Sauna, Marimekko, Koti - Was ist finnisch?
Nokia, Bildung, Design - das kleine Finnland hat einige Exportschlager produziert seit der Unabhängigkeit am 6. Dezember 1917. Zum Jubiläum hat unsere Reporterin die Heimat ihrer Mutter bereist, um zu erkunden, was ist eigentlich finnisch?
Was ist finnisch? Einleitung
Finnland, das ist: Die lichte Energie von Mittsommer, die Wälder und endlosen Weiten. Das tiefe Blau der Seen, der hüfthohe Schnee. Roggenbrot, Räucherfisch und Piroggen. Pragmatismus, Funktionalismus, Ehrlichkeit, Naturverbundenheit. Die viele Kunst, die in der Einsamkeit entsteht.
Aber Finnland ist noch mehr: Ein Drittel der Polizei in Helsinki ist in rassistischen Kreisen aktiv, wie kürzlich herauskam. Die Selbstmordrate ist nicht nur unter Jugendlichen hoch. Wenn man am Wochenende abends durch die Straßen zieht, brüllen kaputte Betrunkene vor den Kneipen oder liegen auf den Bürgersteigen. Das hat etwas Rohes und Tragisches. Und sieht aus wie ein Ausschnitt aus einem Kaurismäki-Film.
Und wie bei Kaurismäki reden nicht alle Finnen gern. Oder eben nur dann, wenn es nötig ist. Und wenn sie sicher sind, dass stimmt, was sie sagen. Das ist auch für mich als Halbfinnin eine Herausforderung.
Was ist finnisch? Kapitel 1 - Die Sauna
Die Sauna ist wohl das einzige finnische Wort, das weltweit bekannt ist. Sie hat für die Finnen fast existenzielle Bedeutung. Sie ist immer da und überall: In jedem Haus, bei der Arbeit, bei Partys, im Parlament. Schon vor hunderten Jahren begleitete die Sauna die Finnen buchstäblich von der Geburt bis zum Tod. Heute ist die Sauna ein geradezu heiliger Ort, an dem die Finnen über Gefühle reden und Männer sogar weinen dürfen.
"Jetzt Holz ins Feuer. Wir machen die Sauna hier eigentlich jeden Tag an. Und dann: So viel Aufguss bis man richtig ins Schwitzen kommt!"
Ein Spätsommerabend in Kalajoki, einem Ort an der westfinnischen Küste. Mein Onkel Matti schiebt noch einen Holzscheit in den Saunaofen. Die Saunahütte steht nur ein paar Meter vom Strand entfernt zwischen Sand und Gräsern.
"Die Sauna ist immer dabei. Als ich vor einigen Jahren geschäftlich im Irak war, haben wir dort auch als erstes eine Sauna gebaut."
Natürlich hat Matti auch die Saunahütte hier am Strand selbst gebaut.
Ihr großes Saunaglück teilen die Finnen mit allen – auch mit ihren Haustieren. Der Hund meines Onkels schwitzt immer mit.
"Mein Vater, der hatte eine Sau. Die wurde immer mit in die Sauna genommen. Sogar als sie 70 Kilo wog, wurde sie auf die Bretter gewuchtet. Sie war dann den ganzen Abend mit in der Sauna, und der letzte, der rausging, musste sie mit runter nehmen."
Mein Freund Eki wohnt in Helsinki in einer Dreizimmerwohnung. Wenn er nicht hier in der Sauna sitzt, dann in seinem Mökki – der finnischen Sommerhütte – oder irgendwo auf der Ostsee oder dem Mittelmeer: Selbst in sein Segelboot hat Eki eine Sauna eingebaut.
"Das ist für mich ein Entspannungsort. Ich mache kein Yoga, aber das ist mein Yoga. Wie eine Kur. Noch ein bisschen Aufguss?"
Gut fünf Millionen Einwohner hat das Land – und schätzungsweise 3,2 Millionen Saunen. Es gibt sie am Meer, am See oder als Briefmarkenmotiv. In Hotels, in der altehrwürdigen Sibelius-Akademie, im Rathaus. In der Parlamentssauna wird parteiübergreifend sauniert. Bei Manövern der Armee ist eine Zeltsauna im Gepäck. Die Sauna ist so fest in der Lebensart verwurzelt, dass sie in Gedichten auftaucht oder im Repertoire von Heavy-Metal-Gruppen.
