100 Jahre Frankfurter Schule
Kritik der Unvernunft im Kapitalismus: Theodor W. Adorno war ein Vordenker der Frankfurter Schule. © picture-alliance / brandstaetter images / Franz Hubmann
Mut zum richtigen Denken im Falschen
Adorno, Habermas, Honneth, Jaeggi: Ihre Namen sind mit der Gesellschaftskritik der Frankfurter Schule verbunden. 1968 inspirierte deren Kritische Theorie die Studentenbewegung. Doch welche Antworten hat ihr Denkansatz auf die Krisen der Gegenwart?
Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, Jürgen Habermas, Axel Honneth und Rahel Jaeggi: Sie stehen für vier Generationen der Frankfurter Schule. Die linke Gesellschaftskritik dieser philosophischen Denkrichtung hat seit den 1920er-Jahren weit über Deutschland hinaus einen enormen Einfluss erlangt und internationale Debatten über Freiheit und Gleichheit angestoßen. Mit ihrer eigenen Methode, der Kritischen Theorie, zielte die Frankfurter Schule von Anfang an darauf ab, innere Widersprüche und Missstände der modernen Lebensweise aufzudecken. Dabei setzt sie auf immanente Kritik, um die Gesellschaft an ihren eigenen Werten zu messen und so zur Verwirklichung gerechterer Verhältnisse beizutragen.
Die Kritische Theorie auf dem Prüfstand
Ihren Stammsitz hat die Frankfurter Schule am Institut für Sozialforschung (IfS), das 1923 in Frankfurt am Main ins Leben gerufen wurde. 100 Jahre später findet dort vom 26. bis 29. Mai 2023 die Zweite Marxistische Arbeitswoche statt. Mit der Konferenz lotet das Institut aus, welche Antworten die Kritische Theorie auf die Krisen unserer Gegenwart bietet. Wie hat die Philosophie der Frankfurter Schule sich weiterentwickelt, und wie anschlussfähig sind ihre Ideen an die gesellschaftliche Realität von heute? In welchem Verhältnis stehen ihre Ziele und Methoden etwa zu außereuropäischen und postkolonialen Perspektiven? Und welche ihrer Denkerinnen und Denker lohnt es vielleicht gerade heute wiederzuentdecken?
Adorno & Co.: Gesichter der Frankfurter Schule
Die Anfänge der Frankfurter Schule wurden entscheidend von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno geprägt. Als der Sozialphilosoph Horkheimer die Leitung des IfS 1931 übernahm, legte er, stärker als der auf kommunistische Theorie fokussierte Gründungsdirektor Karl Grünberg, großen Wert auf einen interdisziplinären Ansatz: Philosophie, Soziologie, Ökonomie, Geschichtswissenschaft und Psychologie sollten bei der Analyse der Gesellschaft ineinandergreifen.
Der Philosoph und Musiksoziologe Adorno wurde für Horkheimer bald zu einem seiner engsten intellektuellen Mitstreiter. Eine prägende Rolle für die Arbeit des Instituts spielte auch der Psychoanalytiker Erich Fromm, der empirische Studien etwa zur Sozialpsychologie von Arbeitern und Angestellten durchführte. Weitere Mitarbeiter des IfS oder der von Horkheimer gegründeten Zeitschrift für Sozialforschung waren in den ersten Jahren Herbert Marcuse, Friedrich Pollock, Leo Löwenthal und der Schriftsteller Walter Benjamin.
Exil in den USA
1933 wurde das mit Hilfe des linken Mäzens Felix Weil gegründete IfS von den Nationalsozialisten geschlossen. Horkheimer ging ins Exil in den USA und konnte die Arbeit des Instituts mit einigen der ebenfalls emigrierten Mitarbeiter fortsetzen. Zusammen mit Adorno schrieb er dort ein Hauptwerk der Kritischen Theorie: Ihre "Dialektik der Aufklärung" verband eine Analyse des Nationalsozialismus mit der Kritik der modernen Massenkultur. Die Studentenbewegung der 1960er-Jahre verdankt diesem Buch wichtige Impulse.
Vertrauen in das bessere Argument
1951 gelang die Neugründung des Instituts in Frankfurt, geleitet zunächst von Horkheimer und dann, bis zu dessen Tod 1969, von Adorno. Als prägende Stimme der zweiten Generation der Frankfurter Schule trat in dieser Zeit Jürgen Habermas hervor. Als öffentlicher Intellektueller und einer der bekanntesten deutschen Philosophen bezieht er bis heute regelmäßig Stellung zu gesellschaftlichen Großthemen - von europäischer Krisendiplomatie über Corona-Maßnahmen bis zur Waffenhilfe für die Ukraine.
