Überfall, Kniefall und eine andauernde Unsicherheit
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Im November 1918 wurde Polen wieder ein eigener Staat: Mit ihrer Kollegin Beata Bielecka spaziert Margarete Wohlan an der Oder entlang. Sie tauschen sich aus über ein dramatisches Jahrhundert deutsch-polnischer Nachbarschaft.
Ich bin wie so oft bei meiner langjährigen Freundin und Journalistin Beata Bielecka zu Besuch. Wir spazieren an der Oder entlang und reden – ich weiß nicht zum wievielten Mal, denn wir kennen uns seit über 20 Jahren – reden also darüber, was sich in Polen und Deutschland so tut.
Margarete Wohlan: "Beata, ihr feiert das ganz schön groß in Polen: eure 100 Jahre Unabhängigkeit, oder?"
Beata Bielecka: "Na ja, das ist wichtig für uns. Das Jahr 1918 war in der polnischen Geschichte ein totaler Umbruch: Nach 123 Jahren Unfreiheit und einer Existenz unter fremder Herrschaft wurde Polen endlich ein freier und souveräner Staat."
Margarete Wohlan: "Okay, ale myślisz, dass jede Regierung in Polen dieses Ereignis so groß begehen würde wie die PiS-Regierung?"
Beata Bielecka: "Ja, obwohl: Ich befürchte, dass die Feierlichkeiten der PiS-Regierung mehr nationalistisch sein werden."
Margarete Wohlan: "A dlaczego macht dir das Sorgen?"
Sorge über wachsenden polnischen Nationalismus
Beata Bielecka: "Aber schau doch: Wenn man betrachtet, welchen weiten Weg der Annäherung Polen und Deutsche hinter sich haben, dann bin ich dagegen, dass die Nationalisten das alles zerstören."
Margarete Wohlan: "Czy twoim zdaniem liegen die Wurzeln des polnischen Nationalismus in den Ereignissen von 1918?"
Beata Bielecka: "Ganz sicher! Die Polen können die Teilungen ihres Landes und die Germanisierung nur schwer vergessen – und deshalb freuten sie sich damals und freuen sich auch heute darüber, dass sie selbstbestimmt leben können!"
Margarete Wohlan: "Hm, to rozumiem! Es ist schon auffallend, wie sehr, sehr weit voneinander entfernt wir waren: die überbordende Euphorie in Polen bei euch – und ein Gefühl der Niederlage und Leere in Deutschland!"
Schwieriger Neustart nach dem Ersten Weltkrieg
Im November 1918 steht das Deutsche Reich als Verlierer des Ersten Weltkriegs unter Schock. Der Kaiser stürzt, die Legende vom Dolchstoß macht die Runde. Dass das im Feld unbesiegte Heer durch die Revolution in der Heimat gemeuchelt worden sei. Bald beginnt die Agitation gegen den sogenannten Schandfrieden von Versailles. Der nicht nur dem Deutschen Reich die Alleinschuld am Ausbruch des Ersten Weltkrieges in die Schuhe schiebt und dem Land eine gewaltige Reparationssumme aufbürdet, sondern auch das Staatsgebiet verkleinert. Im Osten entsteht Polen neu, am 11. November 1918, nach 123 Jahren Teilung unter Österreich-Ungarn, Preußen und Russland.
Es ist ein schwieriger Start. Die Polen müssen nicht nur ihren Staat wiederaufbauen, eine Demokratie gründen, sondern auch das rechtliche Chaos beseitigen, das den Teilungen geschuldet ist: vier verschiedene Justizsysteme und acht unterschiedliche Währungen. Und ein Land, das infolge der drei Besatzungen ungleich entwickelt ist. Mit einer Bevölkerung, die zu 70 Prozent ethnisch polnisch ist. Außerdem: Juden, Ukrainer, Weißrussen und Deutsche. Sehr konfliktträchtig.
Dann ist da noch die Ostgrenze Polens: Sieben Tage, nachdem Polen seine Unabhängigkeit erlangt hat, befiehlt Lenin, die "Operation Weichsel". Er will Polen für sich. Knapp zwei Jahre kämpft die polnische Armee unter Josef Pilsudski dagegen. Im August 1920 kommt es vor Warschau zur entscheidenden Schlacht, die Polen gewinnt und die als "Wunder an der Weichsel" bekannt wird. Erst im März 1921 hat Polen mit dem "Friedensvertrag von Riga" eine offiziell anerkannte Ostgrenze.
