100 Jahre deutsche Fußball-Länderspielgeschichte

Moderation: Jürgen König |
Am 5. April 1908 spielte Deutschland sein erstes offizielles Fußball-Länderspiel gegen die Schweiz. Aus diesem Grund startet der Deutsche Fußball-Bund eine Wanderausstellung mit dem Titel "Die ersten Elf". Zu der Länderspielgeschichte äußerten sich der Historiker Daniel Küchenmeister und der Publizist Thomas Schneider.
Jürgen König: Am 5. April 1908 wurde Bette Davis geboren, wurde Herbert von Karajan geboren und auf dem Sportplatz Landhof des FC Basel, da spielte Deutschland sein erstes offizielles Fußball-Länderspiel gegen die Schweiz. Vor 100 Jahren also war das. Der Deutsche Fußball-Bund hat dazu eine Ausstellung organisiert, die heute Abend in Frankfurt am Main eröffnet wird. Organisiert haben diese Ausstellung zwei leidenschaftliche Sammler von Fußballreliquien aller Art: der Historiker Daniel Küchenmeister und der Publizist Thomas Schneider, jetzt unsere Gäste. Schön, dass Sie bei uns sind.

Daniel Küchenmeister/Thomas Schneider: Hallo, wir freuen uns.

König: Meine Herren, das Länderspiel 1908, Deutschland gegen die Schweiz, die Deutschen verloren drei zu fünf. Die klassische Frage nach einem Spiel: Woran hat’s gelegen? Herr Schneider.

Schneider: Der Platz war schuld, würde ich als Erstes … nein. Es hat an verschiedenen Faktoren gelegen. Zum einen war es so, dass die deutsche Mannschaft natürlich nicht so eingespielt war, wie man sich das aus heutiger Sicht wünschen würde. Zum anderen, und das ist verschiedentlich beschrieben, waren einzelne Spieler nicht auf der Höhe ihrer sonstigen Spielstärke. Zum Dritten aber, und das dürfte der entscheidende Faktor gewesen sein, hat also zumindest das Schweizer Fußballfachblatt "Football Swiss" im Nachhinein geschrieben, fehlte den Deutschen die nötige Begeisterung.

König: Den Spielern?

Schneider: Den Spielern, was aber damit zusammenhängen mag, dass man noch nicht mit Enthusiasmus an diese Aufgabe herangehen konnte, weil es ja ein neues Unternehmen war, eine Pioniertat, irgendwie überhaupt ein Länderspiel stattfinden zu lassen.

Küchenmeister: Ich glaube, wir sollten auch nicht vergessen, dass offensichtlich die Schweiz damals ein starker Gegner war. Die Zeiten haben sich geändert, der Funke des Fußballs von der britischen Insel sprang zuerst in der Schweiz nach Europa, sozusagen auf das Festland über. Und es waren große Sportler.

König: Wenn Sie sagen, den Deutschen fehlte die Begeisterung – ich habe dieses wunderschöne Zitat von Fritz Becker gefunden in einem Zeitungsartikel der "Frankfurter Rundschau" zum 90. Jahrestag dieses Spiels, Fritz Becker schoss das erste deutsche Länderspieltor, und er beschreibt in diesem Artikel, also in einem Interview, wie er sich zwölf Goldmark einen Smoking ausleihen musste, wie er zum Kleiderappell kommen musste, Zitat: Wichtig war, wie wir uns beim Bankett verhalten sollten (also er meint das Bankett nach dem Spiel). Vom Spiel selbst, der Taktik usw. wurde nicht gesprochen. Wie kann man sich ein Länderspiel 1908 vorstellen? Ich vermute mal, und dieses Zitat legt es nahe, mit heutigen Maßstäben nicht zu vergleichen, in gar nichts.

Schneider: Zunächst mal muss man feststellen, Fritz Becker war ein Schalk, er hat einen Bericht verfasst über dieses erste Länderspiel, auch über die Begleitumstände, mit einer zeitlichen Verzögerung von über 50 Jahren. Und im Rückblick mag sich da aus seiner Sicht vieles anders und etwas verklärt dargestellt haben. Sicherlich waren die Umstände, auch aus dem Jahr 1960 heraus betrachtet, irgendwie dann doch sehr abenteuerlich, unter denen es 1908 zum ersten Länderspiel gekommen war. Man muss aber, denke ich, historisch gerecht verfahren mit den Funktionären des DFB und auch mit den Spielern. Beispielsweise dieses Bankett, das Sie ansprachen, das war für den DFB, der sich zum ersten Mal auf dieses internationale Parkett begab, irgendwie eine wichtige Angelegenheit, weil man mit diesem Länderspiel auch die Anbahnung internationaler Kontakte verstand, also mit der Schweiz speziell und auch allgemein mit den europäischen Nachbarländern. Man war also hier darauf bedacht, durchaus auch irgendwie im Rahmen dieser Reise freundschaftliche Beziehungen aufzubauen. Und das ist, denke ich, auch gelungen. Dass dann Fritz Becker, der ja als junger Mann von 19 Jahren irgendwie an dieser Reise teilnahm, dass er das als großes Abenteuer empfunden haben muss und im Nachhinein eher die etwas kuriosen Aspekte hervorhob, das kann man ihm sicherlich nachsehen.

