"Für die Stromerzeugung werden die Dörfer Graun und Reschen (teilweise) und die uralten Weiler von Arlund, Piz, Gorf und Stockerhöfe (Sankt Valentin) unter Wasser gesetzt. Die Einwohner werden im 'nationalen Interesse zur Stärkung der nationalen Industrie' zwangsenteignet ohne Recht auf Realersatz und zur Aus- oder Umsiedlung gezwungen. Folgen: 70 Prozent der Bevölkerung ist aus- oder abgewandert; 181 Wohnhäuser beziehungsweise landwirtschaftliche Gebäude gesprengt; 514 Hektar Kulturfläche sind verloren gegangen; 70 Prozent weniger Nutztiere."
Die Abtrennung Südtirols
In den Augen vieler Südtiroler ein Symbol für vergangenes Unrecht: Der Kirchturm des Dorfes Graun, das einem von Mussolini geplanten Stausee zum Opfer fiel. © imago / Photocase
Italienisch wider Willen
30:01 Minuten
Nach dem Ersten Weltkrieg wurde Südtirol Italien zugeschlagen. Gegen den Willen der Bevölkerung: Jahrzehntelang kämpften Separatisten gegen die Zentralgewalt Roms, teils mit Waffen. Erst mit der EU und dem Südtiroler Autonomiestatus kehrte Ruhe ein.
"Ich bin tatsächlich ein Zerrissener in zwei oder drei Welten", sagt Günther Strobl, Wirtschaftsredakteur der österreichischen Tageszeitung "Der Standard". "Weder Österreicher, obwohl ich mittlerweile 40 Jahre in Wien lebe, wohne, arbeite, noch Italiener. Bin zwar Pass-Italiener, fühle mich aber nicht als Italiener. Am ehesten bin ich Südtiroler, obwohl ich dort mittlerweile am wenigsten meine Lebenszeit verbracht habe und verbringe."
So wie Günther Strobl geht es vielen Südtirolern. Das Wort vom "Pass-Italiener" hört man oft von ihnen. Die 400.000 deutsch- und ladinisch-sprachigen Südtiroler sind italienische Staatsbürger – aber Italiener? Als Tirol 1919 Jahren geteilt und Südtirol italienisch wurde, schufen die Architekten der neuen Friedensordnung eines von vielen Nationalitätenproblemen des 20. Jahrhunderts. Nicht das folgenreichste, aber eines mit nicht zu unterschätzender Sprengkraft.
Tirol - das ist das Land von Andreas Hofer, der zu Beginn des 19. Jahrhunderts einen Freiheitskampf gegen die bayerische Herrschaft anführte, mit seinem Leben bezahlte und zum Freiheitshelden wurde. Zu beiden Seiten des Alpenhauptkamms gelegen, ist heute ein begehrtes Reiseziel: Nordtirol, das Land am Inn mit der Hauptstadt Innsbruck. Südtirol, das Land an Etsch und Eisack. Bozen, Meran. Die Unterscheidung zwischen Nord- und Südtirol gibt es schon lange. Auch die Rivalität zwischen beiden Teilen – das ist dem aus Südtirol stammenden österreichischen Politiker Andreas Khol sehr bewusst:
"Nordtirol: Steinreich, also viele Steine", erklärt er. "Kein Weinbau, eher bäuerliche Struktur, karges Land, terra in montana, Land im Gebirge." Dagegen Südtirol: "Wein, Schlösser, das Land der Reben, romanische Kultur seit der frühesten Besiedlung der Räten. Also, die Südtiroler haben eigentlich immer ein Überlegenheitsgefühl gegenüber den Nordtirolern gehabt."
Der Londoner Geheimvertrag besiegelte 1915 Tirols Schicksal
Plötzlich aber waren sie richtig getrennt, der Süden mit dem Friedensvertrag von St. Germain 1919 nicht mehr österreichisch, sondern italienisch – ein Schock.
Begonnen hat alles während des Ersten Weltkriegs, als Italien beiden Kriegsparteien anbot, seine Neutralität aufzugeben und in den Krieg einzutreten, wenn ihm nach dem Krieg Gebiete, darunter der Süden Tirols, zugesprochen würden. Die österreichisch-ungarische Monarchie lehnte dieses Ansinnen umgehend ab, deren alliierte Gegner Großbritannien, Russland und Frankreich sagten zu und besiegelten dies im Londoner Geheimvertrag von 1915.