Wolfgang Templin studierte zu DDR-Zeiten in Polen und hatte in den 70er-Jahren bereits Kontakte zur polnischen Opposition. Publizist, Philosoph.
"Dann schaffen es die Polen, nicht nur durch das Kriegsende und Versailles, sondern aus eigener Kraft, Entschlusskraft und Energie, wieder einen polnischen Staat zu errichten", meint der heute 70-Jährige, der fließend polnisch spricht.
Erneutes Ende im Zangengriff zwischen Hitler und Stalin
Gerade ist sein Buch "Der Kampf um Polen" erschienen, das von der Gründung der Zweiten polnischen Republik und deren Existenz bis 1939 erzählt:
"Mit dem Anspruch einer demokratischen Republik, einer fortschrittlichen Sozialgesetzgebung, gegen den Willen ihrer unmittelbaren Nachbarn: Und sie halten diesen Staat gegen alle Widerstände und äußeren Bedrohungen über 20 Jahre als wichtigen gesellschaftlichen, politischen, wirtschaftlichen Faktor in Europa durch, um dann im Zangengriff Hitlers, Stalins zu enden."
(Musikeinspielung - Paderewski, Polonez H-Dur op.9)
Eine Musik von Ignacy Paderewski, dem bekanntesten Pianisten der damaligen Zeit und – neben Josef Pilsudski und seinem Gegenspieler Roman Dmowski – der dritte Mann, den man als Architekten der polnischen Unabhängigkeit nennen muss. Ende 1918 wird der begnadete Musiker der erste Premierminister Polens.
Beata Bielecka: "Polen und Deutschland waren ja in komplett unterschiedlichen Situationen. Hat damals, Ihrer Meinung nach, irgendwer überhaupt an eine Partnerschaft zwischen Polen und Deutschland gedacht?"
Wolfgang Templin: "Es gibt eine Handvoll, leider nur eine Handvoll deutsche Verständigungspolitiker auf der liberalen und auch sozialdemokratischen Seite, die aber auf verlorenem Posten standen. Denen standen auf polnischer Seite durchaus kompromissbereite Personen – dadurch, dass der deutsche Abwehrreflex – Polen darf nicht wieder sein – so stark war, hat das auf polnischer Seite diejenigen bestärkt, die sagten, den Deutschen darf man nicht trauen. Es wird nur eine Abgrenzung geben, wir müssen uns mit Stärke gegen die Deutschen durchsetzen. Die minimalen vorhandenen Chancen, die es ja vor 1918 auch schon gab, Kontakte, Verständigungen, sind leider, leider, nicht zustande gekommen."
Flüchtige deutsche Polenbegeisterung verschwunden
Die Zeit, in der freiheitsliebende deutsche Demokraten freiheitsliebende polnische Demokraten bewunderten, ist ferne Vergangenheit. 1832 wehte beim legendären Hambacher Fest die schwarz-rot-goldene Flagge der deutschen Nationalbewegung neben der polnischen Flagge. Polnische Aufständische, die sich kurz zuvor vergeblich gegen die russische Herrschaft aufgelehnt hatten und dann nach Westen geflohen waren, wurden gefeiert.
Aber schon in der 1848er Revolution mischten sich nationalistische und polenfeindliche Töne in die deutsche Demokratiebewegung. Als dann Bismarck 1871 seinen preußisch-deutschen Nationalstaat schuf, verschwand die flüchtige deutsche Polenbegeisterung, und eine Geringschätzung Polens breitete sich aus, die ein Grundzug in den deutsch-polnischen Beziehungen werden sollte.
Das waren keine guten Vorzeichen für das deutsch-polnische Verhältnis, als 1918 der polnische Staat neu entstand. Hinzu kamen die Schwierigkeiten des jungen Staates. Ignacy Paderewski, der nationalbewegte Pianist, der maßgeblich an der Staatsgründung 1918 mitgewirkt hatte und einen weltoffenen polnischen Staat anstrebte, zog sich schnell aus dem politischen Leben zurück und widmete sich wieder der Musik.
