Als der Reichstag am 11.August 1922 seine Feier zum dritten Jahrestag der ersten deutschen demokratischen Verfassung abhielt, befand sich die junge Republik in aufgewühlter Stimmung.
Dritter Jahrestag der republikanischen Verfassung
Für die Verfassungsfeier wurde dieses Mal der Reichstag von Reichskunstwart Edwin Redslob, einem Kunsthistoriker und Museumsmann, besonders hergerichtet.
Redslob, übrigens viele Jahre später Herausgeber des Berliner „Tagesspiegel“ und Mitgründer Freien Universität Berlin, kümmerte sich in der Zeit der Weimarer Republik um die „künstlerische Formgebung des Reichs“, also um Entscheidungen über staatliche Symbole wie Staatswappen, Fahnen, Staatsfeiern nicht zuletzt auch um die bewegende Trauerfeier für den ermordeten Außenminister Rathenau im Reichstag – und am 11. August um den Verfassungstag.
Meterhohe weiße Lettern umrahmten das Rednerpult, sie zeigten das Motto „Einigkeit und Recht und Freiheit“: die Anfangsworte der dritten Strophe des Gedichts von Hoffmann von Fallersleben aus dem Jahr 1841.
Bis zu diesem 11. August 1922 gab es bei feierlichen Terminen der Weimarer Republik kein offizielles Lied, keine Hymne. Am Tag zuvor jedoch hatte Reichspräsident Friedrich Ebert zu erkennen gegeben, das ändern zu wollen.
„Nach dem Mord an Rathenau, am 24. Juni ist der Außenminister ja bestialisch ermordet worden, da war der Moment gekommen, auch für die Ministerialbürokratie zu sagen, wir brauchen jetzt ein einigendes Lied der Deutschen. Und da ist man auf das Lied der Deutschen zurückgefallen“, erklärt Walter Muehlhausen.
Eberts Vorsicht in der Hymnenfrage
Der Darmstädter Historiker und Geschäftsführer der Friedrich-Ebert-Stiftung, Professor Walter Muehlhausen, ist der Ebert-Spezialist. Für eine monumentale wissenschaftliche Abhandlung über Friedrich Ebert hat er in rund 40 Archiven recherchiert und unter anderem mehr als 100 Nachlässe konsultiert.
Reichspräsident Friedrich Ebert zuckte noch am Verfassungstag von 1922 vor dem Wort Nationalhymne zurück.© imago images / United Archives International
Ebert sei in der Hymnenfrage zunächst vorsichtig gewesen, sagt Muehlhausen.
Er hat es nicht gleich als Nationalhymne bezeichnet. Er hat auch keine Rede gehalten, sondern eine Proklamation erlassen. Und dann ein paar Tage später hat er für die Reichswehr angeordnet, dass dieses Lied als Hymne gespielt und gesungen werden sollte.
Man muss natürlich auch wissen, dass es schon den ersten Vorstoß von Reichswehrminister Otto Geßler 1920 gegeben hat: Wir brauchen so etwas für die offiziellen Anlässe. Wir brauchen eine Nationalhymne. Warum machen wir das denn nicht?
Walter Muehlhausen
Ebert reagierte auf die Forderung spät, zuckte auch noch am Verfassungstag von 1922 vor dem Wort Nationalhymne zurück und blieb, rechtlich gesprochen, zunächst unverbindlich.
Es hatten wohl noch diplomatische Bedenken ausgeräumt werden müssen wegen der übergriffigen Deutschlandbeschreibung im Lied, von der Maas bis an die Memel von der Etsch bis an den Belt, das fanden die angrenzenden Nachbarstaaten nicht so lustig.
Der Text des Präsidenten zum Lied der Deutschen, der dann auch Grundlage einer kurzen Ansprache wurde, datiert vom 10. August, dem Vorabend des Verfassungstags.
Ebert betonte zunächst die Werte und Ziele der Demokratie, die in der dritten Strophe besungen werden.
„Einigkeit und Recht und Freiheit! Dieser Dreiklang aus dem Liede des Dichters gab in Zeiten innerer Zersplitterung und Unterdrückung der Sehnsucht aller Deutschen Ausdruck; es soll auch jetzt unseren harten Weg zu einer besseren Zukunft begleiten.“
Ebert warnte ausdrücklich vor aggressivem Chauvinismus.