Sofort nach Ende des Krieges verlangte Italien die Einlösung des Versprechens. Der amerikanische Präsident Woodrow Wilson hatte zwar das Selbstbestimmungsrecht der Völker gefordert, aber er stimmte der Abtretung Südtirols an Italien zu – vermutlich, um die Italiener für seine Pläne auf dem Balkan und für den Völkerbund zu gewinnen.
"Der hohe Preis des Friedens – Die Geschichte der Teilung Tirols 1918-1922", lautet der Titel eines Buches, das der österreichische Historiker Stefan Wedrac und seine Kollegin Marion Dotter geschrieben haben. Darin schildern sie, wie rasch Italien noch 1918 Südtirol besetzt hatte. Gegen den verzweifelten, aber letztlich erfolglosen Widerstand der Bewohner gegen die fremde Macht im Land.
Im Habsburgerreich hatten sich die zahlenmäßig überlegenen deutschsprachigen Tiroler und Trentiner den Italienern kulturell überlegen gefühlt, rückständig und unordentlich. Bis in die 30er-Jahre gab es an den Jahrestagen der Annexion Glockengeläut und Trauerfeiern. Österreich musste wehmütig zusehen und benannte damals vielerorts Straßen und Plätze nach den verlorenen Südtiroler Gemeinden.
In Südtirol lebten damals rund 220.000 deutschsprachige und etwas mehr als 16.000 italienisch- und ladinischsprachige Tiroler und Tirolerinnen, schreiben Dotter und Wedrac.
"Da gab es schon, eigentlich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, die Bewegung des Irredentismus, dass man also die Gebiete, wo Italiener unter fremder, unter Anführungszeichen, Herrschaft, leben, von dieser Fremdherrschaft befreit und dem neuen Nationalstaat Italien einverleibt", erklärt Stefan Wedrac.
"Das heißt, hier war der Expansionismus Italiens von einer nationalistischen Logik begründet. Interessanterweise hat sich der nicht auf die Gebiete in der Schweiz und in Frankreich erstreckt, wo auch Italiener gelebt haben, jenseits der Grenzen des Nationalstaates, sondern er hat sich auf den alten Erzfeind, die Habsburgermonarchie beschränkt."
Die Faschisten trieben die Italianisierung Südtirols voran
Schon lange hatten italienische Nationalisten behauptet, dass Tirol südlich der alpinen Wasserscheide italienisches, lediglich eingedeutschtes Gebiet sei. Vorkämpfer dieser Idee war der aus dem Trentino stammende Ettore Tolomei, der schon unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg die Assimilierung oder Vertreibung der neuen Minderheit im Staat forderte.
Er gab die Zeitschrift "Archivio per l'Alto Adige" heraus, wobei die Wortschöpfung "Alto Adige", zu Deutsch "Hochetsch", noch heute die italienische Bezeichnung für Südtirol ist. Tolomei gilt als "Vater der Brennergrenze" und "Totengräber" eines österreichischen Südtirols. Er sorgte für die Italianisierung der deutschen Ortsnamen.
Heute werden die Bahnhofsansagen auf Deutsch und Italienisch gemacht. 1919 war an Gleichberechtigung der Sprachen noch nicht zu denken. Als der Vertrag von Saint Germain 1919 die Abtrennung Südtirols von Österreich festlegte, stritten Vertreter der ehemaligen Kriegsgegner in einer Grenzregelungskommission erst einmal um jeden Meter in hochalpinem Gelände, erzählt die Historikerin Marion Dotter:
"Die meisten waren eigentlich Militärpersonen. Das zeigt sich dann auch sehr stark in ihren Berichten, dass sie immer noch in diesen kriegerischen Gedanken, in diesen militärischen Vorstellungen verhaftet waren und das Ganze sehr konfliktbeladen gesehen haben. Natürlich war es schon wichtig, dass sie sehr gut bei Fuß waren, dass sie diese Anstiege schaffen konnten und so weiter. Das war bestimmt nicht leicht, und es gab sogar Todesopfer und Verletzte, die dann zu beklagen waren im Verlauf dieser Grenzziehung, was natürlich sehr dramatisch ist, muss man auch sagen."
