Als die Matrosen den Kaiser verjagten
Vor 100 Jahren verweigerten Kieler Matrosen Befehle und begannen so, die deutsche Monarchie zu beenden. Heute wird an der Ostseeküste darum gerungen, was der Aufstand bedeutet und wie man heute von ihm erzählen sollte.
Die Chronologie des Matrosenaufstands
1914
Sie sollte der ganze Stolz des Kaiserreiches sein: Die deutsche Marine. Aber schon kurz nach Kriegsbeginn 1914 wird sie zur Zielscheibe des Spottes: "Lieb Vaterland kannst ruhig sein, die Flotte schläft im Hafen ein."
Zitiert Stephan Huck Leiter des Deutschen Marinemuseums in Wilhelmshaven den Spottvers. Die Marine war darauf ausgerichtet eine große Seeschlacht gegen Groß Britannien zu schlagen. Eine Schlacht, zu der es nie kommt. So liegt die Hochseeflotte meistens untätig in Wilhelmshaven. Die Matrosen und Offiziere auf den Großkampfschiffen sind frustriert, erzählt Huck, so schreiben zwei Soldaten:
"Zeitgleich bereits am 5. August 1914, wie langweilig es wäre, dass nun der Engländer nicht kommt. Und das ist schon irgendwie beredt, wenn man sich überlegt, von welchem Datum wir reden, der Krieg ist nicht mal eine Woche alt und da ist schon diese Unruhe zu spüren und diese Enttäuschung."
Eine Enttäuschung, die über die Kriegsjahre hinweg immer größer wird. Hinzu kommt, dass die Offiziere an Bord sich Privilegien herausnahmen von denen die Matrosen nur träumen konnten. Die wilhelminische Klassengesellschaft spiegelte sich an Bord wieder – zum Beispiel gibt es für die einfachen Matrosen andere Verpflegung als für die Offiziere.
September 1917
Die Langeweile, die Klassenunterschiede, schlechte Versorgung an Bord und eine zunehmende Politisierung führen schon 1917 zu Unruhen in Wilhelmshaven. Dabei war der Auslöser vergleichsweise harmlos: Den Matrosen wurde ein Kinobesuch verboten, aber sie sahen sich den Film trotzdem an. Die Situation eskalierte, am Ende standen Todesurteile. Zwei von ihnen wurden vollstreckt.
Oktober 1918
"Seit Anfang Oktober 1918 war amtlich, dass das Reich den Krieg verloren hatte und als dann am 29. Oktober die Marineführung sagte: Friedensbemühungen? Waffenstillstandsbemühungen hin oder her, wir laufen noch einmal aus und suchen das Gefecht, um zu zeigen, was die Marine kann, auch wenn wir alle dabei untergehen, wir retten dann aber auch noch die Ehre der Offiziere. Da haben natürlich die Matrosen gesagt: Bitte nicht mit uns und haben dann die Feuer in den Kesseln gelöscht und die Befehle verweigert, sodass die Schiffe einfach nicht auslaufen konnten."
Erzählt Michael Epkenhans Professor am Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr in Potsdam. Die Marineführung schlägt die Meuterei in Wilhelmshaven nieder, die Matrosen ergeben sich, über 1000 von ihnen werden festgenommen. Einige von ihnen kommen per Schiff nach Kiel – die Marineleitung erhofft sich so die Lage zu entspannen. Ein strategischer Fehler, sagt Epkenhans:
"Als man nämlich die Schiffe in Kiel hat einlaufen lassen, und hat beim Einlaufen einen Teil derjenigen, die mit zu den Meuterern gehörten verhaften lassen. War das natürlich nach außen hin für die Matrosen an Bord ein Signal, dass die Marine wie 1917, wieder durchgreifen und im Zweifel noch viel mehr Todesurteile würde fällen müssen. Und daraufhin hat sich das wieder so aufgeschaukelt, dass man gesagt hat: Ne, wir kämpfen jetzt für unsere Kameraden. Wir lassen die nicht wieder verhaften, der Krieg ist verloren, für dieses System kämpfen wir nicht mehr."
November 1918
Die Kieler Arbeiter solidarisieren sich mit den Matrosen. Gemeinsam organisieren sie eine Kundgebung in Kiel. Durch die Arbeiter wird der Aufstand politisch, sie wollen das System stürzen. Bei der Kundgebung eröffnet eine Militärstreife das Feuer auf die Demonstranten, sieben von ihnen sterben, andere werden schwer verletzt.
