben von vornherein gesagt: Ganz klar, wir machen etwas – wie, wussten wir nicht genau. Einer der Veranstalter aus Vaison-la-Romaine, Georges Boulard, der das größte Brassens-Festival veranstaltet, der hatte mir damals gesagt: Marion, wenn du etwas machen möchtest, müsstest du einen Verein gründen, und mit dem Verein könntest du ein Festival oder Konzerte gestalten, sonst ist es schwierig. Es muss ein Verein her."
Gesagt, getan. Heute hat der Verein "Brassens in Basdorf" um die 70 Mitglieder – ein Drittel Franzosen, zwei Drittel Deutsche.

Einer der ersten, die in Deutschland dafür sorgen, dass man den Inhalt von Brassens‘ Liedern auch ohne profunde Französischkenntnisse erfassen kann, ist Danny Marino. Der in Tunis geborene Sänger gründet 1962 in Hamburg den legendären Club "Danys Pan", in dem auch Hannes Wader und Reinhard Mey erste Auftritte absolvieren. Danny hat zu diesem Zeitpunkt bereits eine Karriere als zweitklassiger Schlagersänger hinter sich. Nun bringt er allabendlich in seinem Etablissement deutsche Versionen von Brassens-Liedern zu Gehör – die er durchaus als Gegengift zum deutschen Schlager versteht.
Im Gegensatz zu Wader und Mey lernt er Brassens auch persönlich kennen. 1993 sagt er dem SWR:
"Er war extrem schwierig im Umgang mit anderen Menschen; vor allem mit Menschen, die mit der Branche zu tun hatten, also mit Journalisten, mit Produzenten. Man sagt, dass er nur ganz wenig Freunde hatte, die er als solche erkannte. Und das waren sicherlich nicht Leute, die in der Branche verkehrten, das waren ganz einfache Leute aus Sète, Bauern oder solche… alles was eine andere Berufsschicht zu tun hatte – es hat seine Welt gestört, irgendwo. Und er hat versucht, das immer zu bewahren", erzählt Danny Marino.
Danny Marino vor dem Eingang des Folklore Clubs "Danny's Pan" am Heidenkampsweg in Hamburg in den 1960er-Jahren
Hat Brassens persönlich getroffen: Danny Marino vor dem Eingang seines Clubs "Danny's Pan" in Hamburg.© picture alliance / United Archives/Pilz
"Ich habe ihn zweimal getroffen, einmal in Paris, einmal in Sète. Es ging immer um die Rechte. Und er ließ mich also reden und gab von sich ganz wenig Worte. Es dauerte zwei Stunden, bis ich feststellte, dass er Deutsch verstand. Er verstand also sehr gut Deutsch… und irgendwann sagte er: ‚Ja, das ist gut, es ist ganz lustig, so etwas auf Deutsch zu hören, ich hätte nicht gedacht, dass man das auch auf Deutsch machen könnte‘ – und so. Und dann gab er mir auch die Rechte und lächelte. Das war also sehr schwer, mit ihm überhaupt warm zu werden. Dann konnten wir noch ein paar Flaschen Wein austrinken – und das war das letzte Mal, dass ich ihn gesehen habe in Sète."

Deutscher Freund von Brassens zu Besuch in Basdorf

Zurück nach Basdorf: Wir stehen vor dem Casino, das gerade restauriert wird. Den Zwangsarbeitern diente es als Treffpunkt, hier gab es ein Klavier, auch Veranstaltungen fanden hier statt. Der Basdorfer Reinhard Turm, Anfang 80, erinnert sich:
"Ich hab‘ in diesem Casino als Schüler Turnunterricht gehabt. Ich bin hier zur Schule gegangen. In den Baracken waren ja teilweise die Klassen untergebracht gleich nach dem Kriege und diese Halle nutzten unsere Lehrer für den Sportunterricht."
Eine Station weiter singt der Basdorfer Ortsvorsteher Peter Liebehenschel ein Lied von Brassens. Für die anwesenden Franzosen ist er schlicht "der singende Bürgermeister".
"Ich möchte jemand jetzt ganz herzlich begrüßen, der mit in der Delegation war 2003 von den Freunden von Brassens, und das ist gerade kein französischer, sondern ein deutscher Freund von Brassens. Der sitzt hier in der Mitte: Gerhard Kissmann, der 1961 nach Frankreich gegangen ist, um als Landschaftsgärtner für einen Galeristen, Fricker, zu arbeiten, in Crepières, das ist nördlich von Versailles und westlich von Paris. Und da hat er Brassens kennengelernt. Bis 1967 hat er in Crepières gearbeitet, dann zog Gerhard Kissmann wieder nach Deutschland, aber er blieb mit Brassens bis zu dessen Tod befreundet, sie haben sich immer wieder besucht", begrüßt Marion Schuster Kissmann.
Später, im Hotel Barnimer Hof, wo heute das Klavier steht, auf dem Brassens in Basdorf spielte, lernen wir Gerhard Kissmann kennen. Der 86-Jährige ist drahtig, hat lebendige Augen und ist sichtlich stolz auf seine Geschichte mit Georges Brassens. Kein Wunder, denn: Es ist eine besondere Geschichte.

