Hat der Jazz noch eine gesellschaftspolitische Dimension?
Der Jazz hatte einst den Stellenwert einer Art Befreiungsmusik, als Soundtrack für den Kampf um freiheitliche Rechte. Heute ist der Jazz nur noch ein Mythos. Zumindest für viele. Aber einige aktuelle Projekte versprechen Hoffnung auf eine Wiederbelebung des Genres.
Der Marktanteil des Jazz am Gesamtumsatz der Musik liegt in Deutschland seit langem bei etwa einem Prozent. In anderen Ländern sieht es kaum besser, teilweise sogar noch desaströser aus. Das steht in keinem Verhältnis zu der Masse an Jazzplatten, die jedes Jahr erscheinen.
Im Live-Bereich ist die Quote sicher etwas günstiger, aber auch da ist zu beobachten, dass die Konzertbesucher im Schnitt immer älter werden. Ganz im Gegensatz zu den Musikern selbst, die immer jünger auf höchstem technischen Level von den zahlreichen deutschen Hochschulen auf den Markt entlassen werden. Aber wo liegt das Problem? Warum leidet der Jazz unter einem derartigen Popularitätsschwund?
Soundtrack der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung
Das war nicht immer so. In den 1930er Jahren, der so genannten Swing Ära, waren Jazz und Pop identisch. Dabei war Jazz damals alles andere als eine politische Musik, aber sie stand für Tumult und Unangepasstheit. Musiker wie Benny Goodman, Count Basie und Duke Ellington nahmen aktiv zu politischen Ereignissen Stellung. Swingmusiker wie Goodman, Artie Shaw oder Red Norvo setzten sich selbstbewusst über die Rassenhürden hinweg und postulierten ein modernes Amerika. In den 1950er Jahren wurde Jazz erst zögerlich, aber dann immer offener der Soundtrack zur amerikanischen Bürgerrechtsbewegung. Musiker wie Max Roach und seine Frau Abbey Lincoln, Sonny Rollins, Art Blakey, Horace Tapscott oder Oscar Brown Jr. operierten immer offener mit dem Begriff Freiheit. Das Cover von Roachs 1959 erschienenen Album "We Insist! The Freedom Now Suite" nimmt die Ästhetik von Rappern wie Ice-T oder N.W.A vorweg.
In Europa, speziell in Osteuropa, war amerikanischer Jazz das Synonym für Kosmopolitismus und Freiheit schlechthin, was viele junge Musiker, allen voran Peter Brötzmann oder Peter Kowald, inspirierte, Jazz ihrerseits als Ausdruck des zivilen Ungehorsams zu praktizieren. Die amerikanische Regierung griff diese Impulse auf und schickte Jazzmusiker wie Dizzy Gillespie oder Louis Armstrong als musizierende Diplomaten in Krisengebiete.
Mit Erfolg. Armstrong drehte den Spieß sogar um und konnte Präsident Eisenhower auf diesem Weg Zugeständnisse in Sachen Gleichberechtigung abringen. John Coltranes "A Love Supreme" wirkte wie das musikalische Äquivalent zu Martin Luther Kings Rede "I Have A Dream". Musik musste damals nicht explizit politische Inhalte vermitteln, um von ihrer Haltung trotzdem immanent politisch zu sein. Dizzy Gillespie ging 1964 so weit, sich als unabhängiger Kandidat um die amerikanische Präsidentschaft zu bewerben.
Selbstverständnis und Außenwahrnehmung - zwei Welten
Von derartigen Entwicklungen kann heute kaum noch die Rede sein. Jazz kümmert sich in erster Linie um ein Thema, und das ist Jazz. Es mag vielleicht daran liegen, dass der Jazz weltweit komplett überschult ist und die akademischen Musiker nun auf einem immer engeren Markt beweisen müssen, was sie zu leisten in der Lage sind. Die Entpolitisierung des Jazz setzte in den mittleren 1970er Jahren ein, als der Free Jazz auf dem Rückmarsch war und es dem Fusion-Lager viel mehr um Fragen der Virtuosität und des Sounds ging als um Aspekte der Haltung und Aussage.
