Kaisertum und Kommunismus
36:21 Minuten
In diesem Jahr feiert die Kommunistische Partei Chinas ihr 100-jähriges Bestehen. Sie spricht von einer Erfolgsgeschichte. Bald könnte das Land zur größten Volkswirtschaft der Welt aufsteigen. China – der Mittelpunkt der Welt. Wie einst das Kaiserreich.
"China ist neuer Exportweltmeister! Das Reich der Mitte exportierte nach Angaben des chinesischen Handelsministeriums Waren im Wert von 1202 Milliarden Dollar und überholt damit Deutschland." Das berichtet die Deutsche Welle im Februar 2010.
"In China gibt es jetzt mehr Milliardäre als in den USA. Nach der neuen ‚Hurun Global Rich List‘ überrundet der neue Geldadel in der sozialistischen Volksrepublik zahlenmäßig die 537 Milliardäre in den USA, der Heimat des Kapitalismus. In China haben 596 Superreiche ein Privatvermögen von umgerechnet mehr als einer Milliarde US-Dollar." So schreibt es die WELT im Oktober 2015.
Britische Wissenschaftler des Centre for Economics and Business Research in London haben ausgerechnet, dass die Volksrepublik China 2028 die USA als größte Volkswirtschaft der Welt ablösen wird. Das wäre eine Schlagzeile, die im Politbüro der Kommunistischen Partei in Peking sicher gefeiert werden würde. Als Krönung ihrer Erfolgsgeschichte, deren Wurzeln im Scheitern des Kaiserreichs liegen.
Kolonialmächte bringen Kaiserhaus zu Fall
1911: In Europa regieren noch Kaiser und Könige, in Russland der Zar. In China beginnt 1911 eine neue Zeit und es endet mit der einst ruhmreichen Qing-Dynastie die zweitausendjährige Epoche des chinesischen Kaiserreichs. Anfang des 19. Jahrhunderts lebten, so der britische Ökonom Angus Maddison, 36 Prozent der Weltbevölkerung in China – ein Drittel der weltweiten Wirtschaftsleistung wurde hier erbracht. Aber Korruption, fehlende Modernisierungen des Staates und äußere Einflüsse schwächten das Reich so sehr, dass es eine Beute der Kolonialmächte aus Europa, Nordamerika und Japan wurde.
Die chinesische Bevölkerung machte traumatische Erfahrungen mit der Einmischung von außen. Allein der Verkauf von Baurechten für Eisenbahnlinien an westliche Investoren sorgte für große Wut in der Bevölkerung. Es kam zu Aufständen gegen die Kolonialmächte und das Kaiserhaus. Hunderte pro Jahr.
1911 siegen die nationalistischen Rebellen. Unter ihnen ist auch Sun Yat-sen: ein geachteter Christ und Arzt, der aus dem Exil in den USA zurückkehrt und im Januar 1912 zum ersten provisorischen Präsidenten der Republik China ausgerufen wird. Später gründet er die Nationale Volkspartei Kuomintang, die nun das Land regiert.
1911 siegen die nationalistischen Rebellen. Unter ihnen ist auch Sun Yat-sen: ein geachteter Christ und Arzt, der aus dem Exil in den USA zurückkehrt und im Januar 1912 zum ersten provisorischen Präsidenten der Republik China ausgerufen wird. Später gründet er die Nationale Volkspartei Kuomintang, die nun das Land regiert.
Oktoberrevolution euphorisiert Chinas Kommunisten
Chen Duxiu ist 1915 ein bekannter Publizist und Uni-Professor. Erst in Shanghai, dann in Peking. Schon im Studium fällt er als öffentlicher Kritiker des Kaiserreichs auf. Chinas Kultur hält er für rückständig. Chen Duxiu fordert die vollständige Übernahme von westlichen Werten: Demokratie, soziale Gerechtigkeit und individuelle Freiheiten für alle Bürger. China solle zu einem modernen Nationalstaat werden – gleichberechtigt mit den westlichen Ländern. Seine Ideen publiziert er in Zeitschriften, schart vor allem junge liberale Studenten und Professoren um sich. Mit rund 50 Anhängern gründet er später die Kommunistische Partei Chinas und wird ihr erster Generalsekretär. 1917 erobern Lenin und die Kommunisten die Macht im Nachbarland Russland. Ein Fanal.