Was ist finnisch? Kapitel 2 - Design
Ein Sommersonntag auf dem Hakaniemi-Flohmarkt in Helsinki. Auf dem Platz sitzt ein Mann mit Baskenmütze und Gitarre und singt. Daneben sitzen die Leute an Plastiktischen mit Kaffee und Pulla, dem finnischen Hefegebäck.
Ganz Finnland ist teuer, die Flohmärkte sind eine Ausnahme. Selbst Design-Klassiker sind für überschaubare Summen zu haben. Das, was man eben so kennt als Finnisch: Arabia-Keramik, Gläser von Iittala, T-Shirts oder Tischtücher von Marimekko.
"Finnland ist ein Designland, Design in Finnland ist demokratisch, es ist praktisch und gehört zum Alltag: Fast alle Finnen haben Geschirr von Arabia oder eine Fiskars-Schere zu Hause. Anderswo ist Design sehr teuer und wird in Läden verkauft, in die viele sich gar nicht reintrauen. Hier gibt es Design im Supermarkt und es ist ständig überall und für jeden sichtbar."
Päivi Tahkokallio kennt sich aus. Sie ist in der Designszene umtriebig, hat Bücher geschrieben und konzipiert die jährliche Arctic Design Week. Tahkokallio glaubt, dass das auch an der Handarbeitstradition liegt – lange Winter, viel Handarbeit – auch als Unterrichtsfach. Die Entwürfe sind oft organisch, funktional, mit Formen, die an die Natur angelehnt sind.
Das hat Helsinki schon den weltweiten Titel "Design-Hauptstadt" eingebracht und jedes Jahr findet die Design-Week mit diversen Extras statt. Dieses Jahr ist Koti ein Teil davon.
Koti heißt Heimat, oder Zuhause – und Koti gibt es gleich mehrfach in Form von hellen Sommerhütten aus Holz, die gemietet werden können.
"Die Hütten sollen das finnische Lebensgefühl spiegeln. Die Finnen sind scheu – man kann sich hier zurückziehen, aber auch Gesellschaft finden. Die ganze Sommerhüttenkultur ist ja sehr finnisch, und oft bestehen sie aus einer Haupthütte und einer kleinen Schlafhütte."
Tytti Siukonen ist Koti-Produzentin und hat als Wahl-Französin auch einen Außenblick auf das finnische Design.
"Da ist schon eine Nostalgie, wenn ich irgendwo iittala, Virkkala oder so sehe, das macht ein warmes Gefühl, da ist Finnland in der Welt. Wir sind ein kleines Land, da ist das nicht selbstverständlich."
Aber oft sind es aber die altbekannten Klassiker, die einem im Alltag begegnen, so Design-Expertin Päivi Tahkokallio:
Aber oft sind es aber die altbekannten Klassiker, die einem im Alltag begegnen, so Design-Expertin Päivi Tahkokallio:
"Die goldenen Zeiten des finnischen Designs waren die 50er und 60er. Damals war das Angebot klein, es gab auch kaum Sachen aus dem Ausland. Als das finnische Design dann auch im Ausland erfolgreich wurde, wurde es hier noch beliebter. Jetzt ist das alte immer noch da, dazu gibt es viel Neues und viel Internationales. Angebot und Auswahl sind viel größer."
Finnland will hier vorne mitspielen in der Welt – da sind sich die Kreativen auch bei der jährlichen Arctic Design Week in Rovaniemi einig. Heli Huhtamäki zum Beispiel vertritt die regionale Handelskammer:
"Ich glaube, die Zukunft gehört der Kreativität, smarten Textilien zum Beispiel. Finnland sucht sein neues Nokia. Aber das wird nicht kommen! Wir müssen was Neues suchen. Wir müssen von Nokias Erbe loskommen!"