Die Unruhen verbreiten sich in der Stadt, alle Marineeinheiten und viele Kieler schließen sich den Soldaten und Arbeitern an. Die alten Autoritäten verlieren ihre Macht, erklärt Epkenhans: "Dass dann, und das ist ja das symbolische Zeichen, muss man sagen, dass selbst die Marineführung bat, dass die eigentlich verfemten Sozialdemokraten kommen, sprich Gustav Noske und versuchen die Situation ein bisschen zu retten."
Noske wird zum Vorsitzenden des Arbeiter- und Soldatenrates gewählt. Es gelingt ihm die Lage in Kiel zu beruhigen.
Um die Bewegung zu beschränken wird der Zugverkehr von und nach Kiel eingestellt, umsonst sagt Historiker Stephan Huck: "Das ist aber schon zu spät die Matrosen demissionieren jetzt auf eigene Faust und Noske setzt dem nichts entgegen, weil er sagt, jeder der hier nicht ist, kann auch keine Unruhe machen, übersieht dabei aber, dass die alle sich in die Züge setzen und in ihre Heimatorte fahren und über diese Matrosen, die Kiel verlassen, kommt die Kunde von der Revolution und letztlich auch von der Gestaltungsmacht der Masse an die anderen Küstenorte."
Und von dort in konzentrischen Kreisen ins ganze Reich. Sturmvögel der Revolution werden die Matrosen deshalb häufig genannt. Ihre Botschaft fällt auf fruchtbaren Boden, sie sind längst nicht die einzigen, die mit dem System brechen wollen. So fällt eine Stadt, eine Krone nach der anderen.
Die Revolution erreicht die Hauptstadt. Aber die Hohenzollerns halten an ihrer Krone fest, bis Reichskanzler Max von Baden auf eigene Faust die Abdankung von Wilhelm II. verkündet. Der Sozialdemokrat Scheideman ruft die Republik aus: "Der Kaiser hat abgedankt, er und seine Freunde sind verschwunden, über sie alle hat das Volk auf der ganzen Linie gesiegt. Es lebe das Neue! Es lebe die deutsche Republik!"
Kaiser Wilhelm II. flieht ins Exil.
Hundert Jahre später: Der Kampf um die Deutungshoheit
Auf dem Parkplatz des großen Hafens in Wilhelmshaven zeigt Leiter des Marinemuseums Stephan Huck eine Stele, die an den Matrosenaufstand von 1918 erinnert. Sie ist der erste Teil eines Informationsparcours, der entlang der Schauplätze der Revolution durch die Stadt führt. Diesen Parcours gibt es seit Mai 2018. Also 100 Jahre nach dem Aufstand. Stephan Huck über die Bedeutung dieses Ortes: "Weil hier am großen Hafen einfach im Prinzip an dem Ort ist, wo die Großkampfschiffe der Hochseeflotte gelegen haben."
Der Krieg war längst verloren. Doch die Marineleitung wollte die Flotte noch einmal in ein letztes Gefecht mit England schicken. Bloß nicht, sagten sich tausende Matrosen und meuterten. Damit nahm die Revolution ihren Lauf. An den Matrosenaufstand erinnern im Jahr 2018 in Wilhelmshaven ein Theaterstück, ein neues Denkmal, der Stelenweg, eine Sonderausstellung Vorträge. Das ist eine neue Entwicklung, erzählt Hartmut Tammen-Henke, einer der Initiatoren für der neue Denkmal.
"Früher war das eben so, das waren die Meuterer und nicht diejenigen, die existenziell unserer Demokratie mitbegründet haben und das ist in der Frage wie man damit öffentlich umgeht sicherlich auch ein Thema gewesen."
Was waren sie, die roten Matrosen? Im Verlauf der deutschen Geschichte wird ihre Bedeutung sehr unterschiedlich interpretiert. Für die Nationalsozialisten ist die Sache klar, sagt Historiker Huck, die vermeintlich bolschewistischen Revolutionäre sind das erklärte Feindbild: "Es gibt ein ganz bekanntes Bild von dem Bernhard Kuhnt, der hier am 10. November 1918 eben zum Präsidenten der sozialistischen Republik Oldenburg Ostfriesland ausgerufen wurde, wie ihn die SA verhaftet und auf einen Karren setzt und schmäht , was ganz symbolträchtig zeigt, wie mit Akteuren der Revolutionszeit umgegangen wurde."
