Ist der Zug schon abgefahren?
Nur zwei Kontinente haben keine Hochgeschwindigkeitszüge: Die Antarktis und Australien. Seit genau 100 Jahren zuckelt der "Indian Pacific" von Perth nach Sydney und zurück. Durchschnittsgeschwindigkeit: 80 Stundenkilometer. Doch jetzt soll alles anders werden.
"Good afternoon, ladies and gentlemen, the "Indian Pacific" for Adelaide and Sydney is about to depart. The "Indian Pacific" for Adelaide and Sydney is about to depart."
Auf dem Ostbahnhof von Perth , der Hauptstadt Westaustraliens. Fertigmachen für eine Dreitagesreise nach Sydney ans andere Ufer des Kontinents. 4352 Kilometer per Zug vom Indischen Ozean zum Pazifik, von Küste zu Küste. Der "Indian Pacific" ist wie eine Stadt auf Rädern, 600 Meter lang. Container-Wagons voller Fracht, Passagierkabinen und ein fahrendes Hotel mit Kneipe, Restaurant und Zimmern mit Aussicht.
"Please sit back and relax and enjoy the service and the scenery. Do not hesitate to ask any member of the crew if you have any problems. They are willing to be of any assistance…."
Die Stimme aus dem Lautsprecher ist Zugmanager Dave Goodwin, halb lebender Fahrplan, halb sprechender Reiseführer. Dave ist stolz darauf, daß die Zugverbindung Perth-Sydney genau 100 Jahre alt ist. Ende 1917 wurde die Bahnstrecke quer durch den Kontinent in Betrieb genommen. Ein Versuch der Regierung die Australier an der West- und an der Ostküste näher zusammenzubringen, der Tyrannei der Entfernung die Stirn zu bieten.
Wunderbare Ruhe an Bord: Handys ohne Empfang
Was damals als reiner Frachtzug begann wurde bald auch von Passagieren genutzt und mehr und mehr zur Touristenattraktion. Denn bei einer Fahrt mit dem "Indian Pacific", schwärmt Dave Goodwin, vergeht die Zeit eben nicht wie im Flug.
"Die Passagiere sind überrascht von der Weite und der Verschiedenheit der Landschaft. Wir haben Berge, die Wüste und an beiden Enden das Meer. Was unsere Gäste aber besonders schätzen: es klingeln keine Telefone. Sie sind für niemanden zu erreichen und deshalb erholen sie sich auch."
Der karge Busch, feuerroter Sand und flirrende Hitze: Wie in einem Breitwand-Kino zieht draußen vor den Zugfenstern die Landschaft vorüber. Lokführer Fergus Moffat sorgt für gemächliche, meist ruckelfreie 80 Stundenkilometer. Postkarten-Sonnenauf- und –untergänge, nachts der klare Sternenhimmel oder Herden wilder Kamele: obwohl Fergus meist schnur geradeaus fährt ist Langeweile für ihn ein Fremdwort.
Glücklicher Lokführer
"Wie in allen Berufen gibt es auch bei uns viele für die Lokführer nur ein Job ist und die auch etwas anders machen können. Für mich aber ist es ein Privileg einen der wenigen wirklich transkontinantalen Züge der Welt zu fahren. Was wir quer durch’s Land transportieren ist wichtig für unsere Wirtschaft. Ich liebe es, ich bin einer der Glücklichen, der sein Hobby und den Beruf verbinden kann."
Hinter der Goldgräber-Stadt Kalgoorlie ist das weite Land bald so flach wie Mutters Kuchenblech, nicht unbedingt frucht- aber bewohnbar. Trotzdem gibt es im Umkreis von hunderten Kilometern nur einen einzigen Ort, auf halbem Weg, am Rand der Nullabor-Wüste.
"Good morning ladies and gentlemen. We are running approximately ten minutes ahead of schedule and should arrive at Cook at approximately 9.15."
Zu groß für einen Bahnhof, zu klein um es ein Dorf zu nennen: Cook ist die einzige Haltestelle des "Indian Pacific". Gelegenheit die Fahrer zu wechseln, Wasser aufzunehmen und für die Passagiere Zeit sich die Beine zu vertreten. Ein schlichtes Wohnhaus mit verdörrtem Vorgarten, ein paar Wellblechschuppen, Benzintanks und das "Fahrer-Hotel", eine einstöckige Unterkunft mit Schlafgelegenheiten.
Wie die Filmkulisse in einem Outback-Western
Cook sieht aus wie die Filmkulisse eines Outback-Western, eine Geisterstadt mit menschenleerer Hauptstraße. Cook hat nur ganze drei ständige Einwohner. Schäferhund Skip und die Hutchinsons, Greg und Michelle.