Damals wurde Italien noch liberal-demokratisch regiert. Wer sich politisch gegen die neuen Verhältnisse engagierte, musste dennoch mit Kündigung oder Ausweisung rechnen. Im Allgemeinen wurde den neuen Staatsbürgern aber mit Respekt begegnet. Allerdings nicht lange. 1921 reisten Hunderte Faschisten aus ganz Oberitalien nach Bozen und schossen in einen Umzug.
Der sogenannte Bozner Blutsonntag forderte ein Todesopfer und etwa 50 Verletzte. Ein Jahr später eroberte der italienische Faschismus, die Urmutter aller europäischen Rechtsradikalismen, die Macht im Staat. Von nun an wurde die Italianisierung Südtirols kompromisslos vorangetrieben, mit der Industrialisierung und der Ansiedlung neuer Bewohner aus Süditalien.
Das Bozner Bergsteigerlied findet sich im Repertoire vieler Blasmusikkapellen. Es wurde 1926 geschrieben, doch in keiner der sieben Strophen dieses Heimatliedes kommt das Wort "Südtirol" vor. Die Verwendung dieses Namens war seit genau diesem Jahr verboten.
1939 schlossen die Staatschefs der totalitär regierten Länder Italien und Deutschland, Benito Mussolini und Adolf Hitler, ein Abkommen, das die deutschsprachigen Südtiroler vor die Wahl stellte: gehen oder bleiben.
Hinter dieser ethnischen Flurbereinigung stand laut Historikerin Dotter die Idee: "Ganz Südtirol wird von der deutschsprachigen Bevölkerung verlassen, die kommen eben zurück nach Österreich in deutschsprachige Gebiete, während man in Südtirol selbst die Italiener ansiedelt. Was aber auch mehrheitlich nicht funktioniert hat, sondern eher auch zu einer Spaltung innerhalb der Südtiroler Gesellschaft geführt hat, weil die einen sehr stark dafür plädiert haben, in der Heimat zu bleiben, die anderen wieder gerne in ein deutschsprachiges Umfeld zurückkehren wollten und so weiter."
Assimilation oder Auswanderung
Optanten – Auswanderer nach Österreich - standen Dableibern gegenüber. Bis 1943 verließen 75.000 Südtiroler ihre Heimat. Mehr nicht. Darunter war die Familie des Spenglermeisters Richard Weber aus Innichen/San Candido, knapp hinter der Grenze zu Österreich. Weber entschied sich, mit seiner Familie in die Steiermark auszusiedeln, auch weil sie sich von Weber in Filaio hätte umbenennen sollen. Michaela Kindel aus Wien erinnert sich, dass ihre Mutter, eine der Weber-Töchter, ihr von den Schwierigkeiten damals erzählt hatte:
"Als Kind hat sie in die italienische Schule gehen müssen, sie haben zu Hause deutsch gesprochen, dann in der Schule mussten sie natürlich italienisch sprechen. Es war verboten, deutsch zu reden, sie mussten Strafaufgaben schreiben: Ich darf in der Schule nicht deutsch sprechen. Hat natürlich zur Folge gehabt, dass sie schriftlich nicht so gut war. Sie hat die erste Volksschule zweimal gemacht, das weiß ich."
Es war eine Wahl zwischen Pest und Cholera: Wer blieb, dem drohte die Assimilierung. Wer die Heimat verließ, ging ins Ungewisse. Edmund Dellago aus Sankt Ulrich im Grödnertal war ein Kind, als sich die Familie entschloss, nach Oberösterreich, damals Oberdonau, auszuwandern.
"Im Krieg hat ja die Optionszeit wirklich große Wunden gerissen", sagt er. "Da sind Familien getrennt worden, die Tochter hat für Italien gewählt, der Sohn hat für Deutschland gewählt, weil er einrücken wollte und für Hitler geschwärmt hat. Das kann man sich heute nicht vorstellen, ich habe das am eigenen Körper miterlebt. Das sind Sachen, die hoffentlich nie mehr kommen sollten. Und die haben natürlich besonders in Ladinien heftige Wunden gerissen."