Ganz anders in der DDR: Hier werden die Akteure der Revolution zu Helden. Schiffe der Marine werden nach ihnen benannt, der Matrose wird zum Symbol für Revolution und Umbruch, die DEFA dreht einen aufwändigen Spielfilm, der die Anfänge der Unruhen im Jahr 1917 thematisiert: "Das Lied der Matrosen": "Und grade in dem Maß in dem die DDR das vereinnahmt, glaube ich, wird das für die Bundesrepublik untauglich."
Sagt Museumsleiter Stephan Huck. In der Bundesrepublik kommt es nicht in Frage Schiffe nach den Toten der Revolution zu benennen. "Wir haben ja auch im Kalten Krieg den Kampf zwischen der westlichen Welt und dem Warschauer Pakt, und letzten Endes färbt dieser ideologische Kampf, der eben auch als ein Kampf zwischen rechts und links begriffen wird, auf die Deutung der Weimarer Republik ab."
Und somit auch auf die Anfänge der Weimarer Republik. "Je weiter diese Ereignisse zurück liegen und je weniger persönliche Betroffenheit eine Rolle spielt, desto nuancierter Blick auf die Beweggründe und wir erleben schon in den 80er Jahren, dass Diskussionen stärker werden."
Kämpfen für die eigene Freiheit – und die Revolution
Die Beweggründe der Matrosen waren schließlich sehr unterschiedlich – während die einen schlicht nicht in einem schon verlorenen Krieg verheizt werden wollten – waren andere unter ihnen längst politisiert und wollten die Revolution. Gerade das macht die Beurteilung im Nachhinein so schwer, oder so interessant, findet Huck: "Was vielleicht auch die Beschäftigung mit diesem Ereignis von anderen Erinnerungstagen unterscheidet, die so weit zurück liegen, ist dass es heute noch eine gewisse Deutungsoffenheit bezüglich der Revolution gibt."
Huck merkt das ganz konkret an den Reaktionen auf die Ausstellung "Die See revolutioniert das Land", die in diesen Tagen im Marinemusuem Wilhelmshaven zu sehen ist. "Dass eben die extreme Linke vielleicht auch sagt: Also es ist eigentlich ein Unding, dass ein Haus, wie das Marinemuseum sich dessen annimmt und auf der anderen Seite eben auch konservative ankommen und sagen: Ne, eure Deutung der Ereignisse ist eigentlich zu positiv."
Für den Experten Tammen Henke und den Museumsleiter Huck ist klar: Man darf die Revolution nicht von ihrem Ende her beurteilen. Im Gegenteil sei das Kämpfen für die eigene Freiheit, das Erlebnis als Masse etwas bewegen zu können, auch für heute noch eine wichtige Botschaft. Und auch wenn man nicht behaupten kann, dass die Matrosen und die Arbeiter von 1918 bewusst für unsere heutige Demokratie gekämpft hätten, sagt Tammen Henke:
"Es geht darum, was ist die Demokratie uns wert? Und was haben die Menschen dafür geopfert, um dieses System überhaupt möglich zu machen."
In Wilhelmshaven jedenfalls soll der Matrosenaufstand weiter diskutiert und verhandelt werden, über den 100. Jahrestag hinaus, das wünschen sich Tammen Henke und Huck, damit er nicht mehr die "vergessene Revolution" genannt werden kann.
Die Kieler Entdecken ihre Vergangenheit
Ein Sommerabend in Kiel. Ein kleines Grüppchen hat sich im Ratsdienergarten versammelt. Vor ihm ragen drei schräg-aufgestellte Stahlplatten in den Himmel. Jede von ihnen wird waagerecht von einem schweren Steinpfeiler durchbohrt. Es ist das Denkmal an den Kieler Matrosenaufstand, das hier 1982 aufgestellt wurde.
"Ich finde das persönlich ganz grandios, eben weil es so gigantisch groß ist, weil es aus Stahl ist, verrosteten Stahl und weil dazwischen diese Steinsäulen hängen, wo man sich denkt, Boah, da müssen unglaubliche Kräfte wirken damit das steht und dann steht es ja noch nicht mal gerade, sondern auch so schräg verschoben…" Detlef Schlagheck ist freier Künstler. Zusammen mit seinen Kollegen Moment Schawish und Viktor Dawitziuk veranstaltet er an diesem Abend eine Soundperformance. Titel "Drumming the monument."