"Chinesische Intellektuelle waren begeistert, waren auch euphorisiert damals teilweise von dem Sturz des Zarenreiches, also durch die Oktoberrevolution. Man erhoffte sich, dass man auch diese neuen Ideen nutzen könnte, um auch etwas Ähnliches in China zu initiieren – und dadurch auch ein neues China mit revolutionärer Kraft zu begründen." So erzählt es Kristin Shi-Kupfer, Professorin für Sinologie an der Universität Trier und lange Jahre aktiv bei der China-Denkfabrik MERICS in Berlin.
Gründungsdatum der KP wurde nach hinten verlegt
"Es war nicht mal eine Kleinstpartei. Die KP war nur ein Flackern in der politischen Landschaft Chinas - bis in die 1930er-Jahre", sagt Frank Dikötter – Sinologe, Historiker und Uni-Professor in Hongkong.
Beide befassen sich seit Jahrzehnten mit der Kommunistischen Partei Chinas. Die hat ihre Gründung offiziell auf den 1. Juli 1921 in Shanghai datiert, obwohl der erste wichtige Kongress schon früher war. Aber zu dem Zeitpunkt war Mao Zedong noch nicht dabei. Kristin Shi-Kupfer:
"Ja, richtig. Das ist natürlich eine große Peinlichkeit aus Sicht der Kommunistischen Partei und natürlich auch mit der Rolle, die Mao Zedong später hatte, als Gründungsvater der Volksrepublik China, dass er in der Tat, so belegen es verschiedene Quellen, bei der wichtigsten Zusammenkunft der Kommunistischen Partei nicht dabei war. Er ist ja wirklich auch erst später zentral im Kontext des Langen Marsches Mitte bis Ende der 30er-Jahre ins Zentrum der Kommunistischen Partei gerückt. Das ist etwas, das man nicht so gern erzählt oder hört in China. In der Tat hat man da die Parteigründung etwas nach hinten verlegt."
Mao Zedong ist bis heute wichtig für die KP. Sein Konterfrei hängt noch immer bei Taxifahrern im Auto oder in ländlichen Gegenden an der Wand. In den 1920er-Jahren war er es, der den entscheidenden Strategiewechsel der Partei einforderte. KP-Generalsekretär Chen wollte wie in Europa die Arbeiter in den großen Städten mobilisieren. Mao dagegen setzte auf die Bauern – die mit Abstand größte Bevölkerungsgruppe in China.
Sinologin Shi-Kupfer: "Das war das Neue eines angepassten, sinisierten Marxismus, dass man eine revolutionäre Bauernbewegung initiiert hat. Die Bauern vor allem als revolutionäre Kraft gefördert hat."
Japan und Stalin sichern der KP den Sieg im Bürgerkrieg
Die Städte sind die Machtzentren der regierenden Kuomintang. Sie ist der KP lange überlegen, bildet mit ihr zeitweise eine Allianz. 1927 beginnt der Chinesische Bürgerkrieg: Die Kuomintang unter Chiang Kai-shek vertreibt die Kommunisten mit Gewalt aus vielen Städten. Mao und seine Anhänger gehen in die Peripherie. Anfang der 1930er-Jahre errichten sie im Südosten die Chinesische Sowjetrepublik mit zehn Millionen Einwohnern. Das Militär rückt an und zerschlägt dieses Experiment. Mao muss erneut flüchten und begibt sich mit seinen Guerilla-Kämpfern auf den Langen Marsch Richtung Nord-Westen. Nach Tausenden Kilometern ist er die tonangebende Kraft in der Kommunistischen Partei. Und seine Strategie, die Rote Armee als wahren Kämpfer gegen die japanischen Invasoren darzustellen, geht auf, erzählt Frank Dikötter.
"Die KP wurde erst beliebter, als Japan in China einmarschierte, 1937. Mao dankte später den Japanern, weil sie es geschafft hätten, was ihm nie gelang: seinen Gegner zu zerstören – die Kuomintang. Das taten die Japaner. Aber das war nicht der einzige Grund. Sogar 1945 – am Ende des Zweiten Weltkrieges – war die Kommunistische Partei in China noch immer eine relativ schwache Macht. Was wirklich den Unterschied machte, war natürlich die Sowjetunion. Die Leute fragen mich manchmal: Warum ist China 1949 kommunistisch geworden? Und ich sage dann immer: Warum ist die Hälfte Deutschlands 1949 kommunistisch geworden? Können Sie mir sagen warum?"
Reporter: "Wegen der Sowjetunion!"