„Ein Lied gesungen gegen Zwietracht und Willkür soll nicht Missbrauch finden im Parteikampf, es soll nicht der Kampfgesang derer werden, gegen die es gerichtet war, es soll auch nicht dienen als Ausdruck nationalistischer Überhebung.“
Er warnte vor dem Missbrauch des Deutschlandlieds, insbesondere durch die anstößige erste Strophe, zog aber daraus keine weiteren Folgerungen.
„So, wie einst der Dichter, so lieben wir heute ‚Deutschland über alles‘. In Erfüllung seiner Sehnsucht soll unter den schwarz-rot-goldenen Fahnen der Sang von Einigkeit und Recht und Freiheit der festliche Ausdruck unserer vaterländischen Gefühle sein.“
„Deutschland über alles“ – die Problemformel
Heute fragt man sich: Kann der Mann an der Staatsspitze im Jahr 1922, nach der aggressiven wilhelminischen Epoche, in der die Welt in Flammen aufging, und angesichts des Terrors der nationalistischen Freischärler ernsthaft noch mal so harmlos wie Hoffmanns Zeitgenossen 80 Jahre zuvor „Deutschland über alles“ singen lassen?
Die Problemformel „Deutschland über alles“ kommt im Vers ohne dazugehöriges Satzprädikat daher und hat sich als sehr ausdeutbar erwiesen.
„Die Rhetorik nennt so etwas ‚elliptisches Sprechen‘, wenn also bestimmte Wörter oder Satzteile ausgelassen werden. Das dient der Verdichtung und damit auch der Intensivierung. Es führt aber auch dazu, dass dieser Text und vor allem diese erste Zeile sehr interpretationsoffen ist, je nach Kontext und Annahmen des Interpreten oder Lesers“, erklärt der Mannheimer Literaturwissenschaftler Ulrich Kittstein.
Wir müssen berücksichtigen, dass es damals eben ein Deutschland als politisch geeinten Staat noch nicht gab. Deswegen halte ich es für wahrscheinlich, dass Hoffmann hier ungefähr ausdrücken wollte die Idee eines einigen Vaterlandes, die ist mir wichtiger als alles andere in der Welt. Großmacht, Weltmachtpolitik oder Derartiges kann er zu dem Zeitpunkt schwerlich im Sinn gehabt haben…
Das heißt also, dass das Gedicht in seiner Entstehungszeit einfach den liberalen Kerngedanken, die Kernidee eines geeinten Vaterlandes ausdrückte, das die traditionelle deutsche Kleinstaaterei überwinden sollte und man sich das durchaus mit einer liberalen demokratischen politischen Ordnung verbunden vorstellte.
Ulrich Kittstein
Ein ursprünglich freiheitlich liberales Lied
Dem ursprünglich freiheitlich liberalen Lied widerspricht nicht, dass das Gedicht auf die Melodie der alten österreichische Kaiserhymne von Haydn gesetzt worden ist.
„Zum einen hat sich Hoffmann von Fallersleben damit sicherlich die Popularität dieser Kaiserhymne zunutze gemacht. Die Melodie war bekannt, man konnte sein Gedicht sofort darauf singen. Zum anderen hat er aber sicherlich ganz pointiert einen Gegengesang geschrieben“, erklärt Ulrich Kittstein.
Und weiter: „Hier wird eben nicht mehr ein kaiserliches Oberhaupt verherrlicht, sondern hier singen die Deutschen und verherrlichen eben das Volk – von einem Oberhaupt, einem Herrscher, ist nicht mehr die Rede, er spricht nur vom Kollektiv des Volkes, des männlichen Volkes muss man allerdings sagen. Das zeigt die zweite Strophe ja, dass die Frauen nicht als politische Subjekte gelten. Das ist wiederum etwas, solche Gedankenwelt unterscheidet sich ganz entschieden von unserer.“
Der Text von August Hoffmann von Fallersleben sei sehr interpretationsoffen, erklärt Ulrich Kittstein.© Jürgen Diener / dpa
Das zunächst harmlose Deutschlandlied bekam wachsende Popularität langsam erst nach 1871, als nach dem Sieg über Frankreich der Deutsche Kaiser ausgerechnet in der Feierstube der Franzosen, im Spiegelsaal von Versailles, gekrönt worden ist.