Habermas entwickelte im Anschluss an die Kritische Theorie seine einflussreiche "Theorie des kommunikativen Handelns". Sein Konzept einer herrschaftsfreien Kommunikation, in welcher der "zwanglose Zwang des besseren Arguments" im Idealfall zu vernünftigen Antworten auf gesellschaftliche Herausforderungen führt, gewinnt in den gegenwärtigen Debatten über eine zersplitterte Öffentlichkeit mit voneinander abgegrenzten "Filterblasen" erneut an Aktualität.
Paradoxien des Kapitalismus
Der Sozialphilosoph Axel Honneth, von 2001 bis 2018 Direktor des IfS in dritter Generation der Frankfurter Schule, erkennt "einen genialen Zug" von Habermas' Gesellschaftstheorie darin, dass er die Öffentlichkeit - eigentlich eine politische Institution - zum Ort der Vernunft erklärte: "Er ist der Überzeugung, was dort geschieht, ist der Kern dessen, was wir als Vernunft bezeichnen, indem wir uns nämlich durch Bezüge auf öffentliche Gründe zu verständigen suchen."
Honneth selbst knüpfte an die Tradition der Kritischen Theorie an, indem er die Analyse von "Paradoxien der kapitalistischen Modernisierung" zu einem Schwerpunkt des Instituts erklärte. In seiner eigenen Arbeit griff er dabei auf Ideen des Frühsozialismus zurück und forschte zur Ideengeschichte der Anerkennung. Auch die Philosophin Rahel Jaeggi setzt, in vierter Generation, die Gesellschaftskritik der Frankfurter Schule fort, etwa indem sie in ihrer Untersuchung zeitgenössischer Lebensformen die Methode der immanenten Kritik weiterentwickelt.
Kritische Theorie: Sozialkritik mit Marx und Freud
Karl Marx und Sigmund Freud stehen Pate, als die Frankfurter Schule in den 1920er-Jahren zu ihrem eigenen Denkansatz findet. Hegels Geschichtsphilosophie und die Soziologie Max Webers sind weitere wichtige Bezugspunkte für die Kritische Theorie, sagt Axel Honneth. Das Grundmotiv ihrer Gesellschaftsanalyse skizziert Honneth wie folgt: "Die Vernunft entwickelt sich in der Geschichte, sie nimmt unter dem Kapitalismus eine pathologische Form an, und es gilt, diese pathologische Form der Vernunft zu untersuchen."
Dabei setzt die Kritische Theorie dort an, wo sich die Gesellschaft in Widersprüche verstrickt. Es geht ihr darum, "immanente Kritik" zu üben und die Wertegrammatik freizulegen, durch die eine Gesellschaft ihren zentralen Normen definiert. Die Kritische Theorie will die Gesellschaft also an den Ansprüchen messen, die sie an sich selbst stellt, um daraus einen Kompass für vernünftige Kritik abzuleiten.
Versprechen einlösen
Deshalb fragt sie zum Beispiel danach, wo Freiheits- oder Gerechtigkeitsversprechen in einer Demokratie nicht eingelöst sind. Indem sie zeigt, wo eine Gesellschaft ihren eigenen Werten nicht gerecht wird, will die Kritische Theorie einen Beitrag dazu zu leisten, dass blockierte Potenziale sich entfalten können.
"Das bedeutet zum Beispiel, sehr genau nachzuvollziehen, wo gerade unnützes Leid in der Gesellschaft entsteht, wo widersprüchliche Formen von einerseits Reichtumsproduktion bei gleichzeitiger großer Armut entstehen", erklärt die Sozialphilosophin Alexandra Schauer, die am IfS in der fünften Generation der Frankfurter Schule zum Phänomen der Entfremdung forscht. Im "Aufzeigen des Falschen im Gegenwärtigen" sieht Schauer auch heute noch eine große Stärke der Kritischen Theorie.