"Genau. Es sind dieselben Gründe bei China. Stalin hat eine Million Mann in Sibirien zusammengezogen und marschiert im Norden Chinas ein, im August 1945. Die Rote Armee bleibt dort. Auch nachdem Japan besiegt ist. Die Sowjets überreichen praktisch den ganzen Norden Chinas an Mao und sie trainieren Maos Kämpfer. Sie gründen Militärakademien. Offiziere werden regelmäßig nach Moskau geschickt. Stück für Stück wird aus Maos Guerilla-Truppe eine Kampfmaschine. Die USA verabschieden sich 1945 von ihrem Verbündeten Chiang Kai-shek und der Kuomintang. So gab es kein Gleichgewicht mehr."
Stalin nennt Mao einen "Höhlenmarxisten"
"Die Gründung der Zentralregierung der Volksrepublik China wurde heute vollendet!"
Mit diesem schlichten Satz verkündet Mao am 1. Oktober 1949 auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking den neuen Staat. Sein berühmtes Zitat - "Die Chinesen sind aufgestanden" - fällt nicht in dieser Rede – anders, als in der offiziellen KP-Geschichtsschreibung vermerkt. Aber der Mao-Kult hat begonnen. Der 55-Jährige ist am Ziel. Nach 22 Jahren Bürgerkrieg - mit Millionen Toten, die auch er zu verantworten hat.
Mao kopiert anfangs vieles vom großen Unterstützer. Ein Freundschaftsvertrag mit Stalin sichert die wirtschaftliche Zusammenarbeit und den sowjetischen Einfluss in China. Aber beide misstrauen einander. Mao war nie länger in der Sowjetunion. Er kann weder Lenin noch Karls Marx im Original lesen wie andere moskautreue KP-Mitglieder in China. Stalin bezeichnet ihn als "Höhlenmarxisten". Ähnlich sind sich beide in ihrer Brutalität.
Der "Große Sprung nach vorn" bringt Millionen Tote
Mao geht zuerst gegen Landbesitzer vor. Er lässt ihren Besitz an Millionen Bauern verteilen. Wer sich wehrt, kommt ins Lager oder wird getötet. Es folgen Armeeangehörige, die als unzuverlässig gelten, vermeintlich korrupte Beamte, private Unternehmer, Intellektuelle und schließlich Parteimitglieder. Millionen werden getötet bei diesen Säuberungskampagnen. Doch Chinas Produktivität bleibt niedrig, die Versorgungslage schlecht.
Schon damals – in den ersten Jahren der KP-Herrschaft – gibt es moderate Kräfte in der Partei, die einen marktwirtschaftlichen Ansatz fordern. Aber die Linken unter Mao setzen auf die Zwangskollektivierung von Boden und Unternehmen. Es kommt zu Unruhen auf dem Land und Streiks in den Städten. Maos Befreiungsschlag soll der "Große Sprung nach vorn" sein. Diese Kampagne umfasst eine Vielzahl bizarrer Maßnahmen. So lässt er im ganzen Land primitive Hochöfen bauen, damit Millionen Chinesen auch ohne Stahlwerke die Stahlproduktion steigern. Aber sie verbrennen die umliegende Vegetation, und die Arbeitskräfte fehlen in der Landwirtschaft.
Der Hongkonger Sinologe Frank Dikötter: "Von 1958 bis 1962 gab es eine menschengemachte Hungersnot, als der Vorsitzende Mao glaubte, er könnte irgendwie die Wirtschaft des Landes transformieren, indem er jeden Mann und jede Frau auf dem Land zu einem Fußsoldaten einer gigantischen Armee macht. Das Resultat war ein Desaster: Zwischen 15 und 55 Millionen Menschen wurde zu Tode geprügelt oder sind verhungert. Das gab auch die Partei zu in ihrer offiziellen Geschichtsschreibung."
Als 70 Prozent gut und 30 Prozent schlecht, bewertet die KP heute Maos Politik, erklärt die Sinologin Kristin Shi-Kupfer: "Das ist ja schon während des Großen Sprungs und der Hungersnot danach klargeworden, dass das weniger von wirtschaftlichem Sachverstand, sondern von ideologischem Eifer getrieben wurde. Es gab durchweg, seitdem Mao diese zentrale Rolle innehatte, diesen Richtungsstreit innerhalb der Kommunistischen Partei."