Das interne Selbstverständnis der Jazz-Szene und die Außenwahrnehmung klaffen weit auseinander. Nimmt die Jazz-Szene immer noch für sich in Anspruch, am spontansten auf äußere Ereignisse zu reagieren, sehen wir auf Feldern wie HipHop, Rock oder elektronischer Musik, vom Punk ganz zu schweigen, sehr prompte Reaktionen auf politische Ereignisse, Umweltprobleme und andere allgemeine Fragen des Lebens, während der Jazz – wenn überhaupt – eine außerordentlich lange Reaktionszeit hat. Ein prominenter Big Band Leader aus Süddeutschland frohlockte vor kurzem öffentlich, dass der Jazz das Privileg genieße, auf einem Elfenbeinturm stattzufinden.
In Amerika gab es vor zwei Jahren ein kurzes Aufbegehren von Jazzmusikern wie Terence Blanchard, Robert Glasper, Jaimeo Brown und einigen anderen, die sehr intensiv auf die damaligen Rassenunruhen in den USA reagiert haben, doch daraus hat sich keine neue Protestmusik wie in den 1950er Jahren ergeben. Insgesamt ist seit 9/11 der Trend zu verzeichnen, dass sich der Jazz ganz bewusst aus dem politischen Diskurs zurückzieht.
Ein Auftritt von Terence Blanchard:
Natürlich stellt sich die Frage, ob eine Kunstform explizit politisch sein muss. Das kann und muss ausdrücklich mit Nein beantwortet werden. Jeder Künstler hat selbstredend die Freiheit, immer und ausschließlich das zu tun, was er selbst für richtig hat. Aber genau darin liegt auch das Problem begründet. Der Spartenhörer, der sein Leben lang treu nur einer Musikform folgt, gehört ebenso unwiederbringlich der Vergangenheit an, wie der lebenslange Einparteienwähler.
Kaum mehr junge Hörer und noch weniger Fans
Anders als in der Vergangenheit, in der der Jazz noch von seinem Mythos zehren konnte, hört heute kaum ein junger Hörer Jazz ausschließlich aus Liebe zum Jazz um seiner selbst willen. Wenn Jazz-Musiker also nicht von sich aus das Bedürfnis erkennen lassen, sich mit ihrer Kunst auf die Themen zu beziehen, die ihre potentiellen Hörer im Alltag umtreiben, dürfen sie sich nicht wundern, wenn ihnen das Publikum abhanden kommt. Im amerikanischen Jazz gibt es ebenso wenige musikalische Reaktionen auf die Präsidentschaft Donald Trumps wie in Europa zu Rechtspopulismus, Flüchtlingskatastrophe oder dem drohenden Zerfall der EU. Der Jazz genügt sich selbst und hält sich raus. Die Hörer indessen greifen zu der Musik, die sich tatsächlich spontan auf aktuelle Fragen bezieht.
"Leitmotiv Grundgesetz" - ein von NIDO vertonter Clip:
Es gibt aber auch ermutigende Ausnahmen. In Berlin hat das Duo NIDO mit dem Vibrafonisten Hauke Renken und der Geigerin Maria Reich gerade eine CD mit dem Titel "Leitmotiv Grundgesetz" aufgenommen. In Zeiten, in denen sich immer mehr die Meinung verbreitet, die Bundesrepublik wäre nur eine Aktiengesellschaft von amerikanischen Gnaden und kein selbständiger Staat, und wir hätten ja nicht einmal eine eigene Verfassung, ist diese CD ein ebenso starkes wie unkonventionelles Statement. Umso mehr, als beide Musiker gerade Mitte 20 sind. Sie verzichten bewusst darauf, Texte aus dem Grundgesetz zu zitieren, sondern finden sehr undidaktische, poetische, rein instrumentale Kommentare zu Artikeln wie "Menschenwürde", "Gleichberechtigung", "Meinungsfreiheit" oder "Asylrecht".
"100 Jahre Jazz" - alle Beiträge zu unserem Themenschwerpunkt finden Sie in dieser Übersicht.