Kissmann trifft Brassens in französischer Herberge

"Er wollte gerne schwere Arbeit machen – denn nur als Sänger ist ja auch nix, man braucht ja auch mal Bewegung, ne?"
1961 liest der junge Gerhard in einer deutschen Zeitung die Anzeige eines deutschstämmigen Franzosen, der einen Landschaftsgärtner für sein Anwesen in der Nähe von Paris sucht. Der abenteuerlustige Gerhard bewirbt sich, bekommt eine Zusage und eine Landkarte mit der Wegbeschreibung.
"Es war 1961 im Oktober. Und ich konnte kein Wort Französisch, nichts. Jetzt – wohin? Da bin ich losgefahren nach Paris, dachte, Paris, wo findste es denn? Nun wusste ich ja auch nicht, ist das jetzt alles echt, ist es nicht echt, hat es vielleicht noch was mit der Fremdenlegion zu tun? Da war ich a bisserl misstrauisch. Es war 1961, man wusste ja nicht, es haben ja viele auf viele Arten und Weisen versucht, Leute zur Fremdenlegion zu bringen, ne?"
In der ersten Herberge in Crepières bekommt Kissmann dann erst einmal Reste der alten Erbfeindschaft zu spüren.
"Und als ich dann da reinkam und die hörten, dass ich Deutscher bin – ‚Kein Deutscher hier, sofort raus, hier kommt mir kein Deutscher rein!‘"
Also fährt er zur nächsten Herberge, wo man ihn aufnimmt.
"Das war gleich der zweite oder der dritte Tag, wo ich da war. Montags war ja geschlossen – auf einmal kommt trotzdem jemand rein mit einer Frau. Das war George Brassens. Und ich habe ja Georges Brassens nicht gekannt. Ich hab‘ gedacht, das wäre ein LKW-Fahrer oder sonst jemand. Da ist der rein, saß da am Tisch und sagt zu dem Wirt: Was macht denn der junge Mann so alleine da an dem Tisch, da ist doch sonst niemand hier bei Euch… ja, da hat der ihm gesagt: das ist ein Deutscher, der ist hier und soll hier einen Park anlegen für ne Galerie aus Paris. Der ist Landschaftsgärtner. Und da hat der Georges zu ihm gesagt, ja, wenn’s ein Landschaftsgärtner ist, nur zu, lad‘ den doch mal ein, sag mal, der soll zu uns an den Tisch kommen…"

Zweitschlüssel zu Brassens' Haus

Als Übersetzerin fungiert an diesem Abend Brassens‘ Lebensgefährtin Joha Heiman, genannt "Püppchen". Die Estin spricht neben Französisch perfekt Deutsch. Der Chansonnier möchte Gerhard sein Anwesen zeigen. Brassens meint, dass sein Garten ebenfalls eine ordnende Hand vertragen könnte.
Georges Brassens mit seiner Lebensgefährtin Joha Heiman, aufgenommen 1981
Fungierte beim Kennenlernen als Übersetzerin: Georges Brassens Lebensgefährtin Joha Heiman.© picture alliance / akg-images / Philippe Ledru
"Dann bin ich mit ihm rein, und dann haben wir zusammen ein Glas Wein getrunken, über das ganze Leben unterhalten von mir von früher. Denn ich hatte ja mit elf Jahren meine Eltern verloren da am Kriegsende… Und dann sage ich: So, jetzt muss ich aber nach Hause, ich muss zurück zum Gasthaus und muss schlafen gehen. Da steht der Georges auch auf und meint: Ich habe heute meinen Zweitschlüssel dabei, da, mein Haus ist auch dein Haus, kannst zu jeder Zeit kommen. Hat mir sofort am ersten Tag den Schlüssel von seinem Haus gegeben, obwohl ich ihn nie gesehen hatte, den Mann. Obwohl, sonst war ja der Georges sehr zurückhaltend, der hat ja kaum mit jemandem gesprochen…"
Die Geschichte klingt fast zu schön, um wahr zu sein. Aber Gerhard Kissmann zeigt Postkarten, die ihm Brassens geschickt hat und jede Menge Fotos – von ihm, Brassens und Catherine Deneuve zum Beispiel. Und – er hat einen Gewährsmann.
"Ich bin Georges Fricker, bin Maler und Sohn von Jacques Fricker, der eine Galerie in Paris hatte und der Gerhard Kissmann nach Frankreich holte."
"Meine Eltern waren froh, wenn sie mich mal los waren. Gerhard nahm mich manchmal zu Brassens mit oder wenn Brassens zum Essen kam, war ich dabei. Aber ich war kein Freund von Brassens. Das war Gerhard. Ich erinnere mich noch gut, wenn ich mitessen durfte – ich war ja noch jung, gerade 14 – Gerhard saß immer neben Brassens. Er sagte nicht viel. Die anderen Freunde, so fünf oder sechs, redeten ständig, einer machte Musik, einer war ein Bauer aus der Nachbarschaft – es waren immer einfache Leute. Keine Spur von Showbusiness, wie man es heute kennt. Brassens war ein ganz einfacher und authentischer Mensch."