Am Ende der Kulturrevolution stehen nur noch Ruinen
"Und dann wurde Mao aller überdrüssig, die seine Anweisungen hinterfragten und startete die Kulturrevolution 1966. An der Oberfläche war die Kulturrevolution dafür da, jeden Rest von Feudalismus, Kapitalismus und der bürgerlichen Gesellschaft zu vernichten. Klavier spielen war verboten. Das Lesen eines Romans war gefährlich. Traditionelle Oper zu hören, war untersagt. Aber natürlich nutzte Mao die Kulturevolution, um seine Feinde – ob eingebildet oder real – loszuwerden. Er spielte Leute gegeneinander aus: Familienmitglieder, Nachbarn, Parteimitglieder. Am Ende, 1976, als er stirbt, ist das ein Land, von dem nur noch Ruinen stehen. Der Lebensstandard 1976 ist niedriger als 1949, als das Land von der Partei erobert wurde." So blickt Frank Dikötter auf die dunklen Jahre unter Mao zurück.
Das ist nun 45 Jahre her. Damals muss man China als Entwicklungsland bezeichnen, bestätigt Kristin Shi-Kupfer. "Natürlich mit den Maßstäben gemessen im Vergleich zu dem Entwicklungsstand anderer Länder und natürlich der westlichen Industrieländer war China sicherlich in sehr, sehr großen Teilen ein Entwicklungsland. Auch in den großen Städten, auch die Verhältnisse, die dort geherrscht haben, auch was grundlegende soziale Sicherungssysteme angeht, auch so etwas wie Hygiene. All das war sicherlich nicht auf dem Stand eines Industrielandes, das war China in den 70er-Jahren nicht."
Wirtschaftlicher Aufstieg beginnt unter Deng Xiaoping
Das postmaoistische China hat nach Maos Tod in vier Jahrzehnten geschafft, was Mao nur propagiert hatte: den großen Sprung nach vorn. Mehr noch: den größten Sprung nach vorn, den je ein Land geschafft hat. Die Wende kam mit Deng Xiaoping, einem alten Weggefährten Maos auf dem sagenumwobenen Langen Marsch. Deng: ein Mann mit viel militärischer Erfahrung und einer Ausbildung in Moskau:
"Unsere Modernisierung muss auf Chinas Begebenheiten aufbauen. Wir müssen von der Erfahrung anderer Nationen lernen. Aber der Erfolg anderer kann nicht einfach kopiert werden. Wir müssen unseren eigenen Weg gehen. Wir müssen einen Sozialismus chinesischer Prägung errichten."
Diese Rede Dengs 1978 markiert die Wende zur wirtschaftlichen Öffnung Chinas. 20 Jahre wird er die KP und das Land faktisch regieren, ohne je Vorsitzender der Partei gewesen zu sein. Ein Pragmatiker, wie auch sein berühmtestes Zitat unterstreicht: "Es spielt keine Rolle, ob die Katze schwarz oder weiß ist, Hauptsache sie fängt Mäuse."
Unter Deng wurden erstmals wieder Bauernmärkte zugelassen, erzählt die Sinologie-Professorin Shi-Kupfer: "Auch, dass Bauern ihre Parzellen nicht mehr kollektivistisch, also zwangskollektiviert bewirtschaften mussten, das war sehr ineffizient, sondern, dass man das wieder in die Hand von einzelnen Haushalten gegeben hat, also die Motivation dort erhöht hat. Und dann auch zunehmend so etwas wie Kleinunternehmertum, private Händler, Dienstleistungsanbieter, von Fahrradreparaturen bis hin zu kleinen Restaurant-Buden in den Städten, auch zunehmend zugelassen hat."
Freie Marktwirtschaft kehrte aber nicht in China ein. Frank Dikötter nennt es eine Abkehr des radikalen Kurses unter Mao: "Was nach 1976 passierte, ist das Zurückkehren zu klassischen marxistischen Prinzipien, die wir bis heute haben: Die Partei akzeptiert, nicht mehr in diesem Ausmaß in das Leben von normalen Leuten hineinzuregieren: Sie dürfen sich frei einen Beruf aussuchen, Firmen gründen und eigenes Geld verdienen, aber all das Geld geht zu den Banken – und die Banken gehören dem Staat, und das Land gehört dem Staat. Die Industrie gehört dem Staat. Das ist das gute, alte marxistische Modell zur Kontrolle des Staates und der Produktion."
Niederschlagung der Demokratiebewegung
Deng Xiaoping lenkt den Arbeitsgeist der Chinesen in produktive Bahnen. Schnell stellen sich zweistellige Wachstumsraten ein. Auch außenpolitisch setzt er die Öffnung zum Westen fort, die 1972 begann, durch den Besuch von US-Präsident Nixon bei Mao.