"Das ist so, dass wir mit den einfachsten Mitteln, die man hat, nämlich mit unseren Fäusten und unseren Händen dieses Denkmal zum Erklingen bringen werden, diese Stahlwände geben einen Sound von sich, der sich eigentlich genau so anhört, wie die auch aussehen (Gelächter) ja, das klingt vielleicht erstmal witzig, aber ist gar nicht so witzig weil der Sound sich tatsächlich richtig finster anhört wie ich finde…" Das kleine improvisierte Konzert ist eine von unzähligen Veranstaltungen, mit denen in diesem Jahr an den Kieler Matrosenaufstand erinnert wird. Ausstellungen, Lesungen, Führungen, Konzerte, Theaterstücke – an vielen Ecken in der Schleswig-Holsteinischen Landeshauptstadt soll der 100. Jahrestag gewürdigt werden.
Doris Tillmann ist die Direktorin des Kieler Stadt- und Schifffahrtsmuseums und Leiterin des Stadtarchivs. In der Erinnerung der Bundesrepublik habe der Matrosenaufstand keine Rolle gespielt bzw. war aus Sicht der Rechten negativ besetzt, sagt Tillmann.
"Und für Kiel muss man gerade in diesem Jahr sagen – ich glaube, es geht nicht nur um dem Matrosenaufstand – sondern es geht auch darum, dass die Kieler stolz sind, dass ihre Stadt tatsächlich einmal so ein wichtiger Schauplatz der Nationalgeschichte war und dass sie sich dessen erst jetzt bewusst werden und diesen Anlass auch nehmen das ganze würdig zu begehen, zu feiern, was auf die Beine zu stellen."
Seit Mai zeigt das Stadt- und Schifffahrtsmuseum die Ausstellung "Die Stunde der Matrosen - Kiel und die deutsche Revolution 1918". 65 Stationen zählt diese Ausstellung, die auch den Weg in den Ersten Weltkrieg und dessen Verlauf nachzeichnet. Der eigentliche Matrosenaufstand nimmt dann einen vergleichsweise kleinen Teil ein. Das sei bewusst so gewählt, schließlich sei das Ereignis schnell vorbeigewesen, sagt Doris Tillmann. Und fügt hinzu, "dass wir in einer Museumsausstellung keine Exponate dazu haben, das liegt in der Natur der Sache, dass so ein Aufstand keine Sachgestände hinterlässt. Also, ganz wenige oder auch sehr unscheinbare. Also, wir haben ja eine Gewehrkugel, mit der geschossen wurde nachweislich."
Die Marinesoldaten und die Schiffsbauer haben die Stadt an der Förde groß gemacht. Doch vielleicht liegt es auch an der Zeit, dem Fehlen von Zeitzeugen und Relikten, dass eine Vermittlung der damaligen Ereignisse heute alles anders als leicht ist? Doris Tillmann spannt einen Bogen in die Gegenwart: "Das ist ja schon was, was gerade heute, wo ja auch Demokratie anderswo in Frage gestellt wird, wir diejenigen sind, die die Geschichte der Demokratie dann doch ein bisschen abfeiern können."
Matrosenaufstand als Marketinginstrument
"Abgefeiert" wird der Kieler Matrosenaufstand auch von der städtischen Marketingagentur. An vielen Ecken in der Stadt hängen großflächige Plakate, die zum Aufstehen für die Demokratie aufrufen. Zudem kann man einen Sondergeldscheid kaufen, der an das Ereignis erinnert. Die Marketingagentur bietet Rundgänge an auf den Spuren des Matrosenaufstands. An diesem Nachmittag führt Manuela Junghölter eine Gruppe von etwa 20 Personen durch die Kieler Innenstadt. Studierende sind darunter, ebenso Rentner wie Familien.
"Hier kommt sozusagen diese Straße – die war auch nicht in diesem Winkel sondern sozusagen 'n bisschen schräger auch gemacht, damit sie hier auf die Kreuzung kommt und das war dann sozusagen die Karlstraße."