Küchenmeister: Das war, glaube ich, schon ein Abenteuer für die Jungs. Die Spieler reisten alleine, bekamen eine Fahrkarte, bekamen eigene sozusagen Spesen ausgehändigt. Und in Basel trafen dann alle, so wie wir sie dann als erste Elf kennen, tatsächlich zusammen.

Schneider: Die Spieler kannten sich zum Teil schon untereinander, natürlich aus den Meisterschaftsspielen in ihrem jeweiligen Landesverband. Und beispielsweise der gesamte Innensturm und der Mittelfeldregisseur stammten aus dem süddeutschen Raum und kannten sich untereinander und haben dann in dem Spiel auch so etwas wie Taktik praktiziert, indem sie sich untereinander absprachen und überlegten, wie denn am besten das Schweizer Abwehrbollwerk zu überwinden sei.

Küchenmeister: Wir sind, als wir angefangen haben, uns mit dem Thema zu beschäftigen, auch von jenem sogenannten Becker-Bericht ausgegangen. Wir haben ähnlich gedacht wie lange, lange Zeit die meisten Historiker und Publizisten, die sich mit diesen frühen Jahren des deutschen Fußballs auseinandergesetzt haben, und wir konnten aber aufgrund der Recherchen zu anderen Ergebnissen kommen. Während viele Historiker, Publizisten und Fußballfans die Ereignisse vor dem Ersten Weltkrieg, speziell auch das Spiel von 1908, aus heutiger Perspektive betrachten, und dann muss natürlich alles komisch daherkommen, waren wir der Meinung, wir versuchen zu analysieren, anhand von Dokumenten, von Objekten, von Erinnerungen, Zeitungsartikeln usw. usf., welcher Entwicklungsstand damals erreicht war. Und insofern war das Länderspiel von 1908 ein wesentlicher Punkt in der Entwicklung des DFB, in der Entwicklung des deutschen Fußballs, denn jetzt stand man tatsächlich auf dem internationalen Rasen.

König: Ich habe versucht, mich an die nationale Begeisterung zu erinnern, soweit man sie aus Büchern kennt und nachvollziehen kann, die im Wilhelminischen Deutschland von 1907/1908 geherrscht hat, und war erstaunt, in den Unterlagen des DFB eine Aussage, ein Statement des damaligen zweiten Vorsitzenden Fritz Boxhammer zu finden, der formulierte, Zitat: In dieser internationalen Betätigung des Sports liegt ein außerordentlich wichtiges Moment zur Überbrückung politischer und nationaler Gegensätze. Und in diesem Sinn ist der Sport eine der erfolgreichsten Förderer der Friedensidee. Dass auch der Fußballsport diese Tendenz verfolgt, wissen wir alle, dass der DFB, seine Verbände und Vereine an ihrem Teil sich dieser wichtigen internationalen Kultur und Friedensaufgabe stets bewusst sein mögen, das ist unser aller aufrichtiger Wunsch. Zitat Ende. Ich fand, das war ein erstaunlich friedfertige, auf Ausgleich bedachter Text. Spiegelt er die Gestimmtheit des DFB der Jahre 1907/8 wider?

Schneider: Ja, zweifelsfrei. Das ist ein Zitat aus einem gewissermaßen offiziellen Protokoll, veröffentlich im DFB-Jahrbuch. Das war der Geist von 1907 und 1908.

König: Das ist doch erstaunlich, wenn man das Drumherum bedenkt, hier so eine …

Schneider: Ja, es ist erstaunlich, und es hat uns auch überrascht, es in einer solchen Klarheit zu finden in den Dokumenten. Und auch der DFB, die Funktionäre waren sehr erfreut, in ihren eigenen Dokumenten solche Aussagen zu finden. Und es gab dann sogar die Antwort, die wir bekamen, ja, das würde Herr Zwanziger mit anderen Worten, aber genau heute so schreiben.

König: Also Theo Zwanziger, der heutige DFB-Präsident?

Schneider: Ja, genau. Wir müssen Folgendes sehen: Der DFB war immer eine Sportorganisation, nie eine Partei. Es gab im Deutschen Fußball-Bund verschiedene Fraktionen, einmal die Internationalisten wie Boxhammer oder Walter Bensemann. Es gab natürlich auch andere Kräfte, die eher nationalistische und gar militaristische Töne angeschlagen haben. Uns ist wichtig zu formulieren, wie war der Geist des ersten Länderspieles am 5. April 1908. Und das war das Credo.

