Frank Witzel: Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969.
Roman. Matthes & Seitz Berlin, Berlin 2015, 29,90 Euro.
"Ein Autor sollte durch seine literarische Arbeit wirken"
Zur Zeit von Heinrich Böll waren Schriftsteller und Intellektuelle anders angesehen als heute, sagt der Schriftsteller Frank Witzel. Er plädiert dafür, dass für Literaten heute vor allem die Arbeit am eigenen Werk im Vordergrund stehen sollte.
"Es gab noch nicht diese ganze Diversifikation mit den Medien, Internet und Facebook, wo ja viele Meinungen sehr schnell auftauchen", sagte der Schriftsteller Frank Witzel im Deutschlandradio Kultur über die bedeutendere Rolle von Schriftstellern und Intellektuellen in den gesellschaftlichen Debatten des letzten Jahrhunderts. Es habe damals nur wenige Fernsehsendungen gegeben, viel Radio und die Feuilletons der Zeitungen. Darin hätten Veröffentlichungen dann ein großes Gewicht besessen und Diskussionen ausgelöst. "Heute gibt es diese einzelnen Intellektuellen wahrscheinlich nicht mehr so", sagte Witzel.
Konzentration auf das Werk wichtig
Wer heute versuche der Zeit hinterher zu hecheln, könne dabei nur verlieren, sagte Witzel. Deshalb sollten sich Schriftsteller lieber auf die eigene Arbeit konzentrieren. "Ich finde, dass ein Autor durch seine Werken wirken sollte", sagte der Schriftsteller, der selbst 2015 mit dem ausgezeichnet wurde. Natürlich sollte man sich auch zur Tagespolitik äußern, wie gerade der Schriftsteller Paul Auster zu der Lage in den USA. "Aber natürlich sollten die Werke schon im Vordergrund stehen."
Heinrich Bölls in der Öffentlichkeit
Der Schriftsteller Heinrich Böll (1917-1985) habe unter seiner öffentlichen Rolle damals gelitten und ihm sei wenig Zeit zum Schreiben geblieben, sagte Witzel. "Er war ein gutmütiger Mensch, der alles mitgemacht hat, sich für alles auch eingesetzt hat, aber ich weiß nicht, ob das seiner Arbeit wirklich so gut getan hat." In seinem Roman "Die verlorene Ehre der Katharina Blum" habe Böll sehr bewusst die Zeit aufgegriffen und in der Presse einen Gegner gehabt, die er darin angeklagt habe. "Das war natürlich ein ganz wichtiges Buch für die Zeit, aber ob es literarisch so wertvoll ist wie andere seiner Bücher, in denen er die Nachkriegszeit beschrieben hat oder wenn es auf das Spätwerk zugeht, das wage ich so ein bisschen zu bezweifeln."
Witzel liest ab heute aus seinen Werken bei der Tagung "Heinrich Böll - Politik und Geschichte im Spiegel literarischer Kritik" in der Evangelischen Akademie Wittenberg anlässlich des 100. Geburtstags von Heinrich Böll.
Das Interview im Wortlaut:
Dieter Kassel: In diesem Jahr wird der 100. Geburtstag von Heinrich Böll gefeiert, Stichtag, also Geburtstag ist der 21. Dezember. Aber schon heute beginnt eine Veranstaltung zu Böll und dazu, ob Literatur auch heute noch gesellschaftliche Debatten beeinflussen kann. Auf der liest und diskutiert am Sonntag auch Frank Witzel, unter anderem Autor des Romans "Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager", für den er 2015 den Deutschen Buchpreis bekommen hat. Schönen guten Morgen, Herr Witzel!
Frank Witzel: Guten Morgen, Herr Kassel!
Kassel: Böll war bis zu seinem Tod 1985 ein Schriftsteller, der gesellschaftliche Debatten eindeutig beeinflusst hat, vor allem in den 50er- und 60er-Jahren. Stellen wir uns mal vor, er wäre nicht vor knapp 100, sondern er wäre, sagen wir mal, vor 40 Jahren geboren, wäre heute auf dem Höhepunkt seines Schaffens: Könnte er einen solchen Einfluss heute auch noch haben?