Vernunft und Barbarei: Lehren aus der NS-Zeit
In ihrem einflussreichen Buch "Die Dialektik der Aufklärung" gingen Adorno und Horkheimer der Frage nach, wie das aufgeklärte Denken und die Vernunft in die Barbarei des Nationalsozialismus umschlagen konnten. Der Philosoph und Publizist Rolf Wiggershaus, der als Historiker der Frankfurter Schule bekannt wurde, beschreibt die ungewöhnliche Form des Buchs als Mischung von "Essay, Exkursen, Abhandlungen und Aphorismen". Erarbeitet haben die beiden Autoren es, zum Teil gemeinsam diktierend, im Modus eines "Symphilosophierens", so Wiggershaus.
Dabei erweiterten Adorno und Horkheimer den Fokus einerseits auf eine Kritik der kommerziellen Massenkultur, die aus ihrer Sicht durch weitreichende Strategien der Manipulation selbst faschistische Züge annahm. Darüber hinaus ging es ihnen um eine grundsätzliche Kritik der Vernunft in der Geschichte: Im Prozess der Zivilisation erkannten sie eine fortschreitende Naturbeherrschung, die in fataler Weise auf die äußere und innere Natur des Menschen zurückschlage. Unterdrückung und Unfreiheit seien die Folge.
Ausgelagerte Unvernunft
An diese Analysen einer Dialektik von Vernunft und Unvernunft in der Geschichte lasse sich mit heutiger Gesellschaftskritik produktiv anknüpfen, erklärt der Soziologe Stephan Lessenich, seit Juli 2021 Direktor des IfS. Er findet dieses Spannungsverhältnis in seiner Forschung zur Externalisierung wieder.
Unser Wohlstand sei in hohem Maße darauf angewiesen, dass wir Voraussetzungen, auf denen er beruht, und Folgen, die er nach sich zieht, schlicht ausklammern und auf andere abwälzen, erklärt Lessenich. "Das kann man an vielen Beispielen festmachen, von der Textilproduktion in Südostasien bis hin zu unseren CO2-Emissionen, die anderwärts schon bestimmte ökologische Verwüstungen produzieren, und das hat System in dieser Gesellschaft." Diese sogenannte Externalisierung sei typisch für kapitalistische Ökonomien, sagt Lessenich. Ausgelagert werde damit eben "die unvernünftige Seite dessen, was wir zur Vernunft erklären".
Irrationales Effizienzdenken
Auch Christian Neuhäuser, Professor für praktische Philosophie an der TU Dortmund, hat solche Ungerechtigkeiten im Verhältnis von globalem Norden und globalem Süden im Blick. Er sieht sich selbst nicht in der Tradition der Kritischen Theorie, hält den auch von Adorno und Horkheimer ins Feld geführten Begriff der "instrumentellen Vernunft" hier aber für treffend.
Die neoliberale Erzählung, die stark auf diesen eingeschränkten Vernunftbegriff setze, komme ganz deutlich an ihr Ende, so Neuhäuser. Dass eine globale Warenproduktion, die ausschließlich auf Effizienz und Profitmaximierung getrimmt sei, Leid und Ungerechtigkeit zur Folge habe, werde immer stärker auch in wohlhabenden Ländern spürbar: etwa, wenn plötzlich keine Antibiotika für Kinder mehr zu bekommen seien.
1968: zwischen Revolte und Elfenbeinturm
Für die Studentenbewegung der 1960er-Jahre war die Kritische Theorie ein wichtiger Bezugspunkt. Die "Dialektik der Aufklärung", von Adorno und Horkheimer schon 1947 erstmals veröffentlicht, stieß in der linken Protestbewegung auf großes Interesse und kursierte in zahlreichen Raubdrucken, bevor das Buch 1969 in einer Neuauflage erschien.
Die Autoren, die Mitte der 60er-Jahre beide in Frankfurt lehrten, hatten jedoch ein durchaus ambivalentes Verhältnis zu den oppositionellen Studierenden. Horkheimer nannte deren Ziele und Methoden schlicht: "konfus". Adorno zeigte mehr Verständnis, doch als Studierende das Institut besetzten, ließ er es von der Polizei räumen.
Distanz zum Aktivismus
Insofern die Kritische Theorie durchaus auf eine Verbesserung der Verhältnisse abzielt, teilt sie mit vielen sozialen Bewegungen einen emanzipatorischen Ansatz. Wie halten es Philosophinnen und Philosophen in ihrer Nachfolge mit dem Aktivismus von heute?
Stephan Lessenich rät davon ab, "den engen Schulterschluss mit sozialen Bewegungen zu suchen". Keine von ihnen sei "eindimensional progressiv", daher sollte eine kritische Gesellschaftstheorie auch vor regressiven Elementen in eigentlich fortschrittlichen Bewegungen nicht die Augen verschließen.