Sprachverwandtschaft mit dem Französischen
Anfangs wurden die Auswanderer von denen, die blieben, als Verräter beschimpft, nach dem Krieg war es umgekehrt. Da galten jene, die für den Verbleib in Italien gestimmt hatten, als Verräter. 1952 kehrte Edmund Dellago wie viele andere Südtiroler in seine Heimat zurück. Er gehört der Minderheit der Ladiner an, die nicht ganz fünf Prozent der Südtiroler ausmacht - 20.000 Menschen.
Im Faschismus wurde das Ladinische als italienischer Dialekt abgetan. Was falsch ist, denn Ladinisch ist eine gallo-romanische Sprache.
"Am meisten sind die Grödner mit dem Französischen verwandt", erklärt Edmund Dellago. Die Franzosen sagen 'sauter' zum Springen, geschrieben 'sauter', und wir sagen 'sauté'. Die ladinische Sprache wurde ganz besonders am Ende des 19. Jahrhunderts sehr stark von Grödnern, die auswärts zur Schule gegangen sind, beeinflusst, indem man viele deutsche Wörter ladinisiert hat. Wenn man auf Deutsch 'nachdenken' sagt, sagt man auf Ladinisch 'penser-dau', das heißt 'penser' ist 'denken' und 'dau' ist 'nach'. Oder 'vorgehen' sagt man 'schidant', 'schi' – 'gehen' und 'dant' – 'vor'. 'Aufgeben', ein Paket aufgeben, ist 'desu', 'de' – 'geben' und 'su' – 'auf'."
Früher hing es von der Herkunft des Pfarrers ab, welchen Namen er ins Taufbuch schrieb. Dellagos Vorfahren kamen aus Wolkenstein und hießen von Laak. Daraus wurde Dellago. Mit dieser sprachlichen Vielfalt drohte es nach dem Zweiten Weltkrieg zu Ende zu gehen. Die deutschsprachigen Südtiroler hofften, ihr Land würde zu Österreich zurückkehren, doch der Staat setzte die unter den Faschisten begonnene Italianisierung der Provinz konsequent fort.
Ein paar Jungen spielen auf dem weiten Gerichtsplatz der Provinzhauptstadt Bozen Fußball. Bozen ist heute mehrheitlich italienischsprachig. Begrenzt wird der Platz von zwei typischen Monumentalbauten aus totalitärer Zeit. Der eine ist das Gerichtsgebäude, der andere war ursprünglich Parteihaus der Faschisten und beherbergt heute das staatliche Finanzamt. Über seinem Eingang prangt ein 36 Meter breites Relief aus Traventinstein, das größte in Europa. Es zeigt in der Mitte Mussolini, den Duce, hoch zu Ross, und darunter geschrieben die faschistische Losung: Credere, Obbedire, Combattere – Glauben, Gehorchen, Kämpfen.
Da der Bildhauer so lange für die Fertigstellung benötigte, wurde das Relief erst 1957, zwölf Jahre nach Kriegsende, vollständig an der Fassade des Gebäudes montiert. Von Anbeginn war das faschistische Relikt ein Stachel im Fleisch der Südtiroler. Seit zwei Jahren ist dem Relief ein Satz von Hannah Arendt in den drei Landessprachen vorgesetzt: Kein Mensch hat das Recht zu gehorchen. Landeshauptmann Arno Kompatscher sagt, eine solche Kontextualisierung sei sinnvoller, als das Relief ins Museum zu stellen.
Zwangsumsiedlungen am Reschensee 1949/50
Ein anderes Beispiel für die Härte des italienischen Zentralstaats in der Nachkriegszeit gibt der Reschensee ab, am Dreiländereck mit der Schweiz und Österreich. Der aus dem Wasser des Stausees ragende sieben Jahrhunderte alte Kirchturm der früheren Gemeinde Graun ist ein weltbekanntes Fotomotiv. Er wirkt, als wäre ein Baustein an der falschen Stelle in die Landschaft gesetzt worden.
