"Albert Einstein stellte sich einen Menschen in einem fensterlosen Fahrstuhl vor. Steht der Fahrstuhl auf der Erde, dann fühlt der Mensch, wie ihn die Schwerkraft mit seinem Körpergewicht nach unten drückt. Er steht auf dem Boden des Lifts, statt darin umherzutreiben. Was aber, wenn der Aufzug sich nun in der Schwerelosigkeit des Weltalls befindet und wenn dann ein Raketenantrieb ihn genau mit der Kraft beschleunigt, die dem Körpergewicht seines Gastes entspricht? Dann, so folgert Einstein, würde es den Mann im Lift ganz genau so auf den Boden des Fahrstuhls drücken, und er könnte dann nicht mehr unterscheiden, ob er sich auf der Erde oder im All befindet. Aus diesen Überlegungen formulierte Einstein, dass Schwere und träge Masse gleich groß sind – das Äquivalenzprinzip, der Grundpfeiler der Allgemeinen Relativitätstheorie. Im Folgenden kam er dann zu der verblüffenden Erkenntnis, dass Gravitation entsteht, indem Raum und Zeit durch die Anwesenheit von Masse gekrümmt werden. Eine völlig neue Weltsicht ist geboren, und das allein durch pures Nachdenken."
"Einstein war oft auf dem falschen Pfad"
Heute vor 100 Jahren stellte Albert Einstein seine Allgemeine Relativitätstheorie der Öffentlichkeit vor. Doch was aus seinen Erkenntnissen folgen würde, habe Einstein selbst nicht geahnt, sagt der Wissenschaftshistoriker Jürgen Renn.
Was passiert eigentlich, wenn man vom Dach springt und plötzlich die Schwerkraft nicht spürt? Diese Frage sei für Albert Einstein der Ausgangspunkt seiner neuen Theorie gewesen, sagt Jürgen Renn, Direktor des Max-Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte. Der Grundgedanke: Die Schwerkraft schaffe es, wenn man fällt, die Trägheitskraft aufzuheben. Sieben Jahre habe Einstein noch gebraucht, bis er daraus tatsächlich seine Relativitätstheorie entwickelt hatte.
Es war ein Puzzle, bei dem die Steinchen zusammenpassen mussten
Renn zufolge war das ein mühsamer Weg: "Er war da oft auf dem falschen Pfad. Er hat gerechnet - und da kam nichts bei raus. Da musste man wirklich Ausdauer haben, um dann noch mal von vorn anzufangen." Es sei ein Puzzle gewesen, bei dem die Steinchen auch zusammenpassen mussten: "Dieser neue Grundgedanke, dass die Krümmung von Raum und Zeit etwas mit der Schwerkraft und der Trägheit zu tun haben - das musste ja verbunden werden mit dem, was man bereits aus der klassischen Physik wusste." Am 25. November 1915 sei Einstein schließlich die Lösung gelungen.
Einstein hat vorhandene Erkenntnisse neu gedacht
Einstein habe zunächst nur die Erkenntnisse neu gedacht, die schon vorhanden waren - und erst viel später hätten sich daraus messbare Dinge ergeben. Was aus der Relativitätstheorie folgen würde, war zunächst nicht absehbar: "Heute wissen wir, dass sie die Ausdehnung des Universums beschreibt, dass sie Schwarze Löcher beschreibt, dass sie alle möglichen dynamischen Prozesse beschreibt, die Grundlage der Astrophysik ist. Das konnte Einstein nicht ahnen."