Übrig blieben der Nationalist Dmowski und der erfolgreiche Militär Pilsudski, der sich auf den Staat konzentrierte. Pilsudski zog sich zwar vorübergehend aus der aktiven Politik zurück, betrat aber wieder die politische Bühne, als er unzufrieden war mit der instabilen politischen und wirtschaftlichen Lage im Land.
1926 beginnt in Polen die autoritäre "Sanacja"
1926 unternimmt er einen Staatsstreich – unterstützt auch vom linken Lager, von Unternehmern und Grundbesitzern. Er bleibt bis zu seinem Tod 1935 die allgemein anerkannte oberste Autorität im Staat.
Mit dem Maiputsch 1926 beginnt das, was unter dem Begriff "Sanacja" bekannt wird – und was die heutige PiS-Regierung außerordentlich schätzt: die Rechte des Parlaments werden eingeschränkt, die Macht wird zentralisiert. Die Demokratie bleibt auf der Strecke. Was Pilsudski sagt, ist nun Gesetz; der Staat, das ist er. 1935 stirbt er mit 67 Jahren, aber die autoritäre "Sanacja" bleibt.
Auch beim Nachbarn im Westen ist inzwischen die Demokratie weggefegt worden. 1935, im Todesjahr Pilsudskis, führt Hitler die Wehrpflicht wieder ein und startet eine gigantische Aufrüstung. Militärische und wissenschaftliche Strategen haben jede Achtung vor dem östlichen Nachbarn verloren und entwickeln monströse Fantasien mit Vertreibungen und Bevölkerungsverschiebungen, um im Osten für die Deutschen Land zu gewinnen. Am 1. September 1939 folgt der Überfall auf Polen.
Margarete Wohlan: "Was war es denn, worauf die Polen auch heute noch stolz sein können, was sie damals geschaffen haben in diesen 20 Jahren der Unabhängigkeit Polens, des Wiedererlangens der Unabhängigkeit?"
Wolfgang Templin: "Polen hat ein ganz reiches, individuelles Potential an Künstlern, an Wissenschaftlern, an Technikern bereits in den Zeiten der Teilung gehabt, in meinem Buch kommen Leute wie Kwiatkowski, der polnische Staatspräsident, auch ein Sozialist, Wojciechowski, Vater des polnischen Genossenschaftswesens, vor. Nichts davon, also von diesen Erfolgen, rechtfertigt allerdings einen polnischen Hurra-Patriotismus oder Nationalismus, der sagt, alles toll gelungen! Fehler haben nur die anderen gemacht. Polnischer Antisemitismus gehört genau zu dieser Geschichte wie auch die Kapriolen der späten Sanacja-Phase. Hier muss man auf die eigene Geschichte durchaus mit dem Grundton von Stolz so selbstkritisch blicken wie das für Demokraten eigentlich ja eine Tugend sein sollte."
September 1939: der Überfall
Beata Bielecka: "Die deutsch-polnischen Beziehungen waren nie einfach, aber der Tiefpunkt dieses Traumas war zweifellos 1939 – der Überfall der Deutschen auf Polen!"
Margarete Wohlan: "Tak, masz rację. Ich kenne das aus meiner eigenen Familiengeschichte. Mein Großvater mütterlicherseits starb in den ersten Septembertagen 1939 durch eine deutsche Bombe, während mein anderer Großvater in der Wehrmacht war."
Beata Bielecka: "In den Wunden herumzustochern ergibt keinen Sinn. Ich muss an Henryk Rączkowski denken, den ich hier interviewt hab. Die Deutschen brachten während des Zweiten Weltkriegs fast seine ganze Familie um. Er hasste sie so sehr, dass er beschloss, die Sprache des Feindes zu lernen. Mehr noch, er gründete eine deutsch-polnische Senioren-Akademie hier in Slubice – und die, die dort hingingen, trafen sich später auch privat. Deshalb ist mir nicht bange, obwohl auch ich in den 90er-Jahren vom 'Vereinigungskitsch' sprach! Ich glaubte nicht an Versöhnung – heute stimme ich Krzysztof Wojciechowski zu, der von einem 'Wunder der Versöhnung' spricht.