Mit Margaret Thatcher handelt er die Rückgabe von Hongkong an China aus – unter der Maßgabe "Ein Land, zwei Systeme". Das "Time-Magazin" kürt Deng Xiaoping 1985 zur "Person des Jahres". Nun schöpft auch die Demokratie-Bewegung Hoffnung.
Die Rufe nach politischen Reformen werden lauter. Millionen versammeln sich 1989 landesweit zu Protesten – die bekanntesten in Peking, auf dem Platz des Himmlischen Friedens.
Die Hoffnung, dass die KP Chinas unter Deng mehr Demokratie wagen würde, zerstören die Panzer am 4. Juni 1989 auf dem Platz des Himmlischen Friedens. Deng hat die blutige Niederschlagung der Demokratiebewegung befohlen.
Die roten Linien der KP Chinas
Die KP hatte Angst, die Kontrolle zu verlieren. Und das ist der rote Faden, der sich von den Kaisern bis zu den Kommunisten durch die chinesische Geschichte zieht: Die Regierung, der Staat, muss immer die Kontrolle behalten. Frank Dikötter reiste Mitte der 80er-Jahre erstmals nach China.
"Studenten wurden verhaftet, weil sie Kontakt mit Ausländern hatten. Es gab eine regelrechte Mauer zwischen uns und der lokalen Bevölkerung. Es war sehr klar, dass jegliche grundlegenden Freiheiten – wie das Zusammenkommen, die Religionsausübung oder die freie Meinungsäußerung – sehr kurz gehalten wurden."
Frank Dikötter kommt aus den Niederlanden – ist Historiker und Sinologe. Seit 15 Jahren lebt er in Hongkong, arbeitet dort als Uni-Professor und hat zahlreiche preisgekrönte Bücher zur Geschichte Chinas veröffentlicht. Aber zur aktuellen politischen Lage in Hongkong will er nichts sagen. Eine rote Linie. Davon gibt es immer mehr. Wer noch nach China will oder gerade dort arbeitet, sollte sie lieber nicht überschreiten, sagen mir viele Menschen, die ich für diese Sendung angesprochen habe.
China bei Ranking zur Pressefreiheit weit hinten
Felix Lee war neun Jahre China-Korrespondent für die Tageszeitung "taz" und andere Zeitungen in Peking. Jetzt beobachtet er die Lage aus Deutschland, hat keine Notwendigkeit, wieder ins Land zu kommen, und kann so ganz offen sprechen:
"Chinesische Journalisten stehen massiv unter Druck. Ausländische Journalisten oder Korrespondenten, die jetzt in Peking sind, die haben es vor allem in der Recherche schwer. Man findet immer schwieriger Gesprächspartner. Während man bis 2012 durchaus Experten, Professoren, Anwälte, chinesische Journalisten – mit denen man relativ offen über auch kritische Themen reden konnte, ist das nicht mehr möglich. Einige Experten sind sogar verhaftet, oder man kriegt immer wieder die Antwort: Passt gerade nicht – oder gar keine Antwort mehr."
Reporter ohne Grenzen listet die Volksrepublik China auf Platz 177 von 180 Staaten: Nur in Eritrea, Turkmenistan und Nordkorea gibt es weniger Pressefreiheit. Demnach sitzen in China mehr als 100 Medienschaffende wegen ihrer Arbeit im Gefängnis, mehrere Bürgerjournalisten, die über die Coronakrise berichten wollten, wurden festgenommen oder verschwanden.
Und viele ausländische Journalistinnen und Journalisten dürfen gar nicht ins Land - wie Katie, die eigentlich anders heißt und anonym bleiben will.
"Das fühlt sich natürlich blöd an, weil ich seit vielen Monaten in der Luft hänge. Eigentlich hatte ich das alles anders geplant. Wobei dieses Gefühl, abhängig zu sein von einer Diktatur, die nicht will, dass ich einreise, was relativ offensichtlich ist, das ist das blödere Gefühl, als hier in der Luft zu hängen."
Felix Lee: "Die Pandemie wird jetzt ja vorgeschoben in China, um ausländische Journalisten momentan gar nicht reinzulassen."