Auf einer Informationstafel am Ufer steht unter dem Titel "Die Tragödie vom Reschensee 1949/50" zu lesen:
Der Ort Graun wurde ein wenig höher am Hang neu aufgebaut. Er liegt in nachmittäglicher Ruhe. Ein junger Bauer fährt seinen Traktor aus der Scheune. Für ihn ist der Blick auf den See ein schmerzlicher:
"Haben unten ein Haus gehabt, Haus und Hof, sind dann neu gebaut worden, 1950. Das war ein großes Unrecht, ja. Wenn man die Leute ordentlich entschädigt hätte und wenn man ihnen geholfen hätte, aber da ist nichts passiert, von Erzählungen her."
Ein paar Häuser weiter sitzt der frühere Lehrer Valentin Paulmichl in seiner Stube. Die Generation, die die Flutung noch miterlebt habe, empfinde den bereits unter den Faschisten geplanten Stausee noch als offene Wunde, die Jüngeren hätten schon mehr Distanz, sagt er:
"In erster Linie ging es um die Energie, aber mitgespielt hat natürlich die ganze Geschichte des Faschismus damals, der auch ausschlaggebend war für die Tragik der Durchsetzung, weil vielfach nicht gefragt wurde um rechtliche Aspekte und weil einfach drübergefahren wurde wie ein Bagger über die Bevölkerung."
Mit Bomben und Waffen für die Unabhängigkeit
Weit schärfer formuliert es die einstige Politikerin der stark rechts-konservativen Partei Süd-Tiroler Freiheit, Eva Klotz. 58 Jahre, rumpflanger Zopf, sanfte Stimme. Doch gilt sie in Südtirol als Verfechterin einer harten Linie gegenüber Italien:
"Die Geschichte ist die Geschichte der Allmacht und des gewaltsamen Vorgehens eines Staates und eines staatlich geförderten Großbetriebes Montecatini, wo man einfach die italienischen Wirtschaftsinteressen in den absoluten Vordergrund gestellt hat. Denn das ist eine regelrechte Ausbeutung gewesen, die Dörfer, die Leute, die ihre Existenz, ihre Heimat verloren haben, damit man in den Großbetrieben, in der Lombardei vor allem, den nötigen Strom hatte für den wirtschaftlichen Aufbau in Italien."
Eva Klotz schreibt Südtirol, wie auch Nordtirol, konsequent mit Bindestrich. Die Südtirolerin will damit eine Vorläufigkeit der Teilung Tirols betonen. Ein steinerner Zeuge für die Jahre extremer Benachteiligung der deutschsprachigen Südtiroler nach dem Zweiten Weltkrieg ist Schloss Sigmundskron, hoch über dem Zusammenfluss von Etsch und Eisack. Das Schloss ist heute einer von sechs Standorten eines Museumsprojekts des Südtiroler Bergsteigers Reinhold Messner. Am Felsvorsprung wehen bunte Gebetsfahnen, im Wehrturm sitzen steinerne Buddhas mit langen Ohrläppchen.
Den Parkplatz des Schlosses bewacht der pensionierte Lehrer Walter Daber, der sich an die für die deutschsprachigen Südtiroler bitteren Nachkriegsjahre erinnert: "Sie konnten keine öffentlichen Stellen bekleiden. In der Stadt Bozen: Der soziale Wohnbau ging ausschließlich zugunsten der Italiener. Also die aus dem Süden zugezogen sind."
1957 kochte auf Sigmundskron der Zorn der Südtiroler über. Bei einer Kundgebung vor 35.000 Teilnehmern formulierte der spätere Landeshauptmann Silvius Magnago die Forderung "Los von Trient". Sollte heißen: Eine eigene Autonomie und nicht länger eine gemeinsam mit Trient, wo die Italiener die Mehrheit stellten. Viele wollten sich aber nicht mit dem Gang durch die Institutionen abfinden. Südtiroler Aktivisten, in die Geschichte als "Bumser" eingegangen, machten mit Anschlägen gegen Strommasten auf die Situation im Land aufmerksam. Einer von ihnen war der Vater von Eva Klotz, Georg Klotz.