Margarete Wohlan: "Acha, dlatego wolltest du, dass wir auch mit ihm reden!"
Beata Bielecka: "Ja, denn er lebt in Slubice seit den 90ern, kam aus Warschau, um hier die Europäische Universität Viadrina zu gründen. Ich mag es, mit ihm zu reden, denn als Philosoph und Soziologe sieht er vieles, was sich hier so tut, anders."
Dezember 1970: der Kniefall
Krzysztof Wojciechowski: "Das Phänomen der deutsch-polnischen Versöhnung beruht auf zwei Motiven: Zum einen auf der moralisch defensiven Haltung, die spätestens die dritte Generation der Deutschen angenommen hat – wegen der Verbrechen im Zweiten Weltkrieg, und weil sie eine sogenannte Kulturnation sind. Ich selbst erinnere mich, hier an dieser Grenze, bereits nach dem EU-Beitritt Polens, als deutsche Delegationen nach Slubice kamen und ihre Auftritte immer damit begannen, sich zu entschuldigen für alles, was im Zweiten Weltkrieg passiert sei – gleichgültig, ob es um Fahrradwege ging, die Zusammenarbeit der Zöllner oder einen Kongress der Chirurgen. Zum anderen haben die Polen in ihrer Kultur und Mentalität etwas, was dem entspricht: Sie können verzeihen und sie sind empfänglich für große, selbstlose Gesten."
Beata Bielecka: "Hatten solche Gesten wie die Aktion Sühnezeichen oder der Kniefall von Willy Brandt in Warschau für die Polen eine Bedeutung?"
Krzysztof Wojciechowski: "Ja, es gab viele solcher Gesten auf deutscher Seite, die eine Versöhnung anbahnten – auch die Paketaktion während des Kriegsrechts 1981, bei der 90 Prozent aller Pakete aus Deutschland kamen, war wichtig. Dafür gibt es auf der polnischen Seite die entsprechende Offenheit – siehe die Anerkennung der deutschen Minderheit, für die es zwei Sitze im polnischen Parlament gibt, aber auch die Tatsache, dass sie in der Lage sind, den Deutschen den Zweiten Weltkrieg zu verzeihen."
Gesten der Verständigung
Diese Geste des Bundeskanzlers Willy Brandt 1970 bei seinem Staatsbesuch in Warschau berührt die Polen zutiefst. In Westdeutschland empfanden damals knapp 50 Prozent der Befragten die Geste als übertrieben.
Am 12. November 1989 treffen sich der polnische Premier Tadeusz Mazowiecki und Bundeskanzler Helmut Kohl in Kreisau und umarmen sich, was als Beginn einer neuen Entwicklung und Zusammenarbeit gedeutet wird. Heute befindet sich in Kreisau eine Internationale Begegnungsstätte, in der man sich für europäische Verständigung einsetzt.
In Berlin ist gerade die Mauer gefallen. Für das deutsch-polnische Verhältnis ist das ein heikler Moment. Denn dem Mauerfall folgt sehr schnell der Ruf nach deutscher Wiedervereinigung. Plötzlich steht wieder die Frage im Raum: Wird Deutschland die Nachkriegsordnung und ihre Grenzen endgültig anerkennen? Endgültig auf die ehemaligen deutschen Ostgebiete verzichten? Wird auch in Zukunft entlang Oder und Neiße die deutsch-polnische Grenze verlaufen?
In den 50er-Jahren waren die deutsch-polnischen Beziehungen schwierig gewesen, weil die Polen mit Sorge die Entwicklung in der Bundesrepublik beobachtet hatten: ehemalige Nazis, die wieder in der Politik mitmischten, Vertriebene aus den ehemaligen Ostgebieten, die sich mit dem Verlust der ehemals deutschen Ostgebiete nicht abfinden wollten.
Warten auf die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze
Unter größten Mühen setzte die sozialliberale Koalition nach 1969 durch, dass die Grenzen respektiert wurden. Das war ein Fortschritt, aber noch keine völkerrechtliche Anerkennung der deutsch-polnischen Grenze. Deshalb wartete Polen nach dem Mauerfall 1989 ungeduldig auf die endgültige Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze.