Dieser Ansicht ist auch Alexandra Schauer, denn: "Die Kritische Theorie war immer eine Kritik der gesellschaftlichen Verhältnisse, sie war aber durchaus auch immer eine Kritik der politischen Bewegungen."
Fortschritt und Regression: Krisen der Gegenwart
Fortschritt ist ein zentraler Begriff für die Philosophie der Frankfurter Schule, der in der Geschichte dieser Denktradition nicht nur von Horkheimer und Adorno immer wieder kritisch hinterfragt worden ist. Doch in diese Selbstkritik gibt es einige blinde Flecken, wie die US-amerikanische Philosophin und Geschlechterforscherin Amy Allen von der Pennsylvania State University betont. Sie wirft der Kritischen Theorie vor allem einen unreflektierten Eurozentrismus vor.
In ihrem Buch "Das Ende des Fortschritts" zeigt Allen, die selbst in der Tradition der Kritischen Theorie steht, inwiefern deren Konzept von gesellschaftlichem Fortschritt einen inneren Widerspruch enthalte: Einerseits stelle es einen Zuwachs von Freiheit und Gleichheit in Aussicht, andererseits trage es selbst implizite imperialistische Züge - etwa eine stillschweigende Überzeugung von westlicher Überlegenheit oder Vorstellungen von allgemeingültigen Standards, an denen der Fortschritt "weniger entwickelter" Gesellschaften zu messen wäre.
Vorurteile wieder verlernen
Westlich definierte Standards würden aber in vielen Fällen das verfehlen, was für Menschen in ihrer jeweiligen Lebenslage wirklich wünschenswerter Fortschritt wäre, so Allen: "Meiner Ansicht nach müssen wir Fortschritt wesentlich kontextueller, lokaler und historisch spezifischer verstehen. Ziel ist es zuzuhören, Stimmen Unterdrückter und Marginalisierter wahrzunehmen. Fortschritt ist nur möglich, wenn wir herausfinden, wie wir einige unserer problematischen Haltungen wieder verlernen können."
Auch Gayatri Spivak, Literaturwissenschaftlerin an der Columbia University in New York und Mitbegründerin der postkolonialen Theorie, betont, dass die Begriffe "Fortschritt" und "Entwicklung" im Kontext humanitärer Zusammenarbeit oft einer westlichen Dominanz Vorschub leisten. Spivak schätzt die Frankfurter Schule, vermittelt ihren Studierenden Adorno und hält eine Dekolonisierung der Kritischen Theorie für wichtig, um sie für neue Perspektiven zu öffnen. Die eigentliche Herausforderung im Einsatz für bessere Lebensbedingungen sieht sie jedoch an anderer Stelle.
Bildung für die Ärmsten durch zivile Sabotage
Seit den 1980er-Jahren engagiert sich Spivak in Alphabetisierungs- und Bildungsprogrammen für Menschen am untersten Rand der Gesellschaft in Indien und weiteren Staaten Asiens und Afrikas. 1988 hat sie den sogenannten "Subalternen", die oft kein Land und keine Bürgerrechte besitzen, den Essay "Can the Subaltern Speak?" gewidmet. Von der Situation dieser Leute her betrachtet, erscheine die Frankfurter Schule eher als ein regionales, recht entlegenes Phänomen.
Spivak plädiert dafür, über Fragen von Kolonialismus und Dekolonisierung hinaus zu denken. Sie halte nichts davon, alles, was westliche Mächte in Ländern des globalen Südens errichtet haben, pauschal zu verdammen: "Ich möchte, dass wir diese bürgerlichen, zivilgesellschaftlichen Elemente, die uns der Imperialismus gebracht hat, affirmativ sabotieren", sagt Spivak. "Wir müssen diese Strukturen gegen sich selbst wenden, dürfen sie nicht schönreden, aber wir müssen sie nutzen, wenn wir zum Beispiel an der Lehrerausbildung arbeiten, so dass die Kinder der Ärmsten aufwachsen können."
Auf dieser Basis könne im besten Fall auch die Vorstellung von einer besseren Gesellschaft wachsen, sagt Spivak - und zwar eine, von der auch der Westen noch etwas lernen könnte: "Meine Hoffnung ist, dass wir zurückkehren zu der Idee, dass Demokratie nicht nur Freiheit bedeutet, sondern auch Gleichwertigkeit, dass sie die Kinder anderer Leute ebenso umfasst wie meine eigenen."