"Ich spreche ganz klar von Freiheitskampf und Freiheitskämpfern. Aber da habe ich als Kind die Ohnmacht gegenüber der Zwangsgewalt eines Staats erlebt", sagt Eva Klotz. "Als man meinen Vater weder lebend noch tot bekommen hat – es hat ja einen Mordanschlag gegeben, sein Freund Luis Amplatz war 1964 erschossen worden, mein Vater konnte mit einem Steckschuss in der Brust nach 43-stündigem Marsch über Gletscher Nordtirol erreichen. Als man ihn eben weder lebend noch tot bekam, hat man auf die Familie zugegriffen. Man hat meine Mutter 14 Monate und zehn Tage in Untersuchungshaft gehalten, also mit Quarzlampen geblendet bei den Verhören, sie drohte das Augenlicht zu verlieren. Meine Mutter war eine starke Frau."
Auch Andreas Khol spricht weder von Terroristen noch von Bumsern, sondern von Südtirol-Aktivisten. Khol war Politiker der konservativen ÖVP in Österreich und unter anderem Nationalratspräsident. Die Frage Südtirols hat ihn zeit seines Lebens begleitet. Zumal er selbst von dort stammt. Sein Großvater war Offizier im kaiserlichen Heer gewesen, sein Vater desertierte aus der in den Abessinien-Krieg ziehenden italienischen Armee und wurde des Landes verwiesen. Andreas Khol wuchs in Österreich auf.
Immerhin hatten die Anschläge in den 50er- und 60er-Jahren die Weltöffentlichkeit aufmerksam gemacht. Der Fall kam vor die UNO, die Österreich und Italien auftrug, gemeinsam eine Lösung zu finden, erzählt Khol. 1972 gab es ein neues Autonomiestatut für Südtirol. Dessen Umsetzung dauerte allerdings 21 Jahre.
"Die Südtiroler waren genial", sagt Khol. "Silvius Magnago, perfekt italienisch-sprachig, hat an den Ministerratssitzungen immer wieder teilgenommen in Rom und hat aus dem Paket herausgeholt, was aus dem Paket herauszuholen war. Ich kann mich noch erinnern, wie man gerungen hat um den Lehrplan des Konservatoriums für Blasmusik und wo Magnago uns berichtet hat: Nein, die Streitbeilegung kann nicht erfolgen, es fehlt noch der deutschsprachige Teil des Lehrplans für den Posaunenunterricht in Bozen. Also, so hat man verhandelt. Und die Italiener waren geduldig, die wollten einen Frieden haben."
Erst mit der Autonomie kam der Frieden
1993 war die Streitbeilegung endlich besiegelt. Basierend auf einem bilateralen Vertrag, wie Südtirols Landeshauptmann Arno Kompatscher und der österreichische Politiker Andreas Khol betonen.
"Wann immer es Änderungen im Autonomiestatut geben soll, dann fordern wir Südtiroler Vertreter in Rom ein, dass Österreich angehört werden muss", sagt Kompatscher. "Das ist die Besonderheit der Südtirol-Autonomie in Italien. Es gibt ja weitere autonome Regionen, unsere dient dem Minderheitenschutz und fußt auf einem völkerrechtlichen, bilateralen Vertrag mit Österreich. Österreich ist fundamental für Südtirols Autonomie."
Andreas Khol ergänzt: "Seit 1993 haben wir eine kontinuierliche friedliche Entwicklung zwischen Österreich und Italien. Man kann sagen, dass die beiden Länder befreundet sind. Der Todesmarsch der Minderheit ist gestoppt. Die Südtiroler können sich wirklich selbst regieren. Die Rechte des Südtiroler Landtags und der Südtiroler Landesregierung sind nicht so groß wie die einer deutschen Landesregierung, aber sind viel größer als einer österreichischen Landesregierung.
Die Autonomie bedeutet einen Wendepunkt in der Entwicklung Südtirols. Beispiel: Vinschgau. Der Wiener Sebastian Paulick fährt seit 1980 jedes Jahr dorthin in Urlaub, erst mit seiner Mutter, jetzt mit der eigenen Familie:
"Die Landwirtschaft war recht arm", sagt er. "Ich erinnere mich auch daran, dass wir von verarmten Bauern um ein paar Lire angebettelt wurden. Die Vinschgaubahn ist, glaube ich, zwei-, dreimal am Tag gefahren, die italienische Bahn hat wenig Wert darauf gelegt, eine attraktive Strecke daraus zu machen, bis sie dann 1990 ganz eingestellt wurde."