Was ist finnisch? Kapitel 3 - Nokia
Nokia und Finnland – einst ein unzertrennliches Paar. Bis zum Zusammenbruch.
Eigentlich wollte ich im Nokia-Laden vorbeischauen, in der Einkaufsstraße Aleksanterinkatu in Helsinki, prominent gelegen gleich beim Hauptbahnhof. Aber das Geschäft gibt es nicht mehr. Auch kein anderes. Dafür ist der Apple-Store in der angrenzenden Straße voll. Immerhin hält Nokia noch die Technologiepatente, kassiert also immer noch Lizenzzahlungen. Auch von Apple.
Eine Erinnerung an große Zeiten, sagt Jussi Salmio. Er hat jahrelang bei Nokia gearbeitet und führt jetzt ein eigenes kleines Tech-Unternehmen, in einem hippen Co-Working-Space mit Blick über die Dächer Helsinkis. Am Eingang ziehen alle, wie in Finnland auch bei der Arbeit oft üblich, die Schuhe aus. Über den Konferenztisch ist ein Tischtennisnetz gespannt.
"Nokia war Finnlands wichtigste Marke. Das war schon toll, da dabei und ein Teil davon zu sein. Wir haben uns alle verbunden gefühlt. Und Nokia hatte eine Vision. Aber die Vision wurde von der Realität überholt."
"Die Finnen vergleichen sich oft mit den Schweden. Die sind nicht herausragend in der Produktion, dafür bei Marketing und Verkauf. Da hinken die Finnen hinterher."
Auch die Inhalte wurden zum Problem: Der träge Telekommunikationsriese verpasste den Anschluss auf dem Mobilfunkmarkt. Nokia-Werke wurden geschlossen oder nach Asien verlegt. Und zum ersten Mal in der über 100-jährigen Firmengeschichte war der Firmenboss kein Finne: 2010 übernahm der Kanadier Stephen Elop die Geschäfte. Aber alles Sparen half nichts, der Konzern rutschte weiter in die roten Zahlen.
Dabei war Nokia nicht einfach nur eine Firma. Nokia war so etwas wie die Seele Finnlands geworden. Als alles anfing, Anfang der 90er, war Esko Aho Ministerpräsident:
"Nokias Erfolgsgeschichte zeigte die finnischen Stärken: Wir Finnen sind von Natur aus Problemlöser und mochten Technologie schon immer: Bis in die 50er war das Leben hier sehr spärlich, Abgelegenheit, harte Winter: Alles was das Leben einfacher machte, wollte man haben. Elektrisches Licht zum Beispiel gab es in Finnland früher als in Berlin oder London, Telefon hatten wir ein Jahr nach seiner Erfindung."
Bis in die 70er Jahre war Nokia ein Mischkonzern. Alte Werbeplakate zeigen Stöckelschuhe und Autoreifen. Es gab Nokia-Gummistiefel und Klopapier, sogar Gasmasken und Schwingungsmesser für Kernkraftwerke. In den 80er-Jahren wurde Nokia zum High-Tech-Unternehmen, später zum reinen Handykonzern. Damit rettete Nokia Finnland Anfang der 90er-Jahre nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion aus einer tiefen Rezession und wurde Weltmarkführer, Handys "Made in Finland" waren Kult. Um das Jahr 2000 steuert Nokia mehr als vier Prozent zur Wirtschaftsleistung Finnlands bei und fast ein Viertel der Exporte. So eine Abhängigkeit von einem Unternehmen gab es in keinem anderen Industrieland.
Nun muss ein neues Nokia her. Auch wenn der Konzern noch immer Milliarden umsetzt – mit Netzwerktechnik und Patenten. Er beschäftigt immer noch mehr als 100.000 Mitarbeiter und will mit grüner Umwelttechnik wieder wachsen. Ausgerechnet grüne Technologien, verbraucht Finnland doch pro Kopf soviel Strom, wie kein anderes EU-Land. Und auch der CO2-Ausstoß ist trotz Atom-, Bio- und Wasserkraft sehr hoch. Als Ersatz für das frühere Nokia taugt das aber nicht, glaubt Ex-Mitarbeiter Jussi Salmio.