Nun münzten die großspurigen Chauvinisten in Kaiserlaune die erste Zeile „Deutschland, Deutschland über alles“ in einen Triumphgesang über alle bekriegten Völker um. Der passte jetzt gut zu imperialistischen Gedanken und kolonialistischen Kriegszügen.
Fake News, die einen Mythos stiften
Und im Ersten Weltkrieg kam endgültig ein zweifelhafter Durchbruch für das „Deutschland, Deutschland über alles“-Lied: durch – neumodisch formuliert – Fake News der Obersten Heeresleitung.
Am 11. November 1914 gab diese eine Gefechtsmeldung bekannt, mit der sie einen Mythos stiftete, der fortan nicht nur bei militaristischen Republikfeinden, sondern bis tief hinein in konservative bürgerliche Kreise jahrzehntelang populär war:
„Westlich Langemarck brachen junge Regimenter unter dem Gesange ‚Deutschland, Deutschland über alles‘ gegen die erste Linie der feindlichen Stellungen vor und nahmen sie. Etwa 2000 Mann französischer Linieninfanterie wurden gefangen und sechs Maschinengewehre erbeutet.“
Verschwiegen hatten die Oberbefehlshaber in ihrem Kommuniqué jedoch, dass bei dem Angriff im belgischen Flandern auch mehr als 2000 unerfahrene deutsche Soldaten im Abwehrfeuer von Franzosen und Briten verheizt worden waren.
Und übrigens: Die jungen Soldaten hatten gar nicht gesungen – und schon gar nicht bei Langemarck. Eigentlich hatte die verlustreiche Attacke beim belgischen Bikschote stattgefunden, ein für deutsche Zungen schlecht aussprechbarer Ortsname.
Von rechtsnationalistischen Kreisen vereinnahmt
Nach 1918, als Ebert plante, das Deutschlandlied zur Nationalhymne zu erheben, war ihm die Vereinnahmung des Deutschlandliedes vor allem durch rechtsnationalistische Bevölkerungskreise durchaus klar.
„Er wusste, was die erste Strophe bedeutet, natürlich war er sich bewusst, dass dieses Deutschlandlied vor allen Dingen auch in sozialdemokratischen Ohren keinen guten Klang hatte. Natürlich war er sich bewusst, dass dieses Lied mit der Langemarck-Legende verknüpft war, wo dann unter Singen dieses Liedes sich Studenten und Schüler in den Tod gestürzt haben im Ersten Weltkrieg, dessen war er sich schon bewusst“, sagt Walter Muehlhausen.
Aber er hat auch gesehen, dass dieses Lied die unterschiedlichen Befindlichkeiten von allen zufriedenstellen konnte: Einigkeit und Recht und Freiheit für die Sozialdemokraten und das bisschen andere für die, die noch der Monarchie nachtrauerten oder die Republik hassten. Seht her, ihr könnt auch in der Republik groß werden.
Walter Muehlhausen
Aussichtsloser Versuch eines Brückenschlags
Für den Mannheimer Literaturwissenschaftler Ulrich Kittstein war ein solcher symbolischer Brückenschlag zum Scheitern verurteilt.
„Im Grunde genommen hat sich Ebert mit dieser Maßnahme wohl zwischen alle Stühle gesetzt. Es war aussichtslos, die rechtsnationalistischen Kreise an die Republik heranführen zu wollen. Und auf der linken Seite des politischen Spektrums bestanden wiederum nach der Rezeptionsgeschichte dieses Gedichts verständlicherweise erhebliche Vorbehalte gegen das Lied der Deutschen. Es bleibt eben tatsächlich das Kuriosum, dass ausgerechnet ein Sozialdemokrat damals, 1922, diesen merkwürdigen Versuch unternommen hat“, sagt er.
Walter Muehlhausen erklärt: „Es ging ihm um so etwas, und das ist jetzt nicht nationalistisch verbrämt, wie eine Volksgemeinschaft der Republikaner. Oder, um es moderner zu sagen, der Demokraten.“
Man muss sich Eberts harten Gang durch die hochnervöse Gründungsphase für Deutschland vergegenwärtigen. „Also es war kein glatter Aufstieg, vor allen Dingen nicht seit dem 9. November 1918, an dem er Reichskanzler wurde, dann drei Monate später zum ersten Reichspräsidenten gewählt wurde.“
Am 9. November 1918 hatte des Kaisers letzter Reichskanzler Prinz Max von Baden auf eigene Faust die Abdankung des immer noch zögernden Kaisers bekannt gegeben und seine Amtsgeschäfte dem Sozialdemokraten Friedrich Ebert übertragen. Und die Republik wurde zwei Mal ausgerufen.