Inzwischen wickelt die Provinz Bozen selbst den öffentlichen Verkehr in Südtirol ab. 2005 wurde die Vinschgaubahn wieder in Betrieb genommen, fährt heute mit modernen Triebwagen, dicht besetzt im Halbstundenintervall, und wird gerade elektrifiziert. Internationale Verkehrsexperten zitieren sie regelmäßig lobend. Der Tourismus im Land boomt. Hinzu kommt Österreichs EU-Beitritt, der viel verändert hat. Johannes Kashofer vergleicht mit früher. Er stammt aus Osttirol, das ist jener Teil Südtirols, der 1919 bei Österreich geblieben ist, als Exklave, weil mit Nordtirol keine direkte Verbindung besteht:
"Allerdings war damals die Besonderheit, dass der Korridorzug in Sillian verschlossen worden ist und dann durch das ganze italienische Staatsgebiet verschlossen geblieben ist. Man durfte nicht ein- und aussteigen. Das war ein geschlossener Zug bis zum Brenner. Dann haben sie wieder die Türen geöffnet. Diese Grenze hat man einfach gemerkt. Man ist in ein anderes Staatsgebiet gefahren, und das war einfach separiert. Und seit dieser Grenzöffnung ist das wieder eines, also man sieht Tausende Südtiroler in Osttirol, und man sieht umgekehrt auch massenhaft Osttiroler in Südtirol."
Eine Art routiniertes Nebeneinander
Dennoch hat das Verhältnis von Nord- und Ost- gegenüber den Südtirolern etwas Vergleichbares mit dem zwischen den Deutschen der BRD und der DDR. Durch die Teilung hat man sich auseinandergelebt, ist einander aufgrund unterschiedlicher Lebenserfahrungen fremd geworden, mangelnder Austausch ließ Vorurteile wachsen. Und wie steht es um das Zusammenleben der Volksgruppen in Südtirol?
Am Sonntag wird in der Pfarrkirche von Kaltern ein italienisch-deutscher Gottesdienst gefeiert.
"Ich würde schon sagen, dass das seine Bedeutung in der Messe hat, dass Deutsche und Italiener zusammenleben und das dann auch in der sonntäglichen Messe so halten", sagt eine Besucherin nach dem Gottesdienst.
Ein paar Kilometer weiter, in Tramin, wird das Kirchweihfest gefeiert. Hier sind die Deutschsprachigen unter sich. Rund um einen riesigen Kastanienbaum sitzen sie an Tischen, essen Plent, die Polenta der Gegend, und trinken Gewürztraminer dazu. Eifrig singen sie zur Melodie eines Musikanten – doch halt, das ist doch ein Wehrmachtslied: "Auf Kreta bei Sturm und bei Regen, da steht ein Fallschirmjäger auf der Wacht." So deutsch möchte man es dann doch nicht haben. Die meisten Gesprächspartner meinen, dass die Volksgruppen mehr neben- als miteinander leben. Wie etwa der Historiker Hans Heiss, der von einer Art Kohabitation spricht. Er ist Politiker der die Ethnien übergreifenden Partei Verdi-Grüne.
"Es ist in vieler Hinsicht eine Art von routiniertem Nebeneinander, würde ich sagen", so Heiss. "Also die italienischsprachige Gruppe und die deutschsprachige vor allem lebt nebeneinander her. Man kennt sich, man kennt die gegenseitigen Reibungspunkte, die werden routiniert abgefedert. Aber es fehlt an vertieftem Interesse aneinander, muss man schon sagen. Also die Südtiroler deutscher Sprache vor allem interessiert wenig, was in Italien abgeht, wie die Italiener hier ticken, und umgekehrt gibt es auch eine gewachsene Vorurteilsstruktur gegenüber den Deutschen."