Die Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg haben viele Spuren des Matrosenaufstands getilgt. Und doch lassen sich zentrale Orte zumindest finden. So wie diese kleine Seitenstraße nahe des Uni-Klinikums. Genau hier gerieten die Demonstranten am Abend des 3. November 1918 in einen Hinterhalt, bei einer Schießerei mit den kaisertreuen Soldaten gab es sieben Tote und 29 Verletzte. An dem später errichteten Gebäude hat die AWO eine Erinnerungsplakette angebracht: "Hier sieht man den Demonstrationszug an dieser Stelle, hier sieht man die Ecke, wo die Soldaten gelegen haben mit Gewehr im Anschlag und wir sehen hier schon einen Toten liegen. Was wir hier nicht sehen, dass ist, dass die Demonstranten auch bewaffnet waren. Das darf man nicht vergessen!"
Nach anderthalb Stunden Rundgang mit Manuela Junghölter hat man plötzlich das Gefühl, den Ereignissen viel näher zu sein. Und womöglich auch die Stadt mit etwas anderen Augen zu sehen. So geht es auch Jördes Leinert, die für ihr Medizinstudium vor vier Jahren von Brandenburg nach Kiel zog und zusammen mit zwei Kommilitoninnen die Führung macht.
"Ich hab natürlich viel mehr Backgroundwissen über Berlin, deswegen war Kiel immer so ein kleiner Zipfel im Norden, der ziemlich unbedeutend war für mich vorher. Ich hab‘ das mal vorher auf facebook tatsächlich gesehen, dass es ja jetzt zum 100. Jubiläum Veranstaltungen gibt, die noch mal so `n bisschen die geschichtlichen Aspekte aufrollen und so was. Das war mir vorher auch nicht klar."
Wie Matrosen heute über den Aufstand denken
Regen, Wind und Dämmerlicht: Gespenstisch wirken die Backsteingebäude an diesem Herbstmorgen. Aber auch geheimnisvoll. Die Marine-Schule in Flensburg-Mürwik wurde 1910 von Kaiser Wilhelm II. eingeweiht. Das Hauptgebäude wird überragt von einem mächtigen Turm und trägt den Spitznamen "Schloss am Meer". Mit den großen hell erleuchteten Fenstern würde es auch eine hervorragende Kulisse für einen Harry-Potter-Film abgeben.
Hinter einem dieser Fenster sitzt Kapitän zur See Wilhelm Tobias Abry. Seit einem halben Jahr hat er das Kommando in Mürwik. Abry erinnert sich noch genau an den Tag, an dem er bei der Marine anfing: "Das war der. 4. Juli 1988 und ich glaube, es war ein Dienstag." Wenige Monate später jährte sich damals der Kieler Matrosenaufstand zum 70. Mal. Abry war in dieser Zeit auf dem Segelschulschiff Gorch Fock. "Da beschäftigten uns wirklich andere Dinge, nein, es war damals kein Thema."
In Mürwik bildet die Marine ihre Offiziere aus. Im Fach Wehrgeschichte stand für Abry damals der Erste Weltkrieg auf dem Lehrplan und damit auch der Kieler Matrosenaufstand. Für ihn steht das Führungsversagen des Offizierskorps im Mittelpunkt.
Und die Matrosen, die sich damals weigerten, ins aussichtslose Seegefecht gegen England zu ziehen – können sie heute für die Marine Vorbilder sein? "Ein vorbildliches Verhalten – wenn Sie so was suchen – suche ich das in der Gegenwart. Ich suche das bei Männern und Frauen, die heute an Bord dienen, die sich heute mit Befehl und Gehorsam auseinander setzen müssen und mit den Anforderungen, die sie haben. Ich kann es in der Geschichte nicht erkennen. Die Geschichte ist aus meiner Sicht kein Lehrmeister."
Die Ursache für die Meuterei ließe sich erklären, sagt Abry. Doch ob die Befehlsverweigerung der Matrosen im Herbst 1918 nun positiv oder negativ war, will er nicht bewerten. "Wir müssen es als ein historisches Ereignis in der Epoche begreifen!"
Eine Meuterei sei bis heute ein schlimmes Ereignis, Befehl und Gehorsam Prinzip aller Armeen. Und doch könne er das Verhalten der Matrosen angesichts des Führungsversagen der Offizieren nachvollziehen, sagt der Kommandeur der Marineschule. Der Matrosenaufstand sei ein zentrales Ereignis der Wehrgeschichte.