"Brassens war so etwas wie ein Vater für Gerhard"

Fricker Junior erklärt die ungewöhnliche Freundschaft zwischen dem Star des französischen Chansons und dem deutschen Landschaftsgärtner folgendermaßen:
"Brassens hatte verstanden, dass Gerhard ein Waisenkind war, er hatte seine Eltern unter dramatischen Umständen verloren, als die Russen gegen Kriegsende kamen. Gerhard war jung, etwas naiv und es ist offensichtlich, dass Brassens so etwas wie ein Vater für Gerhard war – bis zu seinem Tod."
"Fünf Monate vor seinem Tod war’n wir das letzte Mal, im Mai war’n wir bei ihm. Und da hat er mit meiner Tochter noch Gitarre spielen geübt. Und da meint er: Horch zu, Du musst‘n bissel besser Gitarre spielen können und ich versuch mal nen paar Lieder auf Deutsch zu singen. Wenn ich drei Lieder auf Deutsch gut kann und Du kannst besser Gitarre spielen, dann machen wir mal die Tour durch Deutschland – Hamburg, Berlin, München hab ich vor, wenn’s geht, überall nur einen Tag. Hat er gesagt: Ende Oktober komm ich Euch besuchen, dann bleibe ich 14 Tage mal bei Euch und dann üben wir noch’n bisserl und dann sehen wir mal, ob’s schon klappt. Hat er uns versprochen, im Oktober zu kommen, ist aber nicht gekommen, er ist einfach gestorben. So was macht man doch nicht…"
Ein Deutsch singender Brassens – angesichts seiner vielen Adepten in der deutschen Liedermacherszene eine fast aberwitzige Vorstellung. Aber Gerhard Kissmann greift in seine Tasche und holt eine Kassette heraus. Die müsse er aber unbedingt wiederhaben.
Darauf singt Brassens deutsch.
"Brassens hat Deutschland immer gemocht. Er hat gar keine schlechten Erinnerungen an die Zeit hier in Basdorf. Mit Brassens habe ich darüber nicht gesprochen, aber mit René Iskin, der mit ihm hier in Basdorf und später auch in Crepières war. Sie arbeiteten bei den Brandenburgischen Motorenwerken. Und einmal im Jahr durften sie nach Frankreich fahren, für ein oder zwei Wochen. Brassens ist nach Paris gefahren und hat sich da versteckt, er wollte nicht mehr zurück. Das war 1943. Und das hat er richtig gemacht. Denn die letzten beiden Kriegsjahre hat er damit verbracht zu lesen, lesen, lesen. Und so ist er Dichter geworden."

Die Deutschen und ihr Brassens, Brassens und Deutschland

Die Deutschen und ihr Brassens, Brassens und Deutschland. Vielleicht war es gar keine so einseitige Liebe, wie man zu denken geneigt ist.
Am Tag des Festivals zu Ehren von Georges Brassens und seiner Zeit in Basdorf gibt es Überraschungen: So wird das Konzert an diesem Tag von einem jungen Syrer eröffnet, der in Basdorf wohnt. Er singt Brassens auf Arabisch. Begleitet wird er dabei von einem Pianisten, der aus Israel stammt. Das hätte dem Meister sicherlich gefallen.
Wobei Brassens der eigenen Kriegserfahrung in seinen Chansons keinen großen Raum gab. Sein Übersetzer Gisbert Haefs meint dazu:
"Es gibt natürlich ein paar Texte von ihm, die etwas mit Krieg, mit Soldaten, mit Militär zu tun haben. Der einzige General, dem man folgen kann, ist der General der kleinen Bleisoldaten. Und ‚Les Deux Oncles‘ – der eine ist gegen die Deutschen gefallen, der andere gegen die Engländer. Oder: Der eine war ein Freund der Deutschen, der andere ein Freund der Engländer. Beide sind jetzt tot, und wenn sie noch leben würden, würden sie sagen: Es ist völlig verrückt, sein Leben für Ideen zu riskieren, verlieren…"
Georges Brassens – "Les Deux Oncles":
"Da war Onkel Martin, da war Onkel Gaston;
einer liebte die Tommys, der andere die Teutonen.
Beide sind für ihre jeweiligen Freunde gestorben.
Ich hab keinen geliebt – sieh da: Ich lebe noch!"
"Das sind aber eher allgemein philosophisch-literarische Positionen, die nichts mit einem unmittelbaren Erlebnis zu tun haben. Das unmittelbare Erlebnis fließt natürlich in seine ganze Lebenshaltung mit ein. Die Erfahrung, dass er damals zur Zwangsarbeit nach Berlin bzw. Basdorf musste, hat sicher dazu beigetragen, dass er sich im weiteren Verlauf gegen jede Form von Zwang gewehrt hat und versucht hat, so zu leben, wie es ihm gefällt und nicht, wie andere es von ihm erwarten oder ihm vorschreiben."
Georges Brassens – "Les Deux Oncles":
"O ihr, die ihr heute die Schlüssel zum Himmel habt,
ihr glücklichen Schufte, die ihr heut Abend Gott sehen werdet –
wenn ihr da unten meine beiden Onkel trefft, –
gebt ihnen von mir diese beiden Ne m’oubliez pas,
die zwei Myosotis, die in meinem Garten erblüht sind:
ein kleines Forget me not für meinen Onkel Martin,
ein kleines Vergißmeinnicht für meinen Onkel Gaston,
armer Freund der Tommys, armer Freund der Teutonen…"