Bozen ist anders als der Rest Südtirols
In den Städten vermischen sich die Volksgruppen noch am ehesten, wie die Managerin des Hotels Greif in Bozen, Monika Hellriegel, bestätigt:
"Es gibt sicherlich noch viel zu viel nebeneinander. Aber ich glaube, es hängt auch ganz von der persönlichen Einstellung ab. Hier jedenfalls in Bozen oder im Hotel Greif leben wir alle miteinander. Also, da kann sich jeder in seiner Sprache ausdrücken und jeder versteht die andere Sprache. Sicherlich, auch die kulturellen Unterschiede in den einzelnen Menschen sind für uns eher eine Bereicherung als irgendwie ein Konfliktpotenzial."
Rino Zullo, Inhaber der Weinbar Fischbänke ein paar Straßen weiter, mit Strohhut und weißem Spitzbart, unterstreicht den Sonderfall Bozen:
"Bozen ist eine Enklave, ein anderes Gefühl. Südtirol ist Südtirol. Vielleicht wenn du in Flaas bist oder anderes... die Leute sprechen nur Dialekt, weil in Bozen, wir haben kein Problem."
Rino Zullo ist einer der wenigen Italiener, die zu einem Gespräch bereit sind. Meist entschuldigen sie sich mit mangelnden Deutschkenntnissen oder großem Arbeitsanfall. Der oberste Verwaltungsbeamte Italiens in der Provinz Bozen lässt die Interviewanfrage von Deutschlandfunk Kultur mit der Begründung absagen:
"Hiermit wird mitgeteilt, dass der Präfekt ein Interview zum vorgeschlagenen Thema nicht geben will, da dieses Thema nicht zum eigenen Tätigkeitsbereich gehört."
Schließlich sagt Alberto Stenico zu, der beruflich in der Genossenschaftsbewegung aktiv war. Er hat die Zeit erlebt, als man in Südtirol Italienisch beherrschen musste, weil man sonst in den staatlichen Einrichtungen der Provinz nicht verstanden wurde:
„Mit dem Autonomiestatut ist das langsam das Gegenteil geworden. Also die Macht von Rom nach Bozen, von italienischsprachiger Behörde zu deutschsprachiger Behörde, sagen wir. Und deshalb war das für die italienischsprachige Sprachgruppe ein schwieriger Prozess“, sagt er. „Ich merke ein anderes Phänomen, und zwar: ohne einander, jeder für sich. Also, überleben ohne in einer gesamten Kultur Südtirols zu leben, zu arbeiten.“
Löst Europa den Nationalitätenkonflikt auf?
Es ist vielleicht die ungeklärte Frage der Nationalität, die ein einheitliches Südtirol verhindert, wie es der Grünen-Politiker Heiss andeutet:
"Der regionale Resonanzraum deckt sehr vieles ab. Aber man merkt schon, es fehlt mitunter eben das Gefühl der Zugehörigkeit zu einem größeren Zusammenhang, und auch die Sehnsucht danach ist ausgeprägt. Die richtet sich dann fallweise ein wenig auf Deutschland, fallweise ein wenig auf Österreich, aber es ist ein Defizit, das eigentlich durch den Rekurs, vor allem auf die regionale Identität überspielt wird und durch den europäischen Horizont. Das ist gewissermaßen signifikant für die Rolle der Südtiroler, die immer ein bisschen zwischen den Welten schwimmen, in einer Art von Provisorium."
Sie werden wohl zusammenfinden müssen, wie es auch ein Text im Museum von Schloss Sigmundskron nahelegt: Als drei Minderheiten auf gleicher Augenhöhe. Deutschsprachige und Ladiner als Minderheit in Italien und Italiener als Minderheit in Südtirol.
Für Landeshauptmann Arno Kompatscher ist die europäische Lösung jedenfalls das Beste, was Tirol passieren konnte: "Das ist vielleicht die europäische Herausforderung insgesamt, dass man das überwindet, dieses Denken in nationalen Kategorien, in diesen Korsetten. Südtirol könnte dafür ja ein tolles Beispiel sein. Dass man jetzt auch sagt, die Situation ist historisch so entstanden, es braucht aber nicht neuerliche Grenzverschiebungen, um hier allfällige Grenzprobleme zu lösen, sondern es braucht ein Überwinden durch die europäische Idee, durch die Möglichkeiten, die dadurch entstanden sind. Und ich denke, ein Stück weit sind wir auch schon gekommen."
Das Feature von Stefan May ist eine Wiederholung vom 11. September 2019.