Das vollständige Interview im Wortlaut:
Deutschlandradio Kultur – 100 Jahre Allgemeine Relativitätstheorie
Dieter Kassel: Als Albert Einstein diese Theorie vor genau hundert Jahren in der Berliner Akademie der Wissenschaften vorstellte, da war das das Ergebnis langer Arbeit, allerdings nicht Arbeit, wie man sie sich bei Naturwissenschaftlern so vorstellt. Er verbrachte nicht Tage und Nächte im Labor, sondern hat angeblich einfach nur nachgedacht und kam dann am Ende auf das so genannte
Fahrstuhlexperiment:
Kassel: Kirsten Klümper über Einsteins Fahrstuhlexperiment. Man darf sich tatsächlich fragen, ob Albert Einstein überhaupt im Fahrstuhl stand, als ihm das einfiel, denn angeblich entstand ja die gesamte Relativitätstheorie nur in seinem Kopf. Darüber wollen wir jetzt mit Professor Jürgen Renn sprechen. Der Wissenschaftshistoriker leitet das Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte und ist Autor mehrerer Bücher zu Albert Einstein. Morgen, Herr Renn!
Jürgen Renn: Guten Morgen, Herr Kassel!
Kassel: Einstein sitzt in seinem Patentamt, schiebt als junger Vater den Kinderwagen durch Berliner Parks und denkt dabei nach. Ist wirklich so die Relativitätstheorie entstanden?
Renn: Durch Berliner Parks ist er damals sicher nicht spaziert. Er saß im Patentamt in Bern, in der Schweiz.
Was passiert, wenn man vom Dach springt und die Schwerkraft nicht spürt?
Kassel: In Bern natürlich – Bern/Berlin, immer mein Problem: die Bs.
Renn: Berlin spielt natürlich auch eine Schlüsselrolle, weil die Allgemeine Relativitätstheorie dann schließlich in Berlin vollendet worden ist, und das ist ja der Grund, warum wir heute ihren Hundertsten Geburtstag feiern. Aber in der Tat, die entscheidende Idee ist in Bern entstanden. Er saß damals und dachte darüber nach, was passiert eigentlich, wenn man vom Dach springt und man spürt plötzlich die Schwerkraft nicht. Das sagt ja eigentlich aus, dass die Beschleunigung, die normalerweise ja, auch wenn man sich im Flugzeug beschleunigt beim Start bewegt oder auf einem Karussell beschleunigt wird, spürt man da ja auch eine Kraft, die Trägheitskraft.
Und offenbar schafft es die Schwerkraft, wenn man fällt, dieses Trägheitskraft aufzuheben. Diese beiden Kräfte, die Trägheitskräfte und die Schwerkräfte, sind irgendwie wesensverwandt. Und der Gedanke war deswegen so entscheidend, weil das war, wie bei der Elektrizität und beim Magnetismus, da kann man ja auch sagen, es gibt eigentlich nur ein einheitliches elektromagnetisches Feld. Und so erkannte Einstein auch damals, dass Gravitation und Trägheit ein einziges Feld sind. Aber das war nur der Grundgedanke.
Dann hat er noch sieben Jahre daran gearbeitet, bis dann schließlich die Relativitätstheorie daraus entstand. Und das war nicht nur Nachdenken, sondern es war auch Rechnen. Er musste die neue Idee ja verbinden mit vielen anderen Erkenntnissen der damaligen Physik. Er hat auch viel diskutiert und kooperiert. Er war also nicht ganz so ein einsamer Nachdenker, wie es erst mal immer so scheint.
Die Krümmung von Raum und Zeit hat etwas mit Schwerkraft und Trägheit zu tun
Kassel: Man muss dann aber auch mal sagen, dass sowohl in Bern als auch später in Berlin er aber jetzt tatsächlich nicht nur zum Vergnügen ein paar Gedanken hatte. Sie haben das ja gesagt, es dauerte jahrelang, und es war schon wirklich harte Arbeit, auch mathematische Arbeit?
Renn: Ja. Er war da auch oft auf dem falschen Pfad, hat gerechnet, dann kam nichts dabei heraus, da musste man wirklich Ausdauer haben, um dann noch mal von vorn anzufangen. Es war schon ein Puzzle im Grunde, wo dann die Steinchen auch zusammenpassen mussten. Dieser neue Grundgedanke, dass Raum und Zeit, also die Krümmung von Raum und Zeit etwas mit der Schwerkraft und der Trägheit zu tun haben, das musste ja verbunden werden mit dem, was man bereits aus der klassischen Physik wusste, also etwa mit Newtons Gesetz, nach dem sich die Planeten bewegen und nach dem die schweren Körper auf den Boden fallen. Das musste ja alles miteinander verbunden werden, und das machte eben die Steine des Puzzles aus. Und 1915, am 25. November, gelang Einstein dann schließlich die Lösung.