Katie: "Die Journalisten, die ich kenne, die mit mir nach China wollen, die sind allesamt nicht reingekommen. Das steht natürlich im Kontrast zu Leuten aus der Wirtschaft, denen die Reise im Sommer nach China ermöglicht wurde. Das heißt, es ist relativ eindeutig, warum für die Kollegen inklusive mir kein Visum ausgestellt wurde. Um sich eben kritische Berichterstattung vom Hals zu halten."
Tabus wie Taiwan, Hongkong oder die Uiguren
Seit Jahren berichtet John aus China. Auch er trägt einen anderen Namen und möchte anonym bleiben, um seine Arbeit als Journalist nicht zu gefährden. Regelmäßig muss er beim Außenministerium vorsprechen.
"Damit man die Arbeitserlaubnis bekommt, wird man vorgeladen zu einem Gespräch. Der Ton hat sich von chinesischer Seite enorm verschärft. Sie sprechen häufig von objektiver oder neutraler Berichterstattung, die sie bei uns vermissen. Es geht vor allem um Themen, die China als rote Linie betrachtet. Das waren früher Taiwan und Hongkong. In den letzten Jahren ist auch die Uiguren-Region Xinjiang dazu gekommen. Da reagieren sie extrem aggressiv und drohen, dass sie Visa nicht mehr verlängern, wenn man über gewisse Themen berichtet. Und jetzt kam auch Xi Jinping dazu, der Staats- und Parteichef. Kritik oder konkrete Porträts über seine Person bringen sie auf die Palme."
Was und wer über China schreibt, will die KP in ihrem Selbstverständnis selbst entscheiden, sagt mir John: "Sie halten sozusagen ein Monopol über China. Das, finde ich, ist eines der Kernprobleme. Man muss sich erst einmal klarmachen, dass die chinesische Regierung sämtlichen Zugang zum Land kontrolliert. Das trifft ja nicht nur Journalisten, sondern auch Wissenschaftler. Teilweise durften einige der führenden Sinologen seit 30 Jahren nicht mehr nach China einreisen, weil die chinesische Regierung ihnen die Einreisevisa nicht genehmigt, was natürlich zu einer massiven Selbstzensur führt. Ein Kollege hatte neulich in einer Provinz recherchiert. Dann wurde er ins Außenministerium einbestellt und man hat ihm gesagt: Wenn du diese Geschichte bringst, dann fliegst du raus – und zwar in sieben Tagen! So offensiv und so aggressiv, wie man mit Journalisten jetzt umgeht, ist es wahrscheinlich nie vorher in China gewesen."
Es gab mal eine Zeit, in der – so erzählt man es sich unter China-Korrespondenten - habe die chinesische Führung morgens die "New York Times" aufgeschlagen, um zu wissen, was in China wirklich passiert. Aber diese Zeit sei vorbei, so John:
"Die KP gibt sich einerseits selbstbewusst, offensichtlich betrunken vom Gefühl der Stärke und gleichzeitig paranoid. Sie versucht jegliche Kritik am System zu unterbinden. Und das hat Xi Jinping auch selbst ausgerufen. Man solle jetzt die Great China Story erzählen und die soll eben von der Kommunistischen Partei und ihren Staatsmedien erzählt werden."
KP: "Chinesische Regierung schützt die Meinungsfreiheit"
Wie sieht das die chinesische Führung? Ich wende mich an die chinesische Botschaft in Berlin. Ein Interview lehnt sie ab, stattdessen erhalte ich eine Stellungnahme der Pressestelle per Email. Darin heißt es:
"Der Vorwurf entspricht nicht der Tatsache. Ganz umgekehrt. Schon ab Mai 2020 hat China mit Deutschland als erstem europäischen Land das 'Fast Track'-Verfahren eingeführt, damit über Tausende vor allem aus Wirtschaft, Handel, aber auch deutsche Journalisten nach China gereist sind.
China sowie weltweit viele andere Länder haben pandemie-bedingt Einreiseregelungen verschärft, die alle Reisenden betreffen. Journalisten sind auch nicht gegen Virus gefeilt, mit ihnen kann China keine Ausnahme machen. Dank dieser umfassenden, strengen und wirksamen Maßnahmen in China haben wir die Pandemie hierzulande relativ früh unter Kontrolle gebracht. Das chinesische Volk ist dafür der Regierung sehr dankbar.
Derzeit sind rund 500 ausländische Pressevertreter in China akkreditiert. Ihre Arbeit in und über China ist weiterhin möglich, sobald ihre Tätigkeit in Übereinstimmung mit dem chinesischen Gesetz sowie Pandemie-Maßnahmen steht. Nicht nur das chinesische Außenministerium, sondern auch das Pressebüro des Staatsrats sowie fast alle Ministerien, lokale Regierungen halten regelmäßig Pressekonferenzen zu aktuellen Themen ab und stellen sich unmittelbar den Medien.