Witzel: Wahrscheinlich nicht. Also, damals waren Schriftsteller, Intellektuelle, in den 50er-, 60er-Jahren ganz anders angesehen. Sie hatten ein größeres Gewicht. Es gab natürlich auch nicht diese ganze Diversifikation mit den Medien, Internet, Facebook et cetera, wo ja viele Meinungen sehr schnell auftauchen, sondern da gab es dann wenige Fernsehsendungen, viel Radio allerdings und die Feuilletons der Zeitungen, in denen, wenn dann was erschien, doch ein großes Gewicht hatte und auch oft lange diskutiert wurde. Heute gibt es diese einzelnen Intellektuellen wahrscheinlich nicht mehr so.
Wirken durch seine Werke
Kassel: Würden Sie sagen, heute, wenn überhaupt, kann man als Intellektueller durch das, was man jenseits seiner Werke sagt – zum Beispiel in Interviews – vielleicht noch eine gewisse Aufmerksamkeit erreichen, aber nicht mehr wirklich durch die Werke?
Witzel: Ja, das ist eigentlich schade. Weil, ich finde ja, dass ein Autor, ein Schriftsteller durch seine Werke wirken sollte. Also, dieses … Natürlich gibt es einen direkten Kontakt zu der Umwelt, in der man lebt, zu der Zeit, zu der Politik, und dass man sich auch dazu äußert, ist also verständlich oder sogar oft notwendig, wie es jetzt gerade Paul Auster gemacht hat zu der Situation in seinem Land. Aber natürlich sollten die Werke schon im Vordergrund stehen.
Da ist natürlich auch Heinrich Böll ein Beispiel, er hat ja auch darunter gelitten, in dieser Rolle sein zu müssen, praktisch gar nicht mehr Zeit zu haben, um zu schreiben, sondern auf allen möglichen Diskussionen, Veranstaltungen zu sein. Und er war ja ein, ja, man kann sagen, sehr gutmütiger Mensch, der alles mitgemacht hat, der sich für alles auch eingesetzt hat, aber ich weiß nicht, ob das seiner Arbeit wirklich so gutgetan hat.
Kassel: Andererseits war es aber ja auch gerade diese Arbeit, die Debatten angestoßen hat. Das war ja bei ihm nicht losgelöst davon.
Witzel: Ja. Ja, also, teils, teils. Er hat natürlich, wenn man jetzt an "Die verlorene Ehre der Katharina Blum" denkt, da hat er ja ganz bewusst die Zeit aufgegriffen und natürlich auch einen Gegner gehabt, nämlich die Presse, die er dort anklagt. Und das war natürlich ein ganz wichtiges Buch für die Zeit. Aber ob es eben literarisch so wertvoll ist wie andere seiner Bücher, in denen er die Nachkriegszeit beschrieben hat, oder auch dann, wenn es aufs späte Werk zugeht, das wage ich so ein bisschen zu bezweifeln.
Kassel: Nun war aber Heinrich Böll ja auch jemand – und er war zu seiner Zeit nicht der einzige Schriftsteller, auf den das zutrifft –, er war jemand, der ja auch viel erlebt hatte. Er hat sich ja auf eine überhaupt nicht egozentrische Art und Weise …
Witzel: Nein, gar nicht.
Kassel: … auch mit sich selbst beschäftigt, mit seinem Katholizismus natürlich, zum Beispiel in seinen Büchern.
Witzel: Ja.
Schriftsteller stehen in einer Tradition
Kassel: Haben wir nicht heute oft … Er hat ja nicht in die Zeitung geguckt und dann hat er einen Roman zum aktuellen Thema geschrieben. Haben wir nicht heute oft das Problem, dass doch der eine oder andere Schriftsteller eigentlich auch nicht so viel zu sagen hat, weil er ein solches Leben wie Böll und viele andere der Nachkriegsgeneration eben nicht hatte?
Witzel: Ja, das kann man natürlich so sagen, durch die äußeren Umstände. Aber jeder hat ja auch ein Leben und jeder lebt in einer ganz spezifischen Zeit, auch wenn wir vielleicht nicht ganz so direkt davon betroffen sind wie natürlich die Generation, die in … Im Ersten Weltkrieg ist er ja geboren sozusagen und im Zweiten hat er mitgemacht, und sein Umgang natürlich mit seiner Vergangenheit, der ist aber sehr entscheidend. Den muss jeder selbst auch für sich finden.