In den Jahrzehnten bis 1989/90 hatte sich auf gesellschaftlicher Ebene einiges im deutsch-polnischen Verhältnis entwickelt. Schon in den 50er-Jahren rief die evangelische Kirche dazu auf, die eigene Rolle während des Nationalsozialismus kritisch zu hinterfragen und richtete den Appell an alle Deutschen, die Nationen, die während des Dritten Reichs geschädigt wurden, um Vergebung zu bitten. So entstand die Aktion Sühnezeichen, die praktische Versöhnungsarbeit leistete, nicht zuletzt auch die katholische Opposition gegen das kommunistische Regime in Polen stärkte.
Die DDR hatte auf Geheiß der Sowjetunion schon 1950 die Oder-Neiße-Grenze anerkannt. Aber für Polen war es ein Problem, dass sich der sozialistische Bruderstaat dem sowjetischen Diktat am stärksten unterwarf.
Auf einer anderen Ebene aber entwickelt sich etwas: Bei den DDR-Bürgerrechtlern, die den Mut der polnischen Bürgerrechtler bewundern. Wolfgang Templin erinnert sich gut an die deutsch-polnischen Gemeinsamkeiten in den 1980er-Jahren:
"Das ist meine eigene Erfahrung, unter einer verordneten Freundschaft, die aber eigentlich so eine ideologisch verschleierte Abgrenzung dann doch war, wuchsen ganz andere Kontakte, Beziehungen, und auch diese Einsicht. Mein Freund Ludwig Mehlhorn hat den besten Teil dieser Bemühungen selbst verkörpert: Aktion Sühnezeichen. Ich selber bin dann mit der späten DDR-Opposition in Widerstand – in der immer ein Bewusstsein dafür war, die Unfreiheit ist nicht nur uns auferlegt, sondern trifft die anderen.
Wir haben als Deutsche eine besondere Verantwortung, als in der DDR lebende Deutsche, dass das endlich aufhört, denn erst wenn wir eine Demokratie haben, können wir den Prozess der Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit und der Annäherung an den Nachbarn in der Intensität vollziehen, in der es dann ja auch tatsächlich passierte."
Die ganze Welt kennt die Gewerkschaft Solidarnosc
"Reißt den Mauern die Zähne raus, zerstört die Ketten, zerbrecht die Peitschen. Und die Mauern fallen, fallen, fallen – und begraben die alte Welt."
Das Lied "Mury" – auf Deutsch: Mauern – ist in den 80er-Jahren die Hymne des antikommunistischen Untergrunds in Polen – und Jacek Kaczmarski, der Verfasser und Sänger des Liedes, wird zum Barden der Solidarnosc. Die polnische Gewerkschaft kennt die ganze Welt – innerhalb kürzester Zeit wird sie zur Führungsfigur im Kampf um Unabhängigkeit.
Die Sätze des Elektrikers und Anführers der Solidarnosc, Lech Walesa, die er am 31. August 1980 in der Danziger Werft den Streikenden zuruft, gehen um die Welt:
"Endlich haben wir sie, die unabhängige, selbstbestimmte, freie Gewerkschaft! Wir haben das Recht zu streiken! Und unsere anderen Rechte werden wir uns auch bald holen!"
Polen 1980 – leere Regale in den Geschäften, keine Redefreiheit, politische Gegner, die verhaftet werden. All das führt zu Streiks in ganz Polen, aus denen eine Bewegung entsteht, die nicht nur die Arbeiter, sondern die ganze Gesellschaft erfasst. Im August 1980 hat die freie Gewerkschaft Solidarnosc zehn Millionen Mitglieder.
Die SED-Führung hat Angst vor dem polnischen Freiheitsbazillus und aktiviert antipolnische Ressentiments in der DDR-deutschen Bevölkerung. Sie hofft, damit die eigene Bevölkerung gegen oppositionelle Versuchungen zu immunisieren.
Am 13. Dezember 1981 wird in Polen das Kriegsrecht verhängt. Mehr als 10.000 Aktivisten werden interniert, rund 40 Menschen sterben. Doch die Solidarnosc gibt nicht auf und bleibt eine politische Kraft, die das Regime nicht ignorieren kann. Im August 1988 beginnt die polnische Regierung Gespräche mit der Opposition, weil die Streiks nicht aufhören. Sie führen 1989 zu einem Runden Tisch, an dem zwei Monate lang verhandelt wird – zwischen der Regierung, der Opposition und Vertretern der Kirche.