Start in die Republik mit Unruhen und Gewaltexzessen
„Das alte Morsche ist zusammengebrochen. Es lebe das Neue, es lebe die deutsche Republik“, vom Sozialdemokraten Philipp Scheidemann am Reichstag und von Karl Liebknecht, der dem linken Spartakusbund angehörte, zwei Stunden später am Berliner Schloss.
Es folgten Unruhen und Gewaltexzesse, nationalistische Freikorps richteten Blutbäder an, weshalb die gewählte Nationalversammlung nicht in Berlin zusammentrat, sondern nach Weimar auswich und dort die Verfassung verabschiedete und Friedrich Ebert zum neuen Reichspräsidenten wählte.
„Das war also wirklich die Hochzeit der Revolution. Es ging da wirklich um das Überleben, nicht nur der Nation, sondern auch des Einzelnen. Er ist derjenige, der das Reich, das darniederliegende Reich, mit seinen vielfältigen Problemen in die Republik geführt hat, auch gegen Widerstände von links und rechts“, erklärt Walter Muehlhausen.
Letztendlich war er als Reichspräsident, so hat er es mal dann gesagt, als er das Amt übernommen hatte, ein Präsident aller Deutschen. Unter diesem Aspekt hat er dieses Lied dann als Nationalhymne deklariert, weil er glaubte, dass sich unter diesen Worten die Einheit herstellen ließe im Reich.
Eine Einheit zwischen denjenigen, die aus der Monarchie gekommen und der auch noch verhaftet gewesen sind, und denjenigen, die die Republik wollten: also das eigene Klientel der Sozialdemokratie.
Walter Muehlhausen
Eine neue Vision von Einigkeit
„Dieses Bedürfnis oder die neue Vision von Einigkeit und Recht und Freiheit, das ist genau die Geschichte dieser Hymne“, sagt die Konstanzer Politik- und Kulturwissenschaftlerin, die Professorin Aleida Assmann. Sie befasst sich unter anderem mit Erinnerungskultur, die mit kollektiven Erlebnissen, Erinnerungen und ihren Deutungen das Selbstverständnis von Nationen abbildet.
Aleida Assmann nennt Napoleon als Inspirator der deutschen Freiheitsbewegung in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts, der auch Hoffmann von Fallersleben, der Hymnenautor, anhing. Napoleon, der große Eroberer und Überbringer der Menschenrechtsideen der Französischen Revolution, Befreier und Besatzer zugleich.
Sein epochemachendes Rechtsbuch für alle Bürger, der Code civil, sein Einsatz für leistungsstarke Territorialstaaten anstelle der rund 300 deutschen Kleinstaaten, sorgten für einen staatlichen und gesellschaftlichen Modernisierungsschub. Und seine Feld- und Raubzüge quer durch Deutschland und Europa haben als Reflex auch den Selbstbestimmungsimpuls der vielen deutschen Untertanen geweckt.
Glücklose Hymnengeschichte
„Die Geschichte dieser Hymne, dass sie auf ihre historische Stunde warten musste, also immer wieder verschoben werden musste, eigentlich bis ins Jahr 1922: Man kann sagen, die Geschichte hat mit der Hymne nicht Schritt gehalten. Und dann kann man wiederum sagen: Kaum war sie dann eingesetzt, wurde sie schon wieder missbraucht“, sagt Aleida Assmann.
Es war schon etwas glücklos, diese Geschichte. Das steht auch in gewissem Widerspruch zu der dritten Strophe selbst, wo ja immer wieder von Glück die Rede ist. Der Wunsch nach Glück, der ist da nicht in Erfüllung gegangen.
Aleida Assmann
Nach 1933 passte den Nationalsozialisten die erste Strophe besonders gut ins Konzept, hier konnte und wollte man nationale Überheblichkeit zelebrieren, und nutzte sie als Vorspann für das „Horst-Wessel-Lied“, in dem der angebliche Märtyrertod eines SA-Straßenkämpfers durch einen KPD-Trupp besungen wurde.