"Aber mit Blick auf traditionsstiftend glaube ich, dass das nicht traditionsstiftend ist. Anders, als zum Beispiel der Widerstand 1944. Wo es um eine Gewissensentscheidung ging. Und ich glaube, dass wir die Gewissensentscheidung von 1944 als Beispiel nicht gleichsetzen können mit der Meuterei, auch wenn sich die Menschen damals in einer sehr schwierigen Situation befunden haben."
"Na ja, wer will schon sinnlos sterben?"
Die Marineschule spielte zum Ende des Zweiten Weltkriegs eine besondere Rolle. Hierher zog sich im Mai 1945 Hitlers Nachfolger Großadmiral Karl Dönitz zurück. Auch in Mürwik wurden in den letzten Jahren im Rahmen der Traditionsdebatten der Bundeswehr über den Sinn und Zweck von bestimmten gezeigten Gemälden und Büsten diskutiert. Zum Beispiel der von Rolf Johannesson, der kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs als damaliger Admiral die Todesurteile gegen fünf Widerstandskämpfer auf Helgoland bestätigte.
Joel Belleau hat Geschichte studiert. Nun ist der 26-Jährige Offiziersanwärter in Mürwik. Hätte er im Herbst 1918 an gleicher Stelle ähnlich gehandelt wie die Matrosen in Wilhelmshaven und Kiel? "Na ja, wer will schon sinnlos sterben?" Für Belleau ist der Kieler Matrosenaufstand ein Schlüsselereignis auf dem Weg in die deutsche Demokratie. Und ein erster Schritt weg vom "Kadavergehorsam" der auch aus Missständen bei der Verpflegung und der Betreuung resultierte.
"Ja, die ganze Zeit wird man behandelt wie 'n Hund und dann soll man auch noch stolz für’s Vaterland untergehen weil `n paar Leute sich das in den Kopf so gesetzt haben. Dann ist natürlich klar, dass man da so reagiert." Heute gehe es bei der Marine ganz anders zu, es gebe Vertrauenspersonen, die man über Missstände informieren könne. Und: Es sei unter bestimmten Bedingungen möglich, einen Befehl zu verweigern. "Wir sind immer dazu angehalten und da wird immer auch ein großer Fokus drauf gelegt, dass wir einen Befehl bewerten können ob er eben auszuführen ist, ausgeführt werden darf oder eben nicht ausgeführt werden darf. Wir sollen eben in der Lage sein, das strafrechtlich zu beurteilen oder auch, ob 'n dienstlicher Zweck vorliegt, ob er menschenunwürdig ist – solche Sachen."
Vermeintlich sinnlose Befehle
Doch natürlich musste auch er sich an den Befehlston bei der Marine gewöhnen – und die Artikulation. In Bremerhaven beispielsweise gebe es einen berüchtigten Ausbilder, der in seiner schreienden Art an eine Figur aus dem Anti-Kriegs-Film "Full Metal Jacket" erinnere, sagt Belleau.
Sein Kamerad Lukas Jakstadt absolviert in Mürwik die Ausbildung zum Reserveoffizier. Und auch er kennt Befehle, die im ersten Augenblick sinnlos wirken und sich erst später erschließen – zum Beispiel für den Einsatz auf hoher See. "Ich glaube, für jeden ist der erste Nachtalarm in der Grundausbildung schon prägend. Wenn man – ich glaube bei mir war es in der zweiten Woche oder so – und dann wird man nachts um halb vier oder so war das und dann wird man von Sirenen geweckt und dann muss man innerhalb von fünf Minuten eher vollkommen angerödelt unten auf dem Platz stehen. Und da hat man glaub‘ ich schon überlegt: Was tu‘ ich mir hier eigentlich an?"
Doch auch Jakstadt – der selber aus einer militärisch geprägten Familie kommt - findet, die Verhältnisse in der Kaiserlichen Marine damals ließen sich nur schwer mit dem heutigen Alltag auf den Kriegsschiffen vergleichen. Der 20-Jährige würde sich wünschen, dass heute stärker an den Kieler Matrosenaufstand erinnert wird. Bei den Soldaten aber auch bei den zivilen Bürgern. "Weil es einfach meiner Meinung nach etwas untergeht. Ob das jetzt mit Denkmälern ist, das weiß ich jetzt nicht. Aber wenn man versucht, dieses Ereignis in irgendeiner Form bekannt zu machen – das kann niemals schaden."