Auch wenn man hier in Nachkriegsdeutschland aufgewachsen ist, im Wirtschaftswunder oder noch später, in einer Zeit, jeder hat ja sein Leben und das vermischt sich mit der Gesellschaft und mit der Politik. Bei Böll oder bei natürlich der ganzen Nachkriegsgeneration hatte das ein anderes Gewicht als für uns heute, aber wir stehen ja auch in einer Tradition. Mit dieser Tradition soll ja teilweise aufgeräumt werden, man will ja wieder mal so einen Schlussstrich ziehen, und ich glaube, dafür steht auch Heinrich Böll, dass man auch sich zu der geschichtlichen Vergangenheit bekennt.
Kassel: Wir besprechen das jetzt gerade in einer Art und Weise, wie es oft passiert und wie es mich, wenn ich nur Zuhörer bin, manchmal ein bisschen ärgert. Eigentlich unterstellen wir beide – auch ich, ich bin schuld! –, wir unterstellen beide so ein bisschen, dass es eigentlich gut ist, wenn Schriftsteller sich gesellschaftlich einmischen. Aber ist das wirklich so? Ist das a priori ihre Rolle?
Witzel: Nein, das will ich ja sagen: Sie sollten sich mehr um das eigene Werk kümmern. Also, davon würde ich auch ausgehen. Ich glaube nur, dass jeder, der sich erinnert, der schreibt, der versucht, auch eine eigene Weltsicht zu etablieren oder sich auch zu erinnern, dass der automatisch dann auch immer mit seiner Zeit, mit seiner Gesellschaft zu tun hat. Und dann liegt es natürlich nahe, dass er sich eher äußert wie jemand, der meinetwegen wissenschaftlich arbeitet in einem Labor, obwohl der das genauso gut tun könnte oder auch sollte oder auch zu manchen Bereichen viel eher sogar etwas zu sagen hätte als ein Schriftsteller.
Bücher haben eine lange Vorlaufzeit
Kassel: Nun gibt es natürlich ein Problem, dass Sie sehr indirekt gleich am Anfang schon angesprochen haben: Von dem Moment, wo einem etwas einfällt für ein Buch, auch von dem Moment, wo man es komplett fertig geschrieben hat, bis es dann Menschen lesen können, vergeht eine gewisse Zeit. Da hat sich auch durch die moderne Technik gar nicht arg viel verändert. Aber heute ist es doch so, durch die vielen anderen Medien: Ehe man selber eine Idee hat und das Buch kommt raus, ist das alles doch schon 500-mal diskutiert worden!
Witzel: Ja, das ist leider so. Es gibt ja so einen sehr schönen Cartoon, da sitzt ein Zeichner und seine Frau kommt rein und sagt: Den Gag, den du dir über Trump ausgedacht hast – er hat es gerade gemacht! Und das ist natürlich das, wenn man sich auf diese Zeit einlässt und wenn man versucht, sozusagen der Zeit hinterher zu hecheln, da kann man nur verlieren dabei. Deswegen ist es natürlich wichtig, sich auf das Werk oder auf die eigene Arbeit zu konzentrieren, und es ist natürlich auch falsch, dass dann im Publikum gesagt wird, ach ja, jetzt kommt er mit was, was gerade der Mode entspricht, raus.
Also, Bücher gerade, Sie sagen es ja ganz richtig, haben eine Vorlaufzeit von mehreren Jahren, in der Regel wirklich vier, fünf Jahre, und dann ist es oft auch Zufall, wo ein Buch erscheint, zu welchem Zeitpunkt. Aber Böll hat das ja auch versucht und deswegen muss man ihm dann auch nachsehen, dass solche Bücher, die direkt auf die Zeit reagiert haben, auch gewisse literarische Schwächen aufweisen.
Kassel: Sagt Frank Witzel, der übermorgen auf einer Veranstaltung zum 100. Geburtstag von Heinrich Böll in Wittenberg nicht nur diskutiert, sondern auch liest aus zwei seiner Romane: "Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager" und auch aus "Bluemoon Baby". Ich wünsche Ihnen, Herr Witzel, dabei viel Spaß und danke Ihnen herzlich für das Gespräch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Frank Witzel: Bluemoon Baby
Edition Nautilus Hamburg 2001, 16 Euro.