"Naja, Cleantech, das machen ja alle. Man müsste was Neues finden, was Zukunftsträchtiges, was noch nicht alle erforschen. Vielleicht in Richtung Augmented Reality, Künstliche Intelligenz und so weiter. Darin sind die Finnen schon gut, allerdings nicht so außerordentlich wie damals Nokia mit seinen Handys."
Aber Jussi Salmio ist zuversichtlich, dass die Finnen ihr neues Nokia finden. Weil sie pragmatisch geblieben sind und lösungsorientiert, weil ihre Leidenschaft für Technik und Technologie nicht angekratzt ist. Und dann ist da natürlich das typisch finnische und schwer übersetzbare Sisu: Zähigkeit, Leidensfähigkeit, Ausdauer. Und: Die Finnen sind nicht mehr so risikoscheu, sagt Ex-Premier Esko Aho, der später noch als Top-Manager zu Nokia wechselte:
"Früher gab es kaum Unternehmensgründer. Das hat sich sehr verändert. Die jungen Leute haben jetzt den Mut, einfach zu machen. Und wenn man sich die jüngste Entwicklung anguckt: Finnlands Wirtschaft wächst das erste Mal nach zehn Jahren wieder. Ein Grund: Die finnische Vielseitigkeit, die auch für Nokia bezeichnend war: Technologie, Design und Funktionalismus zusammen. Das hat Geschichte: In unserem kalten und harten Winter muss alles funktionieren. Man muss kreativ und vielseitig sein, Häuser bauen, Getreide lagern, etc. In größeren Ländern sind die Aufgaben verteilt, aber hier musste alle alles können. Und ich glaube, die Digitaltechnologie wird diese finnische Stärke krönen."
"Nokia hat uns das Bewusstsein gegeben, dass man im kleinen Finnland international groß werden und es mit großen Playern aufnehmen kann. Klar erfüllen sich nicht alle Visionen, aber wenn es viele gibt, dann erfüllen sich ein paar davon. Die Start-Up-Szene hier hat sich enorm entwickelt, wir haben mit Slush sogar einen der weltweit wichtigsten Szenetreffs."
Tatsächlich wurde durch den Niedergang Nokias viel technisches Know-how frei, das jetzt in Start-ups genutzt wird. Vielleicht gibt es jetzt also nicht DAS eine neue Nokia, dafür aber viele kleine Nokias.
Was ist finnisch? Kapitel 4 - Bildung
Willkommen in Pisa-Lummerland. Die Schulglocke läutet hier spät, erst um neun. Die Sommerferien dauern Monate. Es gibt Schulbibliotheken und gratis Essen. Auf Socken bewegen sich Schüler und Lehrer in den Klassenzimmern. Sie duzen sich. Die Lehrer richten sich nicht nach strengen Lehrplänen, sondern dem Tempo der Kinder. Ein ganzes Fürsorgeheer aus Lehrern, Psychologen, Sozialarbeitern und Ärzten überlegt gemeinsam, wie es die Kinder individuell fördern kann.
Um den Jahreswechsel schien der Traum vollendet: "Finnland schafft alle Schulfächer ab", titelten Medien weltweit. Keiner muss mehr Mathe pauken, sich durch Geschichtsstunden gähnen. Chemiehasser werden von Periodensystemen und öligen Reagenzgläsern erlöst: Finnland hat nicht nur die größte Schulreform seit Jahrzehnten verabschiedet. Sondern gleich eine ganze Revolution losgetreten – hätte man meinen können.
"Bei der Grundschule haben wir einen sehr ganzheitlichen Ansatz. Aber dieses Gerücht, dass Finnland die Fächer abschafft – nein, die werden nicht abgeschafft! Es gibt nur mehr fächerübergreifende Elemente, 'Phänomene'."
Tiina Silander vom Bildungsministerium dementiert. Die Sache sei eigentlich ganz einfach. Beispiel: Zum "Phänomen Gastronomie" könnten die Schüler in Mathe Rechnungen ausstellen oder auf Englisch Bestellungsaufnahmen üben. Die Idee: Jedes Wissen ohne Verstehen ist unnütz, und Verstehen klappt am besten durch praktisches Lernen und eigenes Erleben. Silander hat erst an der Oberstufenreform mitgearbeitet. Jetzt ist unter ihrer Leitung die Grundschule dran.