Dieser krude Hymnenmix begleitete im Krieg auch die Wehrmacht und die SS-Truppen und musste selbst auf den KZ-Appellplätzen von Häftlingskapellen gespielt werden.
Bei der Hymne hatte die DDR die Nase vorn
Die Siegermächte stoppten 1945 erst mal alle Aufführungen des Deutschlandlieds. Im westdeutschen Karneval gab es bald eine Neufassung: „Wir sind die Eingeborenen von Trizonesien“.
In der Pädagogischen Akademie in Bonn, später für lange Jahre das Bonner Bundeshaus für Bundestag und Bundesrat, folgte der Gründungsakt der Bundesrepublik Deutschland, setzte der Parlamentarische Rat das Grundgesetz für die Bundesrepublik feierlich in Kraft.
Da erklang aber nicht die Hoffmann-Haydnsche Hymne, sondern ein bekanntes Studentenlied von 1820: „Ich hab mich ergeben, mein deutsches Vaterland“. Über den gewissen Doppelsinn dieser Ersatzhymne mokierten sich manche.
Beim Datum der Staatsgründung hatte der Westen den Osten auf Platz zwei verwiesen, bei der Hymne jedoch hatte die DDR die Nase vorn. Hier schuf man neue Klänge und Töne mit weltläufigen deutschen Künstlern, dem Dichter Johannes R. Becher und dem Komponisten Hanns Eisler.
Bechers Gedicht reflektiert die bedrückende Lage nach dem Krieg und beschwört die Erneuerung des Landes. „Aufstieg aus Ruinen” – „der eigenen Kraft vertrauend steigt da ein frei Geschlecht empor“. Die sowjetischen Befreier oder der Sozialismus spielen bei ihm in diesem Text keine Rolle.
Der Mannheimer Literaturprofessor Ulrich Kittstein: „Becher hat natürlich die Konsequenzen aus dem Dritten Reich und aus dem Zweiten Weltkrieg gezogen und konnte dann im Hinblick darauf ein politisch unbelastetes neues Lied schreiben, das allerdings seinerseits wiederum natürlich für die Bundesrepublik von vornherein tabu und gewissermaßen verbrannt war. Eben weil man es nur als Nationalhymne der DDR kannte.“
Die Becherhymne wünscht sich: “Deutschland einig Vaterland“. Johannes R. Becher, der aus Bayern stammte, glaubte nicht an eine lange Zeit der Teilung Deutschlands. Der zeitweilige DDR-Kultusminister starb 1959.
Er erlebte nicht mehr, dass 1968 in der neuen DDR-Verfassung der Gedanke der Einheit aufgegeben wurde, „Deutschland einig Vaterland“ wurde nicht mehr gesungen – und dann wurde die Parole auf den Straßen bei den Protestzügen 1989-90 umso inbrünstiger skandiert.
Zurück zu den Anfängen der beiden deutschen Staaten. Die DDR hatte also noch vor der Bundesrepublik eine durchaus präsentable Hymne.
Adenauer drängt auf Hymnen-Kontinuität
Im Westen bedrängte Bundeskanzler Konrad Adenauer bald auch den Bundespräsidenten Theodor Heuss nachzuziehen. Man solle das Deutschlandlied wieder zur Nationalhymne machen.
„Adenauer war unglaublich interessiert an so etwas wie Kontinuität. Die in dem Land aufzubauen und zu suggerieren, das eigentlich ja von radikalen Brüchen gezeichnet ist“, sagt Aleida Assmann.
Ich erinnere mich noch sehr gut an dieses Konzept des christlichen Abendlandes, das Adenauer verkörperte. Das hat für mich schon immer geklungen nach einer Art von Rückwärtskontinuität, die wir ja in diesem Sinne gar nicht haben. Es ist eigentlich noch mal ein imperiales Hochgefühl, wenn wir uns als christliches Abendland darstellen und den Brüchen wird das natürlich überhaupt nicht gerecht.
Aleida Assmann
Bundespräsident Heuss stellte sich dann in seiner Silvesteransprache 1950 Adenauer entgegen. Heuss startete einen Versuch, mit dem Kirchenliedautor Rudolf Alexander Schröder eine neue Hymne zu kreieren.