König: Wie war damals das Verständnis von solchen Begriffen wie Nationalstaat, Nationalmannschaft, Nationalspieler?

Küchenmeister: Auch wenn man in heutigen Zeiten von der Nationalmannschaft spricht, klingt es ja gerne so, als wäre die Mannschaft so etwas wie ein hoheitliches, also ähnlich wie eine Nationalfahne oder ???

König: Der Bundestrainer gleich der nächste Mensch nach dem Kanzler.

Küchenmeister: Richtig, und …

Schneider: Das ist eine Fehlinterpretation.

Küchenmeister: Nein, in der Tat ist es ja so, das darf man nicht vergessen, diese Nationalmannschaft ist nichts anderes als eine Auswahl des Deutschen Fußball-Bundes. Sie repräsentiert natürlich die besten Spieler eines Landes, aber beispielsweise in den Zwanzigerjahren, das vielleicht als kurzer Exkurs, war es ja so, dass es verschiedene Nationalmannschaften gab, nämlich auch der Arbeiter, also da gab es noch mal verschiedene Nationalmannschaften, die auch Länderspiele absolvierten. Zu der Zeit vor 1914 war es so, dass man sehr wohl sich dessen bewusst war, dass die Mannschaft als repräsentativ wahrgenommen werden würde. Und das hat den DFB auch dazu gebracht, eben auf solche vermeintlichen Äußerlichkeiten wie eben das Auftreten der Spieler beim Bankett sehr wohl bedacht zu sein und das mit Sorgfalt vorzubereiten. Auch das mag man aus heutiger Sicht belächeln, aber ich erinnere nur daran, zu jedem internationalen Turnier wird auch heute noch die DFB-Auswahl eingekleidet, auch Michael Ballack wird im Vorfeld der EURO 2008 wieder im feinen Zwirn erscheinen. Also man wusste auch damals schon sehr wohl, wie sehr es drauf ankommt, einen guten Eindruck zu hinterlassen, um die freundschaftlichen Beziehungen – Sie hatten das Zitat ja erwähnt –, um die aufzubauen und zu pflegen. Man maß dem eine gewisse Wichtigkeit bei, weil man sich der Rolle des Fußballs als Botschafter in gewisser Weise bewusst war.

Schneider: Gegen nationalen Geist, glaube ich, ist auch nichts einzuwenden. Nationalismus ist das Problem. Und der Geist von 1908 findet sich bei Boxhammer wieder in dem von Ihnen auch erwähnten Zitat. Man muss dann genauso ehrlich feststellen, dass der Ton, sowohl der nationalistische Ton als auch der Geist des Militarismus in den späteren Jahren auch in den Organen des DFB deutlich schärfer wird, regelrecht unangenehm. Und der DFB stellte sich nicht gegen den Geist der Zeit. Es gibt dafür verschiedene Gründe, ein Grund ist, dass er natürlich in dieser Zeit wuchs, dem Militär, in dem Sinne auch dem Militarismus auch das eine oder andere zu verdanken hatte. Es ist tragisch, dass auch von diesen ersten Elf dann Leute in den Krieg ziehen müssen beziehungsweise freiwillig in den Krieg ziehen. Der Delegationsleiter Dettinger meldet sich mit 38 Jahren kriegsfreiwillig und wird nach wenigen Monaten im Januar 1915 verschüttet beziehungsweise fällt dort. Und einer der wichtigsten Spieler der Vorkriegszeit, Eugen Kipp, wird so schwer verletzt, dass er oberhalb des Knies amputiert werden muss. Also das zeigt, wie schwierig die Entwicklung des DFB insgesamt immer war und wie wichtig es auch sein wird, die einzelnen Phasen beziehungsweise die einzelnen Fraktionen innerhalb dieser Sportorganisation genau zu untersuchen.

König: Der Geist von 1908. Vor 100 Jahren spielte Deutschland sein erstes Fußball-Länderspiel. Ein Gespräch mit dem Historiker Daniel Küchenmeister und dem Publizisten Thomas Schneider. Ihre Ausstellung für die DFB-Kulturstiftung "die ersten 11" wird heute Abend im Eintracht-Museum in Frankfurt am Main eröffnet, wird danach zu sehen sein in Köln, Karlsruhe und Berlin und bei allen Heimspielen der deutschen Fußball-Nationalmannschaft. Wer wird Europameister 2008?

Schneider: Deutschland.

Küchenmeister: Da will ich mich nicht festlegen. Wir sind so was wie Fußball-Archäologen, und wir haben …

König: Wagen Sie einen Blick in die Zukunft, Herr Küchenmeister.

Küchenmeister: Ich habe Hoffnung. Ich glaube, …

König: Sagen Sie’s!

Küchenmeister: Ich hoffe für Deutschland.