"Bildung ist das wichtigste, was wir als kleines Land haben. Finnland ist eine Wissensgesellschaft. Dabei setzen wir auf Kooperation und Vertrauen. Es gibt wenige Vorgaben von der Zentralregierung. Die Kommunen können viel entscheiden, die Lehrer auch."
Tatsächlich können die Lehrer trotz nationaler Normen und zentralisierter Kontrolle ihren Unterricht flexibel und kreativ gestalten – also auch eigene Schwerpunkte auf "Phänomene" legen. Hauptsache, sie erfüllen die Vorgaben des Rahmenlehrplans. Das findet nicht jeder gut. Ex-Nokianer Jussi Salmela sorgt sich um das Allgemeinwissen seines Sohnes, sechste Klasse.
"Ich habe eine Sorge. Es ist jetzt viel die Rede von mehr Wahlmöglichkeiten. Das finde ich nicht gut, dass man sich nur auf Kunst oder Physik konzentriert, und z.B. Geschichte weglässt."
"Ich habe eine Sorge. Es ist jetzt viel die Rede von mehr Wahlmöglichkeiten. Das finde ich nicht gut, dass man sich nur auf Kunst oder Physik konzentriert, und z.B. Geschichte weglässt."
Den Reformern geht es nicht mehr nur um Inhalte, sondern um die Entwicklung von sozialen Fähigkeiten, von Kreativität und eigenständigem Denken statt schnöder Auswendiglernerei. Der Unterricht soll die Schüler für das digitale Zeitalter fit machen, digitale Medien und E-Learning-Methoden gehören zum Schulalltag. Er soll auf Arbeitswelt, Unternehmertum und eine nachhaltige Zukunft vorbereiten. Es gibt mehr Kommunikationstraining, mehr Gruppenarbeit statt Frontalunterricht. Es geht um Selbstbewusstsein und Selbstfürsorge.
"Unsere Stärke ist 'Exzellenz durch Gleichheit und Wohlbefinden': Wir wollen, dass es unsern Kindern gut geht. Wir schauen mehr nach den Bedürfnissen der Schüler, keiner soll draußen bleiben. Sie sollen keinen Stress haben oder lange Schultage."
Außerdem sollen die Schüler mitreden können, wenn es um Unterrichtsinhalte und Lernziele geht, ebenso wie bei ihrer Bewertung: Von der Vorschule bis zur Oberstufe zählt neben dem Zeugnis vor allem die Selbsteinschätzung der Schüler. Überhaupt wird der Stand und Fortschritt der Schüler durch die Reform jetzt konstant be- und ausgewertet – einzeln, in Gruppen, unter Lehrern, mit Eltern, ohne Eltern. Ein Qualitätsmanagement, von dem nicht alle Lehrer begeistert sind. Schließlich bedeutet das auch viel zusätzliche Arbeit.
Und den liberalen Ansatz halten manche Experten geradezu für fatal. Sie führen die zuletzt schlechteren Pisa-Ergebnisse auf die Reformen der 90er-Jahre zurück – auf jene Reformen, die als finnisches Erfolgsgeheimnis gelten: Die Noten würden genau da schlechter, wo die relativ neue, liberale Schulkultur anfange zu wirken. Grund für die guten Ergebnisse sei vielmehr das ältere und zentralisierte Schulsystem mit wenig Autonomie für Lehre und Lehrer, das einen historischen Hintergrund hat:
Die Schulpflicht wurde – wie in Thailand – erst 1921 eingeführt. Noch 1945 waren drei Viertel der Bevölkerung Bauern. Finnische Literatur gab es jahrhundertelang keine. Die Industrialisierung kam schleppend in Gang, Wirtschaftswachstum und der Aufbau eines Wohlfahrtsstaats ebenso. Erst die Unabhängigkeit 1917 brachte ein nationales Selbstwertgefühl, Bildung wurde zum Herz des nationalen Projekts und die ersten Lehrer dessen Helden. Ihre Ausbildung erfolgte unter fast militärischem Drill mit vielen Verboten: Kein Tanzen, trinken, rauchen oder Rendezvous. Dieser "Verbots-Generation" gehörten auch noch viele spätere Lehrer an, die während der Pisa-Erfolgsjahre unterrichteten. Noch heute genießen Lehrer ein hohes Ansehen in der finnischen Gesellschaft.