Aus dem autoritären Sozialismus entsteht Demokratie
Am 5. April 1989 wird das ausgehandelte Abkommen unterzeichnet. Dadurch kann die Opposition mitregieren, aus dem autoritären Sozialismus entsteht eine Demokratie.
Und in der DDR wird die SED ebenfalls vom Aufbegehren der eigenen Bevölkerung überrollt.
Margarete Wohlan: "Die Scorpions, 'Wind of change' – das war damals die Hymne vom Ende des Ostblocks! Obwohl ich damals leider noch in Bielefeld lebte und damit 500 Kilometer von diesen Ereignissen hier entfernt war, leider."
Beata Bielecka: "Und ich bin damals aus Poznan nach Slubice gezogen und hab die Veränderungen gesehen! Als ich viele Jahre später ein Interview mit dem ersten Premier des demokratischen Polen, Tadeusz Mazowiecki, über diese Tage führe, erinnert er sich gut an die Atmosphäre damals: Helmut Kohl war ja auf Staatsbesuch bei uns, als die Mauer fiel. Und Mazowiecki hatte Angst, dass sein Anliegen, die definitive Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze, vergessen wird."
Margarete Wohlan: "Miał rację, bo damals drehte sich bei uns alles um die deutsch-deutsche Vereinigung."
Beata Bielecka: "Und doch, zum Glück, ein Jahr später, nach eurer Vereinigung, trafen sich Kohl und Mazowiecki wieder, und zwar hier, in Frankfurt Oder, und machten die Anerkennung endgültig. Mazowiecki erzählte mir, dass sie in Slubice vom Enthusiasmus der Leute fast erdrückt worden seien."
Margarete Wohlan: "Ale pamiętasz? Als ich 1995 hierher kam, nach Frankfurt Oder, und wir uns kennenlernten, da herrschte eine ziemliche Spannung zwischen den Polen und den Deutschen. Ich erinnere mich an diesen Vorfall damals, der viel Wirbel verursachte, als man polnische Arbeitskräfte für Jobs nach Frankfurt lockte – und sich dann herausstellte, dass das illegal war. Und als dann die Polizisten mit ihren Schäferhunden anrückten, die die Polen auf dem Gelände des Unternehmens festhielten."
Erinnerung an den Brötchenkrieg von Frankfurt/Oder
Beata Bielecka: "Ja, die polnische Presse spielte verrückt und schrieb von einer Atmosphäre wie in Konzentrationslagern. Ich erinnere mich noch an etwas anderes: den Brötchenkrieg."
Margarete Wohlan: "Tak, tak, ja tez pamietam, du und dein Kollege habt als erste darüber geschrieben! Ich erinnere mich noch an den Medienrummel bei uns, darüber, dass eine polnische Bäckerin in Frankfurt Oder bessere und günstigere Brötchen verkauft als die hiesigen Bäcker."
Beata Bielecka: "Ja, ja! Für mich war ein Schock, dass der Chef der Frankfurter Handelskammer die Deutschen damals aufgefordert hat, keine polnischen Brötchen zu kaufen, und sie dann daran erinnerte, dass sie die Hungerjahre nach 1945 nur dank der deutschen Bäcker überlebt hatten!"
Margarete Wohlan: "Ale Beatko, to typowe enerdowskie myślenie.... Die Menschen aus der DDR hatten nicht nur ein Problem mit euch Polen, sondern auch mit uns 'Wessis' – und schließlich wir auch mit ihnen. Ich war ja neun Jahre, als meine Familie aus Polen nach Nordrhein-Westfalen emigrierte, bin also doch 'westsozialisiert'. Erinnerst du dich, wie wir uns kaputtlachten über dieses Buch – ich weiß nicht mehr den Titel –, das die Ehefrau eines westdeutschen Arztes geschrieben hatte, der in Frankfurt/Oder einen Job gefunden hatte."