"Wir sind die Hausmeister von Cook. Wir kümmern uns um die Stromversorgung, das Wasser und die Fahrer-Unterkünfte. Jede Woche kommen hier 50 Güter- und vier Passagierzüge durch. Die Isolation macht uns nichts aus, wir genießen die Ruhe. Mein Boss sitzt woanders, ich kann anziehen was ich will und Stau kennen wir nicht. Wir haben hier ein ziemlich entspanntes Leben."
"If you’re crook come to Cook" – "Wenn es dir schlecht geht bis du hier richtig" steht in abblätternder Farbe über Cooks Krankenstation. Die beige getünchte Holzbarracke hat zwar ein paar Betten aber keine Patienten, statt eines Arztes gibt es nur einen Notfall-Schrank mit Medikamenten und Verbandszeug. Dafür ist der tennisplatzgroße Maschinenschuppen voller Ersatzteile. Ob Radlager oder ganze Wagontüren: Michelle’s Inventarliste ist so dick wie ein Telefonbuch.
"Cook und die Eisenbahnlinie entstanden zur gleichen Zeit, denn Cook gibt es nur wegen der Züge. Der Ort entstand 1917 als Basis für die Fahrer und als Materialdepot um die Gleise instandhalten und reparieren zu können. Cook war immer nur für die Züge da und daran wird sich auch nichts ändern."
"Cook könnte heute eine Stadt sein"
826 Kilometer weit weg von der nächsten Stadt und es sind mehr als 100 Kilometer ungeteerte Staubpiste bis zur nächsten Autobahn. Cook ist nicht mehr als ein winziger Fliegendreck auf der riesigen australischen Landkarte, für den Städte- und Verkehrsplaner Phil Cleary aber ist Cook eine vertane Gelegenheit. "Der Ort könnte heute eine Stadt sein", glaubt Cleary, ein Drehkreuz für Fracht und Passagiere. Eines von vielen entlang der Gleise, so wie es die Amerikaner gemacht hätten. Was die Staaten der Vereinigten Staaten erst vereinigte war die Eisenbahn. Der nordamerikanische Kontinent wurde auf dem Rücken des Stahlrosses erschlossen. Da, wo in den USA die Eisenbahn hingebaut wurde entstanden Siedlungen und Orte, die zu Städten und Metropolen anwuchsen. Doch Verkehrsplaner Phil Cleary bedauert: "Nicht in Australien".
"Nehmen wir die Stadt Chicago in den Vereinigten Staaten. Die wichtigsten Eisenbahnverbindungen des Landes kommen dort wie die Speichen eines Rades zusammen. Das ist kostengünstig und spart lange Wege. In Australien aber haben wir weder ein vergleichbares Fracht-Umschlagszentrum noch ein wirklich landesweites Streckennetz."
Road Trains sind wie ein Mini-Erdbeben
Abgelegene Minen, dünn besiedelte Landstriche oder ganze Tagesreisen zwischen Ortschaften.Trotz enormer Entfernungen werden Güter in Australien seit jeher lieber per Lastwagen als mit der Bahn transportiert. Mit Risiken und Nebenwirkungen. 600 PS unter der Haube, vier Achsen und dahinter fünf Anhänger. Road Trains sind Riesen-Lastwagen mit schier endlosem Anhang – oft 60 Meter lang. Voll mit Rohren, Schafen, Baumaschinen, Gemüse, Benzin, Rinder oder Eisenerz. Sie haben immer Vorfahrt und sie halten für niemanden an. Road Trains sind wie ein Mini-Erdbeben, das mit 100 Sachen auf einen zurast. Es dröhnt, der Boden fängt an zu vibrieren, es staubt, Steine fliegen – und dann ist der Spuk vorbei. Heil bleibt der eigene Wagen nur mit einer hastig übergeworfenen Picknickdecke auf der Windschutzscheibe oder im Straßengraben.
Schlimmer als Krokodile: Überholmanöver im Outback
"Wenn man denen entgegen kommt dann sollte man an den Rand fahren. Denn der Highway ist sehr schmal. Und einfach gucken, daß man nicht mit denen zusammenstößt. Die nehmen keine Rücksicht."
Backpacker Philip Schroth aus Berlin war auf seinem Australien-Trip Krokodile füttern, Fallschirm- und Bungeespringen. Aber nichts ging ihm mehr unter die Gänsehaut als ein Überholmanöver im Outback. Philips klappriger VW-Bus gegen einen zuckelnden Road Train.