„Land des Glaubens, deutsches Land
Land der Väter und der Erben,
uns im Leben und im Sterben,
Haus und Herberg, Trost und Pfand,
sei den Toten zum Gedächtnis,
den Lebendigen zum Vermächtnis,
freudig vor der Welt bekannt,
Land des Glaubens, deutsches Land.“
Die dritte Strophe ist die Lösung
Heuss´ Vorschlag wurde ein Reinfall. Und Adenauer schnappte jetzt zu: Mit einem Kabinettsbeschluss bedrängte er Heuss öffentlich, das Deutschlandlied wieder zur Nationalhymne zu erklären. Heuss ging darauf ein, lehnte aber eine feierliche Proklamation ab und sprach mit Adenauer einen öffentlichen Schriftwechsel zwischen Bundeskanzler und Bundespräsident ab.
Waren sich in der Hymnenfrage nach der Gründung der Bundesrepublik nicht einig: Bundespräsident Theodor Heuss und Bundeskanzler Konrad Adenauer.© picture-alliance / akg-images
So kann man im Mai 1952 Adenauers Bitte an Heuss lesen, „innerdeutsche Gefühlsmomente anzuerkennen“, „außenpolitischen Realismus zu zeigen“, „und das Deutschlandlied als Nationalhymne anzuerkennen“. Bei staatlichen Veranstaltungen solle, wie von Heuss vorgeschlagen, die dritte Strophe gesungen werden. Heuss nahm in seiner Antwort diesen Vorschlag an.
Aber erst einmal ging da etwas schief, 1954 im Berner Wankdorfstadion, als die neue Großmacht im Weltfußball von den deutschen Anhängern gefeiert wurde. Nicht mit der dritten Strophe des Deutschlandliedes, sondern mit „Deutschland über alles“.
1974, 20 Jahre später, als die Fußball-WM erstmals in Westdeutschland veranstaltet wurde, ging der bundesdeutschen Elf jegliche Textkenntnis ab, beim Abspielen der Hymne sah man bei den Spielern kaum eine Lippenbewegung.
1989 im Plenarsaal des Bonner Bundestages war das anders: Als die Maueröffnung bekannt gegeben wurde, kam es zu einem achtbaren spontanen Hymnengesang der Abgeordneten. Dem Mauerfall folgte 1990 rasch die Entwicklung hin zur Vereinigung der beiden deutschen Staaten – und die hatten bekanntlich ihre je eigene Hymne.
Gescheiterte Hymnenfusion im Jahr 1990
Vom poetischen Standpunkt aus hätte Professor Kittstein nichts einzuwenden gehabt gegen den bekannten Vorschlag des frei gewählten letzten DDR-Ministerpräsidenten Lothar de Maiziere, 1990 beim Zusammengehen der beiden deutschen Staaten auch die Hymnen zu fusionieren.
In der Tat hat sich Becher angelehnt an die metrische und strophische Struktur des Deutschlandlieds, im Grunde eine Kontrafaktur geschrieben, natürliche auch wieder mit der Intention hier einen Gegenentwurf, einen Gegengesang zu schaffen und den älteren Text abzulösen und zu verdrängen.
Der Vorschlag von de Maizière klingt durchaus plausibel, die deutsche Wiedervereinigung wäre gewissermaßen poetisch und sängerisch abgebildet und widerspiegelt worden.
Ulrich Kittstein
De Maizière wurde aber klargemacht, dass man im Westen nichts Neues singen wolle. Bundespräsident Richard von Weizsäcker und Bundeskanzler Helmut Kohl wiederholten 1991 die Staatspraxis eines Briefwechsels und machten damit rechtssicher klar, dass im vereinten Deutschland allein die dritte Strophe des Deutschlandlieds als Nationalhymne gilt.
Kein Gegenstand „ungebrochener Identifikation“
„Das Gedicht von Hoffmann von Fallersleben ist in seiner Rezeptionsgeschichte gerade deswegen so interessant, weil man daran, wie in einem Brennspiegel sämtliche Brüche, Widersprüche, Verwicklungen und Katastrophen der deutschen Geschichte studieren kann. Es ist von daher ausgeschlossen, dass es zum Gegenstand einer ungebrochenen Identifikation werden kann“, sagt Ulrich Kittstein.