"Wir haben brillante Lehrer und eine ebensolche Lehrer-Ausbildung. Trotzdem wollen wir das weiter ausbauen. In Finnland entwickeln wir ein nachhaltiges System im Konsens, und zwar nicht nur für eine Legislaturperiode."
Meine Tante Riitta hat fast 40 Jahre an einer Oberschule im südwestfinnischen Kauhava unterrichtet. Und bestätigt, dass die Lehrer extrem gut ausgebildet sind.
"Ich liebe diese Arbeit. Ein wichtiger, toller Job!"
Riitta glaubt, ebenso wie Tiina Silander, dass der Gesellschaftswandel schuld ist am aktuellen Pisa-Rückstand:
"Man darf das ja nicht laut sagen, aber in den Familien kümmert man sich nicht mehr um die Kinder. Das würde ja Mühe und Zeit bedeuten. Man liest nicht mehr, die Leute haben keine Bücher mehr. Die Eltern interessieren sich nicht für Entwicklung der Kinder, sie sprechen nicht mehr mit ihnen. Und dann die Bewegung: In meiner Klasse hatte ich nur zwei Kinder, die rennen konnten! Kinder können Bewegungen nicht mehr koordinieren. Ich zeig das mal. Sie laufen nicht mehr draußen in der Natur, im Wald. Das hat sich in meinen 37 Jahren an der Schule sehr verändert."
Wobei es zunehmend auch in Finnland Unterschiede je nach Herkunft der Kinder gibt. Das betrifft die Wohngegend, aber auch die Nationalität. Rund vier Prozent der Menschen in Finnland sind derzeit Zugezogene. Russen sind darunter, Roma und einige Geflüchtete aus den Kriegsgebieten im Nahen Osten. Minderheiten – eigentlich für Finnland nichts neues – durch die Sami - Ureinwohner Lapplands – und die Finnland-Schweden.
Was ist finnisch? Kapitel 5 - Minderheiten
Einige Finnlandschweden fühlen sich im eigenen Land immer weiter in die Enge getrieben. Daran scheint der Erfolg der Rechtspopulisten, die in Finnland mitregieren, nicht unschuldig.
Wer am Bahnhof in Helsinki ankommt, den begrüßen die Lautsprecher auf Finnisch – und auf Schwedisch: Schwedisch ist die zweite offizielle Sprache in Finnland. Ticketautomaten sind zweisprachig, Verkehrsschilder, Webseiten von Behörden und Unternehmen. Für etwa fünf Prozent der Bevölkerung ist Schwedisch die Muttersprache.
"Ich komme aus einer Familie schwedischsprachiger Fischernomaden, die entlang der Westküste segelten. Zuhause haben wir nur Schwedisch gesprochen, ich ging auf eine schwedischsprachige Schule und später auf die Uni."
Johanna Holmström ist Erfolgsautorin aus Helsinki, 35 Jahre alt. Und sich bewusst, dass sie einer Minderheit angehört. Die aber immer mehr in Bedrängnis gerate. Viele Schwedenfinnen vermieden es mittlerweile sogar, in der Öffentlichkeit ihre Sprache zu sprechen.
"Der Hass auf uns kommt immer in Intervallen, wenn die Leute unsicher, unglücklich sind, wenn sie Angst um ihren Job haben. Das war in den 90ern während der großen Rezession so, und jetzt wieder. Die Abneigung ist klar gewachsen: Eine Freundin wurde in der Umkleide eines Schwimmbads angegangen – weil sie mit ihrem Kind Schwedisch sprach. Oder man hört: Wir sind in Finnland, sprich gefälligst Finnisch oder geh heim! Aber was soll das heißen? Meine Vorfahren sind vor hunderten Jahren nach Finnland gekommen!"