"Denn es ist hier immer nur eine Spur pro Richtung. Das ist auf jeden Fall ein Abenteuer. Also ein richtiger Adrenalinkick wenn man so einen 60 Meter-LKW überholt. Das ist schon ein besonderes Erlebnis."
Ein Truckie mit Bleifuß und Diesel im Blut
Geräte für den Bergbau und die Landwirtschaft, Bodenschätze, das Bier für den Outback-Pub oder Lebensmittel für die Supermärkte in den Großstädten. Fast zweieinhalb Milliarden Tonnen Fracht werden jedes Jahr kreuz und quer per Lastwagen durch den Kontinent transportiert, dazu fast eine Milliarde Lebendtiere – oft auf einsamen, schlaglochübersäten Straßen, die diesen Namen gar nicht verdienen. Road Trains sind die wahren Güterzüge Australiens, ihre Fahrer die Staubritter der Landstraße. Denn Truckies wie Bruce Turpie haben einen Bleifuß - und Diesel im Blut.
"My dad was an interstate truck driver and from the time I was a young boy, all I ever wanted to do was drive trucks. I’ve been an interstate truck driver for 40 years…."
Seine Mitschüler träumten davon Rugby-Profi oder Tierarzt zu werden, Bruce aber wollte nie etwas anderes als Lastwagenfahrer sein, so wie sein Vater. 40 Jahre und gut zweieinhalb Millionen Kilometer hinterm Steuer später ist er immer noch auf Achse – zweimal die Woche Townsville-Melbourne und wieder zurück. Eine verspiegelte Sonnenbrille, die er nur zum Schlafen abnimmt, viel zu kurze, ausgebleichte Shorts und darüber ein Fernfahrerbauch: Bruce hat sich die Jahre über kaum verändert, das LKW-Frachtgeschäft aber, das erkennt er kaum wieder.
"Das größte Problem der Transportindustrie ist unreguliertes und ungebrochenenes Konkurrenzgerangel. Jeder unterbietet jeden. Dabei bleiben die Wartung unserer Trucks und die Sicherheit der Fahrer auf der Strecke. Wir bekommen immer weniger Lohn aber müssen dafür immer länger und härter arbeiten. Das Ergebnis kann man regelmäßig in den Abendnachrichten sehen."
300 tödliche LKW-Unfälle in Australien im Jahr
"Three double trucks have collided at high speed on the Hume Highway killing a man and leaving a mess of twisted metal and broken glass. The crash causing major delays heading into the city…"
Wieder einmal Chaos auf dem Hume Highway südwestlich von Sydney. Drei Schwerlaster sind ineinander gerast, einer der Fahrer ist tot, die umgekippte Ladung blockiert für Stunden die Autobahn. Der Zusammenstoß ist einer von jährlich über 300 tödlichen Unfällen in Australien an denen LKWs beteiligt sind. Die Gründe sind immer dieselben: zu hohes Tempo, defekte Laster und vor allem völlig übermüdete Fahrer. Liefertermine werden nur eingehalten wenn die Trucks nonstop durchfahren, tausende Kilometer, oft 24 Stunden und länger am Stück. Pause machen oder eine Mütze Schlaf bleiben buchstäblich auf der Strecke. "Um am Steuer nicht irgendwann einzunicken", gesteht Trukker Jerry Brown, dazu bräuchte es schon mehr als nur ein paar Tassen Kaffee.
"Ich habe jedes stimulierende Aufputschmittel genommen, das ich in die Hände bekommen konnte. Heute greifen Trucker immer mehr zu Heroin, Kokain und Marihuana – das ist bedenklich. Fernfahrer in Australien müssen alles tun, um ihren Job nicht zu verlieren und ihre Familien ernähren zu können. Wir nehmen Drogen, wir fahren zu schnell und wir fälschen unsere Logbücher. Es gibt immer einen Weg Vorschriften und Gesetze zu umgehen."
Güterzüge sind umweltfreundlicher als Trucks
Am Ladedock der Woolworths-Filliale in Menai am Stadtrand von Sydney. Was drinnen verkauft wird kommt, verstaut in Kartons auf Palletten draußen an. 95% aller Waren für Supermärkte, Kaufhäuser und Läden an Australiens Ostküste werden mit Lastwagen transportiert. "Das ist zwar bequem", gibt Verkehrsplaner Phil Cleary zu, "aber wirtschaftlich ist es nicht", Güterzüge belasteten die Umwelt nur halb so viel mit Schadstoffen wie Trucks, sie verursachen weder Staus noch Verkehrstote und sind dreimal kostengünstiger. Im Transportgeschäft, sagt Cleary, liege das Geld nicht auf der Straße sondern auf der Schiene.