Kassel: Sie haben ja Beispiele zum Vergleich auch schon gebracht aus der Elektrizität, Strom. Wenn ich da an Volta zum Beispiel denke und seine Frösche und andere – ob sie nun Labore hatten oder das irgendwo im Arbeitszimmer gemacht haben, die anderen haben ja konkret experimentiert. Konnte, wollte, musste Einstein darauf komplett verzichten?
Das einzige Beobachtungsergebnis war eine kleine Drehung der Merkurbahn
Renn: Einstein übrigens hat gern experimentiert. Er war als Student gern im Labor, er hat sogar 1915, in dem Jahr, in dem die Theorie vollendet wurde, selber ein wichtiges Experiment gemacht, das Einstein-de-Haas-Experiment. Das hat etwas mit dem Magnetismus zu tun. Das vergisst man immer, dass er so unglaublich vielseitig war. Aber bei der Allgemeinen Relativitätstheorie hat er in der Tat erst mal nur die Erkenntnisse neu gedacht, die schon vorhanden waren. Und erst relativ viel später ergaben sich daraus messbare Dinge.
Das einzige experimentelle oder genauer gesagt Beobachtungsergebnis, das er hatte, war eine kleine Drehung der Merkurbahn, die sich nach Newtons Gesetz nicht so ergab, wie es sollte. Und die konnte er dann durch die Allgemeine Relativitätstheorie bestätigen. Das war aber zunächst mal nur ein sehr kleiner Hinweis. 1919, also vier Jahre später, kam die Beobachtung der Lichtablenkung im Schwerefeld dazu. Das hat Einstein dann wirklich zu einem Weltstar gemacht, weil das hatte eigentlich niemand vermutet, und das hat sich dann bei einer Sonnenfinsternis-Expedition bestätigt.
Aber auch dann hatte man zunächst mal keine Ahnung, was alles noch aus dieser Theorie folgen würde. Heute wissen wir, dass sie die Ausdehnung des Universums beschreibt, dass sie Schwarze Löcher beschreibt, dass sie alle möglichen dynamischen Prozesse beschreibt, die Grundlage der Astrophysik ist – das konnte Einstein nicht ahnen.
Einstein hatte schon 1905 seine Spezielle Relativitätstheorie entwickelt
Kassel: Er konnte es nicht ahnen. Aber hat er fest daran geglaubt oder hatte er auch Selbstzweifel?
Renn: Nein, für ihn war das wirklich, wie ich schon sagte, eher so die Lösung eines Rätsels, das in der klassischen Physik noch offen blieb. Dieser Gedanke mit dem Fahrstuhl und dem Fallen, das hat ja nicht allein den eigentlichen Anstoß gegeben, sondern er hatte ja 1905 eine Theorie, die Spezielle Relativitätstheorie schon aufgestellt, nach der sich zum Beispiel nichts schneller als das Licht bewegen kann.
Und dann stellte sich die Frage, wie passt denn eigentlich die Schwerkraft da rein? Bewegt die sich schneller als das Licht? Und durch das Nachdenken über diese Frage kam er überhaupt erst mal auf den Gedanken, dass man so vom Dach springt und Schwerkraft und Trägheit, was wir diskutiert haben. Es war eine Verbindung dieses Spezialproblems mit diesem Gedankenexperiment. Es war nicht das Gedankenexperiment allein.
Kassel: Der Wissenschaftshistoriker Jürgen Renn über Einsteins Arbeitsweise, die uns heute mehrfach interessieren wird in diesem Programm, weil vor genau hundert Jahren Albert Einstein seine Allgemeine Relativitätstheorie der Öffentlichkeit präsentiert hat, in Berlin, nachdem er vorher dort und in Bern daran gedacht hat. Herzlichen Dank, Herr Renn!
Renn: Ich danke Ihnen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.