Brassens bekanntestes Chanson bleibt das vom Auvergnat

Sein bekanntestes Chanson bleibt aber das vom Auvergnat. Wobei Gisbert Haefs da leichte Zweifel anmeldet:
"Ich weiß nicht, ob es so bedeutend war, wie es häufig gemacht wird. Es ist sicher eine zentrale Position von ihm, dass die Leute einander helfen, dass die Betuchten, die sich darüber amüsieren, dass er hungert, nicht seine Freunde sind, sondern die Wirtin, die ihm ein Stück Brot gibt, oder der Auvergnat, der Köhler, der ihm Kohle schenkt oder auch nur der Fremde, der ihm traurig zulächelt, als die Gendarmen ihn abschleppen. Das zieht sich bei Brassens durchs gesamte Oeuvre, er ist immer auf Seite der Kleinen, der Misshandelten, Missbrauchten, der ist nie auf der Seite der Starken, Großen, Mächtigen, Reichen."
Der Liedermacher Franz Josef Degenhardt sang seine Version des Liedes bis zu seinem Tod im November 2011. Im Gegensatz zu Brassens‘ Urversion war es bei ihm expliziter und auch politischer. Sein Sohn Kai Degenhardt singt es bis heute.
Kai Degenhardt – "Lied für die ich es singe":
"Pastor Klaus und die Refugees,
Natascha Speckenbach und auch die
Richter. Und gibt auch noch paar mehr;
kommen von überall her.
Die machen vieles so ohne Netz
und, wenn es nottut, auch ohne Gesetz,
und tun auch oft was ganz ungeschützt,
was ihnen gar nicht nützt.
Überhaupt nicht auf der Höhe der Zeit,
sind sie vor fremder Not nicht gefeit.
Einige glauben sogar daran,
dass man das alles noch ändern kann.
Ob das so kommt und ob das so geht -
das weiß ich nicht mehr. Ich sing nur dies Lied.
Doch ohne die, für die ich es sing',
hätt’ alles kein' Sinn."
Georges Brassens war einer der ganz Großen des französischen Chansons. Was seinen Einfluss auf Deutschland anging: vermutlich der größte. Seine Botschaft, die er allerdings wohl nicht als eine solche verstanden wissen wollte, war universell. Sein Übersetzer Gisbert Haefs fasst sie so zusammen:
"Seine Humanität, seine sprachliche Perfektion, seine musikalische Perfektion und die wunderbar einfache Komplexität, in der alles zusammenpasst."
Franz-Josef Degenhardt – "Au Père Éternel" für Georges Brassens, angelehnt an das Chanson "Pour L’Auvergnat":
"Wir anderen feiern in deinem Bistro,
Wo der alte Leon das Akkordeon spielt
Und ihrer Katze die Brust gibt Margot
Und tonton Nestor ihr die Bluse aufhält
D‘abord les copains, und die Frauen sind da,
Von denen sich keine aufs Kreuz legen läßt,
La femme d‘Hector, Nini und Nana,
Und die zwei Onkel umarmen sich fest
Und tanzen Musette wie ein Liebespaar,
Und ein bisschen ist alles schon gar nicht mehr wahr,
Und kann ja auch nicht mehr lang dauern,
Bis auch wir in der Erde kauern
Und wünschen wie du,
Wir kommen dann schnell
Au père éternel."

Sprecher: Ralf Bei der Kellen und Tonio Arango
Regie: Beatrix Ackers
Ton: Christoph Richter
Redaktion: Winfried Sträter

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