Beata Bielecka: "Ja, ja, wunderbar! Am besten waren die Leggings aus Polyester, die die Frankfurter Frauen auf dem Slubicer Polenmarkt kauften, und dass sie die Schuhe vor der Wohnungstür abstellten! Das hatte die Frau dieses Arztes zum ersten Mal hier in Frankfurt gesehen."
Völkerverständigung auf dem Markt in Slubice
Der Polenmarkt in Slubice ist einer der ersten, der vor 27 Jahren an der deutsch-polnischen Grenze entstand und bis heute existiert. Auf 16.000 Quadratmetern stehen 420 Verkaufsstände mit einem großen Parkplatz nebenan – denn 90 Prozent der Kunden kommen aus Deutschland. Es ist eine Stadt in der Stadt und einer der größten Arbeitgeber in dem 20.000 Einwohner großen Slubice.
Pawel Slawiak ist seit über 20 Jahren Händler auf dem Polenmarkt in Slubice. Wir treffen den 55-Jährigen dort, fragen ihn, wie es damals war, in dieser Grenzregion.
"Die ersten Jahre nach der Grenzöffnung wurden wir mehr kontrolliert als die Deutschen", erzählt Pawel Slawiak. "Es gab da viele unangenehme Situationen. Wir hatten den Eindruck, dass sie uns peinlichst genau kontrollierten, als wollten sie etwas finden. Es entstanden lange Schlangen. Irgendwie wurden die Polen immer kontrolliert – und die Deutschen nie."
Beata Bielecka: "Können Sie sich erinnern, dass ein polnisches Auto mit Steinen beworfen wurde? Das waren ja nur Einzelpersonen – aber Frankfurt hat lange danach noch alles versucht, ein positives Bild von sich zu zeigen. Ich erinnere mich gut an die Kampagne: FF – gemeint war: Freundliches Frankfurt. So sehr wollten sie weg von dem Image."
Das waren die 90er-Jahre – heute leben wir in einer anderen Welt. Zumindest an der deutsch-polnischen Grenze. Beata und ich spazieren mit Pawel Slawiak über den Polenmarkt in Slubice: zig Stände mit Schuhen, Jeans, Handyzubehör, Zigaretten, mit polnischen Würsten und Käse. Nebenan kann man zu Mittag essen, daneben sich die Haare schneiden lassen. Und immer wieder hört man Deutsch in Slubice.
Pawel Slawiak: "Ja, so ist es. Das war uns auch wichtig, die Deutschen sollen gern herkommen. Dafür machen wir viel. Einige kenne ich so gut, dass, wenn sie kommen, sie schon von weitem winken: Hallo Pawel, hallo Hans! Andere Händler hier treffen sich auch privat mit ihren Kunden, besuchen sich gegenseitig. Insofern sind wir aus der Phase des reinen Business in eine Phase getreten, wo zwischenmenschliche Kontakte zählen."
Wir schlendern mit Pawel Slawiak über den Markt in Slubice, reden darüber, wie wichtig Märkte sind, um Menschen zusammenzubringen, und hören einem Akkordeonspieler zu, der für eine entspannte Atmosphäre inmitten des geschäftlichen Treibens sorgt.
Singen gegen Kaczynski und die PiS
"Angst. Angst. Oh mein Gott, wohin führt die PiS unser Land? Stop. Stop. Um Himmelswillen! Gebt uns wieder, was ihr genommen habt. Baut auf, was ihr kaputt gemacht habt."
Beata Bielecka: "No niestety Malgosiu, das ist die heutige Realität: Dieses Lied singen sie heute auf den Demos gegen Kaczynski und die PiS."
Margarete Wohlan: "Ale to jest tak wie bei uns mit der AfD, der Nationalismus ist ja weltweit auf dem Vormarsch."
Beata Bielecka: "Ja, aber hättest du das gedacht? Hättest du dir je vorstellen können, dass in einem Land wie Polen, wo Hitler soviel verbrochen hat, Neofaschismus entstehen würde?"
Margarete Wohlan: "Absolut nie, nie, aber ich hätte mir auch nie vorstellen können, dass in Deutschland nach dem, was Hitler verbrochen hatte, je wieder dieser Nationalismus aufleben würde. Wohin soll das alles nur führen?"
Beata Bielecka: "Na ja, das ist die Frage."