Auch die Finnen-Partei dürfte dazu beitragen, dass immer mehr Finnen den schwedischen Teil ihrer Gesellschaft ablehnen. Die Partei war auch die treibende Kraft hinter einer Bürgerinitiative, die vor einiger Zeit 50.000 Unterschriften sammelte: Sie wollten, wie sie sie sagt, das "Zwangs-Schwedisch" an finnischen Grundschulen abschaffen.
Damit hatte die Partei keinen Erfolg. Dafür bekam sie bei den Parlamentswahlen 2015 fast 18 Prozent der Stimmen – und vertrieb die liberale "Schwedische Volkspartei" nach 36 Jahren aus der Regierung.
"Das war einer der größten Triumphe der Finnenpartei. Und weil sie manche Themen wie den Euro-Austritt nicht durchsetzen kann, bauscht sie ihre Fremdenfeindlichkeit zum Riesenthema auf. Das ist eine Bedrohung für uns, und gibt dem Rassismus Aufwind. Ich kriege Mails, in denen steht, du bist schuld, dass so viele Migranten kommen, man sollte dich erhängen, vergewaltigen. Ich habe das Gefühl, in unserer Gesellschaft wird so viel Wert auf Leistung und Technik gelegt, dass darüber das Zwischenmenschliche vergessen wird."
Eva Biaudet war für die Schwedische Volkspartei schon Ministerin für Gesundheit und Soziales, zuletzt Ombudsfrau für Minderheiten in Finnland. Hassmails hat sie aber auch vorher bekommen.
"Mir scheint, da wird viel vermischt: Jedes Anderssein ist schlecht, egal ob es Glauben, Nationalität oder Sexualität betrifft. Und der Hass auf Frauen. Vielleicht haben wir auch zu lange in einer Blase gelebt hier oben und erschrecken jetzt, weil der Rest der Welt näher kommt. Manche Leute denken, sie könnten Finnland stärken, wenn sie sich abschotten."
Dabei kamen schon im 13. und 14. Jahrhundert die ersten Schweden ins Land, sie haben schon viele renommierte Künstler und Denker hervorgebracht. Aber Schweden haben lange über die Finnen geherrscht – bis heute halten sich die Vorurteile über eine wirtschaftlich und sozial privilegierte Minderheit, erzählt Holmström
"Aber als Finnland Teil von Schweden war, gab es hier nichts, man musste Städte, eine ganze Gesellschaft erst aufbauen. Dafür haben die Schweden ihre gebildete Oberschicht hergeschickt. Sicher, diese Familien wurden reich und beuteten auch Arbeiter aus. Aber das waren wenige! Meine Familie zum Beispiel wurde selbst von den Schweden unterdrückt."
Ihre Nachkommen halten nicht nur untereinander zusammen, sondern auch zu anderen Minderheiten. Etwa zu Ausländern, die bisher nur vier Prozent der Bevölkerung ausmachen, beobachtet auch Eva Biaudet.
"Wir finden Einwanderung bereichernd, auch die schwedischsprachigen Medien gehen viel offener mit Migranten um. Die schwedisch dominierten Gemeinden haben viel mehr Flüchtlinge aufgenommen – es gibt ja Gemeinden, in denen über 90 Prozent Schwedischsprachige leben."
Auch wenn diese in der Hauptstadt Helsinki klar in der Minderheit sind, gibt es genug Kitas und Schulen, in die Finnlandschweden wie Johanna Holmström ihre Töchter schicken können. Ein Privileg, das zu Finnland dazu gehört.
Was ist finnisch? Fazit
Die schönste Erklärung, was das Finnisch-Sein ausmacht, hat mir mal ein Freund erzählt. Er meinte: Die Finnen lieben es, ihren Blutdruck in die Höhe zu treiben, ohne groß etwas dafür zu tun: Sie gehen in die Sauna, sie schauen Autorennen und sie sind Weltmeister im Kaffeetrinken.