Inzwischen sind mehr als 1000 ausländische Journalisten, Diplomaten sowie Vertreter der Religionsgruppen aus über 100 Ländern nach Xinjiang gereist, manche auch nach Hongkong, um Berichterstattungen vor Ort zu machen. Falls sie der sogenannten "Ausreise-Drohung" oder anderer "Einschüchterung" von den Behörden ausgesetzt sind, dann stellt sich die Frage: Warum leben und arbeiten in China so viele ausländische Journalisten? Woher kommen täglich so viele China-bezogene Berichte ausländischer Medien, wobei kritische Stimmen durchaus vorhanden sind?
Wir müssen klar stellen, was wir allerdings ablehnen, sind ideologische Voreingenommenheit gegenüber China, die selektive, einseitige Berichterstattungen und politische Hetzkampagnen, die die Pressefreiheit missbrauchen und gegen die journalistische Berufsethik verstoßen.
Die Organisation Reporter ohne Grenzen ist voller tief verwurzelten ideologischen Vorurteile und ist nicht dafür bekannt, die objektive Berichterstattung zu fördern. Die Meinungsfreiheit ist in der Verfassung Chinas verankert und die chinesische Regierung schützt wie Deutschland die Meinungsfreiheit der Bürger in Übereinstimmung mit dem Gesetz. Heute erscheinen in China Tausende und aber Tausende Zeitungen und Zeitschriften, und China zählt rund 1 Milliarde Internetnutzer, mehr als irgendwo sonst auf der Welt. Mit der breiten Nutzung der sozialen Medien werden in China verschiedenste Meinungen ausgetauscht.
In der digitalen Zeit grassieren Fake News, Desinformation, Verschwörungstheorien und grundlose Verleumdungen im Internet, die nicht nur die Meinungs- und Pressefreiheit missbraucht, sondern auch viel Schaden für die öffentliche Ordnung angerichtet haben. Gegenseitig Vorwürfe zu machen ist viel einfacher als wir zusammenstehen und den gemeinsamen Herausforderungen stellen."
Chinas Erfolg wegen oder trotz der Kommunistischen Partei?
Zu dieser Antwort erhalte ich von der Botschaft noch ein Buch mit dem Titel: "Kennen Sie die Kommunistische Partei Chinas?", Verlag für Fremdsprachige Literatur. Roter Rand mit Hammer und Sichel. Auf dem Buchrücken steht:
"Die Kommunistische Partei Chinas kann auf eine Erfolgsgeschichte von 90 Jahren seit seiner Gründung 1921 zurückblicken. Unter ihrer Führung hat das chinesische Volk nach der Gründung der Volksrepublik 1949 den Weg eines Sozialismus chinesischer Prägung eingeschlagen. Wie erzielte die Kommunistische Partei diese Erfolge?"
"Ich stelle mir oft ganz ehrlich gesagt die Frage: Wo wäre China, wenn es nicht 1989 gegeben hätte, oder wenn es eine politische Führung gegeben hätte, die der ganzen Kreativität, die in dieser Gesellschaft steckt, wenn man dem noch sehr viel mehr Raum gelassen hätte. Also wer weiß, wo China jetzt wäre. Von ihrem innovativen und wirtschaftlichen Potenzial. Das könnte sein, dass China sehr viel weiter wäre, als es das jetzt ist."
Also die große Erfolgsgeschichte Chinas trotz und nicht wegen der Kommunistischen Partei? So sieht es die Sinologin Kristin Shi-Kupfer. Seit den 90er-Jahren ist sie in China unterwegs, hat einen Publizisten aus China geheiratet, somit Familie und viele Freundschaften im Land, auch zu Aufsteigern, die zu viel Geld gekommen sind.
"Ich denke an einen guten Freund von mir, der hat zunächst angefangen, bei Alibaba zu arbeiten, später auch bei anderen großen Internetunternehmen, hat sich jetzt selbstständig gemacht, investiert jetzt, hat mit anderen Freunden einen Investmentfonds. Das ist sicherlich die Geschichte eines Aufstiegs, der Wohlstandsmehrung sicherlich. Der hat es aus eigener Kraft geschafft und nicht unbedingt, weil das eine effiziente politische Führung ist. Sondern aus eigener Kraft. Das ist es, was die Volksrepublik China zu dem gemacht hat, was es ist: sehr viele Menschen, die bereit waren, viel zu investieren, viel an Lebenskraft, an Zeit, an Energie."