"Unsere Lebenhaltungskosten sind gestiegen weil wir nicht in den Ausbau des Zug-Streckennetzes investiert haben. Der Einzelhandel hat keine Möglichkeit seine Waren billiger befördern zu lassen weil der politische Wille fehlt. Australiens Produktivität würde sprunghaft ansteigen wenn wir den Transport unserer Konsumgüter zum Großteil auf die Schiene verlegen könnten. Aber das tun wir nicht – wir machen das Gegenteil."
Die 1900 km lange Strecke von Melbourne nach Sydney ist eine der wichtigsten Frachtrouten Australiens, befahren von täglich 3500 LKWs - und ganzen drei Güterzügen. Anderswo sind es noch weniger. Regionale Zugverbindungen werden überall im Land vernachlässigt, Gleise verfallen, Ortschaften weiter draußen gar nicht angefahren. Das Fertigstellen des letzten Teilstücks der Bahnverbindung von Adelaide, ganz im Süden, bis nach Darwin, hoch im Norden, im Jahr 2004 war die Ausnahme. In der Regel versteht man seit Jahrzehnten beim Ausbau des Streckennetzes nur Bahnhof. Der Zug in Australien schien abgefahren. Jetzt aber soll alles auf einmal ganz schnell gehen. So richtig schnell.
Die Regierung plant einen Schnellzug
"Connecting the cities on Australia‘s east coast with High Speed Rail will radically change the way we travel and live. Traverse our vast country at 350 km/h in complete comfort and safety….."
Nur zwei Kontinente haben keine Super-Schnellzüge: Die menschenleere Antarktis – und Australien. Mehr als 150 Milliarden Euro sollen das ändern.
Die Regierung denkt laut über eine Hochgeschwindigkeitstrasse an der Ostküste nach - von Melbourne über Canberra, Sydney und Newcastle bis nach Brisbane. In diesen Städten und entlang der geplanten Strecke leben mehr als 75% aller Australier. Der Bevölkerungsforscher David George berät die Regierung auch in Verkehrsfragen. "Infrastruktur", sagt er, müsse mit einer steigenden Einwohnerzahl mitwachsen und wer zügig unterwegs sein wolle, der fahre künftig besser mit dem Zug. Einem Schnellzug.
"Allein die Route Sydney-Melbourne gehört zu den vier meistbeflogenen Strecken der Welt. Jeden Tag sind 78 Flugzeuge nur zwischen diesen beiden Städten unterwegs. Ein Hochgeschwindigkeitszug würde mindestens die Hälfte der Fluggäste auf die Schiene locken. Die Entlastung der Umwelt wäre enorm."
Nurmehr eineinhalb Stunden im Schnellzug von Sydney nach Melbourne statt zehn Stunden mit dem Auto, tausende Schwerlaster würden durch superschnelle Frachtzüge ersetzt und die australischen Fluglinien könnten sich verstärkt auf lukrativere Langstreckenflüge konzentrieren. Außer dem Verlust von Arbeitsplätzen in der Transport- und Beförderungsindustrie sieht David George beim besten Willen keine Nachteile.
"Unser Land würde sich radikal verändern"
"Ein Hochgeschwindigkeitszug wäre ein nationales Infrastrukturprojekt, das unser Land radikal verändern würde. Viele Australier würden noch öfter und kostengünstiger reisen, das Transportieren von Gütern würde revolutioniert und unsere Straßen würden viel weniger befahren. Die Zeit der Schnellzüge wird auch in Australien kommen, ich hoffe nur, daß die Politiker die Initiative ergreifen und damit auch wirklich ernst machen."
"Good morning ladies and gentlemen. Can you kindly make your way to the Queen Adelaide Restaurant where your breakfast service is about to commence. Thank you."
Zurück im "Indian Pacific". Nach fast drei Tagen Bummelfahrt quer durch den australischen Kontinent nähert sich der Zug seinem Zielbahnhof Sydney. Von Hochgeschwindigkeit keine Spur. Genauso wie es die Passagiere wollen.
"Es ist eine so sanfte und wunderschöne Fahrt, ein einmaliges Erlebnis. Man sieht Teile von Australien die man nur sehen kann wenn man mit dem Zug unterwegs ist. Landschaften wie sie seit hunderttausenden von Jahren sind – unberührt und unverfälscht."
100 Jahre nach der Eröffnung der transkontinentalen Eisenbahn quer durch den australischen Kontinent ähnelt der Schienenverkehr im ganzen Land ein wenig dem "Indian Pacific". Er ist behäbig, nicht für jeden und von gestern. Es wird höchste Zeit die Bahn in Australien vom Abstellgleis zu holen und zu modernisieren. Doch dazu sind jetzt die Politiker am Zug.