„Aber es ist ein ausgesprochen interessantes Studienobjekt für jeden, der sich irgendwie mit deutscher Mentalität, deutscher Politik, mit deutscher Geschichte in den letzten 180 Jahren befassen möchte.“
Viele würden gut ohne Nationalhymne auskommen. Carolin Emcke etwa, prominente Medienfrau, Buchautorin und Autorin unter anderem der „Süddeutschen Zeitung“.
„Ich habe nie die deutsche Nationalhymne gesungen, bekennt Carolin Emcke, und ich werde das auch nie tun, habe nie die deutsche Fahne geschwenkt und werde das auch nie tun. Ich weiß um die Unbelastetheit der dritten Strophe des Deutschlandlieds und ihrer Aussage, ebenso um die der Fahne und ihrer Farbe und dennoch bereitet es mir Unwohlsein.“
Die Konstanzer Professorin Aleida Assmann meint, nicht nur in Schloss Bellevue beim Bundespräsidenten oder bei Staatsbesuchen oder auch in Fußballstadien könnte eine Hymne gut gebraucht werden.
Nation als „Rahmen der Integration“
„Aber dann hat die Nationalhymne auch noch eine Funktion als Tagesausklang, Deutschlandfunk. Aber ich würde sagen, es gibt noch einen anderen Grund, warum wir sie brauchen, und das wäre für mich eine Einbürgerungsfeier“, sagt sie.
Sie erklärt: „Für mich ist die Nation oder der Begriff der Nation nicht einfach so eine mysteriöse, emotionale, kollektive Kraftquelle. Das ist es gar nicht. Sondern der Nationalstaat ist zunächst einmal der Rahmen, in dem Rechtsstaatlichkeit, Demokratie, aber eben auch die Menschenrechte und eine diverse Gesellschaft verankert sind. Damit ist es zugleich eben auch, und das ist das Wichtige, der Rahmen für Integration.
Und weiter. „Wir sind im Moment an einem historischen Punkt angekommen, wo das Wir dieser Nation sich ganz grundlegend verändert. Denn man kann sich ja vorstellen, dass Migranten in dieses Land kommen, um anzukommen und auch angenommen zu werden und in diesem Land mitzugestalten. Wenn wir nun sagen, wir sind gar keine Nation, wir sind Kosmopoliten oder so, dann könnte das ja für die auch schwierig sein. Der Impuls wäre eben, dass man an diesem Selbstbild mitformen kann. Das muss nicht ein Selbstbild sein, was auf Stolz und Stärke ausgerichtet ist. Im Gegenteil: Diese Stolz und Stärke-Visionen, die sind meistens mit starken Ausgrenzungen verbunden, aber ein positives Selbstbild zu diesen Veränderungen könnte da tatsächlich weiterhelfen."
Ein Selbstbild von der deutschen Nation etwa so: Schuldbewusst wegen der unfassbaren Menschheitsverbrechen der Deutschen und selbstbewusst wegen der Bemühungen um Vergangenheitsbewältigung – und auch wegen des Wiederaufbaus eines anerkannten Gemeinwesens in der Weltgemeinschaft?
Vielleicht müsse man eine Strophe hinzuerfinden, schlägt Aleida Assmann vor.© picture alliance / SvenSimon / Anke Waelischmiller
„Ich finde die Formulierung selbstbewusst und schuldbewusst eigentlich sehr gut, denn das muss ich ja gar nicht ausschließen“, sagt Aleida Assmann.
Plädoyer für eine ganz neue Strophe
Sie findet, man müsse ganz praktisch vorgehen: Vielleicht müsse man eine Strophe hinzuerfinden, die man gut bei einer Einbürgerung singen könnte. Es gebe doch viele geeignete Autoren, auch Sänger, die ganze Stadien füllen können mit achtbaren Texten. Sie macht einfach mal einen Anfang, geschmäcklerische Kritik lässt im Zweifel einfach abperlen.
„Gleiches Recht und gleiche Freiheit
eint uns hier im deutschen Land.
Dafür stehen wir geschlossen
ein mit Kopf und Herz und Hand.
Neue Bürger sind willkommen. Das ist unser stärkstes Band.
Gleiches Recht und gleiche Freiheit
eint uns hier im deutschen Land.“
„Für mich ist es ganz wichtig, weil die Verwandlung der Nation im Moment im Gange ist. Das ist ein langwieriger Prozess und es geht auch nicht um ein Zusammenwachsen, sondern es geht um ein zusammen Wachsen“, erklärt Aleida Assmann.