Wenn überhaupt Politiker der Kommunistischen Partei hier zu erwähnen sind, die nicht gebremst, sondern für Fortschritt gesorgt haben, dann fällt dem Sinologen Frank Dikötter nur der Name eines oft belächelten KP-Führers aus den 90er-Jahren ein:
"Der eigentliche Mann, der die Volksrepublik China transformiert hat, ist Jiang Zemin und nicht Deng Xiaoping. Jiang Zemin wollte China in die Welthandelsorganisation bringen, was er 2002 geschafft hat. Es war Jiang Zemin, der in den 90er-Jahren Chinesen ins Ausland geschickt hat. Es war Jiang Zemin, der in Firmen im Ausland investieren ließ. Die ganze Reichweite Chinas heute datiert aus dieser Zeit."
Xi Jinping hat mehr Macht als der Kaiser
Der aktuelle starke Mann Chinas heißt Xi Jinping. Seit 2012 ist er Generalsekretär der KP. Er schaffte die seit Deng geltende Amtszeitbeschränkung ab. Selbst innerhalb der Nomenklatura ist ein regelmäßiger Machtwechsel nun nicht mehr vorgesehen. Den 91 Millionen Parteimitgliedern wird er also noch lange die Richtung vorgeben. Historiker Dikötter sieht Parallelen zur Herrschaft des Kaisers:
"Ja, in der Tat. Diese Art von Misstrauen gegenüber allem, was irgendeinen Anschein danach hat, die Macht teilen zu wollen. Das ist der springende Punkt. Es kann nur eine Sonne am Himmel geben. Ein Kaiser teilt keine Macht. Heute ist es die gleiche Geschichte. Es kann nur einen Tiger auf dem Berg geben."
Solange der rasante wirtschaftliche Aufstieg Chinas anhält, werden die 1,4 Milliarden Chinesen die KP gewähren lassen. Aber der Traum vieler vom Wiederaufstieg Chinas zur alten Größe wie einst unter den ruhmreichen Dynastien, in denen China sich als Mittelpunkt der Welt bestaunen konnte, unter der Losung "Alles unter dem Himmel" – dieser Traum könnte sich zum Albtraum entwickeln. Denn im Kaiserreich gab es noch unbeobachtete Ecken, gibt Kristin Shi-Kupfer zu bedenken:
"Auch im Kaiserreich galt, dass es eine gewisse Autonomie gab. Der Kaiser war nicht überall. Anders als der Anspruch jetzt der Kommunistischen Partei unter Xi Jinping der Slogan: ‚Die Partei regiert über alles', regiert in alles hinein. Überall müssen Parteizellen eingerichtet oder reaktiviert werden. Das ist schon ein anderer Anspruch, als man ihn damals haben konnte. Man hatte auch nicht die technischen Möglichkeiten."
Überwachungsstaat mit allumfassender Kontrolle
Frank Dikötter: "Im 19. Jahrhundert hatten wir keine modernen Technologien wie Kameras, Maschinengewehre, Panzer. Und genau deshalb ist es so wichtig, Gewaltenteilung zu haben – die Macht zu teilen. Es ist jetzt eine ganz neue Situation: Wir haben einen Punkt überschritten, an dem mehr Geld investiert wird für Kameras in Dörfern in Tibet als für Grundschulen. Es ist ein Überwachungsstaat geworden."
Neu ist auch der Anspruch der chinesischen Führung weltweit, den Ton anzugeben. Hatte das Kaiserreich einst mit seinem Tributsystem den Handel in Asien beherrscht, machen chinesische Investitionen entlang der neuen Seidenstraße nun Länder in Europa, Afrika und Südamerika abhängig von Peking.
Kristin Shi-Kupfer: "Ich glaube, wenn man Xi Jinpings Regierungsdevise in einem Wort zusammenfassen würde, dann würde ich wirklich sagen: Kontrolle! Oder wenn ich zwei Wörter hätte: allumfassende Kontrolle!"
Kristin Shi-Kupfer: "Ich glaube, wenn man Xi Jinpings Regierungsdevise in einem Wort zusammenfassen würde, dann würde ich wirklich sagen: Kontrolle! Oder wenn ich zwei Wörter hätte: allumfassende Kontrolle!"