100 Jahre Oktoberrevolution

Eine unheroische Machtübernahme

Leo Trotzki steht auf einer Bank und spricht zu einer Menschengruppe.
"Schien an allen Plätzen zugleich zu sprechen": Leo Trotzki © imago stock&people
Von Bert-Oliver Manig |
Die Oktoberrevolution in Russland prägte das 20. Jahrhundert wie kaum ein anderes historisches Ereignis. Im Kontrast zu ihrer welthistorischen Wirkung war die Machtergreifung der Bolschewiki zunächst ein bemerkenswert reibungsloser und unheroischer Vorgang.
"Die Tatsache, dass das Proletariat in einem der zurückgebliebensten Länder Europas zuerst zur Macht gekommen ist, scheint auf den ersten Blick ganz rätselhaft, ist aber nichtsdestoweniger vollständig gesetzmäßig. Diese Erklärung hat Lenin in einer prägnanten Formel gegeben: Die Kette ist an ihrem schwächsten Gliede zerrissen."
Leo Trotzki verstand sich als Werkzeug der Geschichte, als er am 7. November 1917 – nach dem damals in Russland geltenden Julianischen Kalender war es der 25. Oktober – die erste sozialistische Revolution in Gang setzte. In den Morgenstunden besetzten auf Trotzkis Kommando hin Soldaten und radikale Milizionäre das Telegrafenamt, die Bahnhöfe und Brücken sowie andere strategische Orte der Hauptstadt Petrograd, ohne auf Widerstand zu treffen.
Im Winterpalais, dem Sitz der Provisorischen Regierung aus Liberalen und Sozialdemokraten, die nach der bürgerlichen Februarrevolution und der Abdankung des Zaren den Übergang Russlands zur Demokratie bewerkstelligen sollte, herrschte Ratlosigkeit. Regierungschef Alexander Kerenski hatte sich aus dem Staub gemacht, die Offiziersschüler und das legendäre nationalistische Frauenbataillon, die zum Schutz der Regierung eingesetzt worden waren, taten es ihm nach. Ein Augenzeuge berichtet:

"Leicht wie eine Feder"

"Die Minister standen in Gruppen zusammen. Tretjakow erzählte missbilligend, dass Kerenski sie im Stich gelassen habe und dass die Lage hoffnungslos sei. Andere sagten, dass man nur 48 Stunden 'ausharren' müsse, dann träfen die auf Petersburg anrückenden regierungstreuen Truppen ein."
Die rettenden Armeeeinheiten blieben aus, in der Nacht wurden die Minister verhaftet. Am nächsten Morgen wurde ein allein von den radikalen Bolschewiki gebildeter Rat der Volkskommissare unter der Führung Wladimir Iljitsch Lenins als Regierung installiert.
Lenin, der erst kurz zuvor aus seinem Versteck in Finnland nach Petrograd gekommen war, meinte, die Machtübernahme sei "leicht wie eine Feder" gewesen. Die eigentliche Arbeit hatte schon zuvor der als Agitator wie als Organisator brillante Trotzki geleistet. Er hatte seine Stellung als Leiter des Militärischen Revolutionskomitees, das die Hauptstadt vor reaktionären Kräften schützen sollte, zielstrebig dazu ausgenutzt, die Machtergreifung seiner Partei vorzubereiten.
Der gemäßigte Sozialist Nikolai Suchanov beschrieb Trotzkis Bedeutung so:
"Trotzki selbst schien an allen Plätzen zugleich zu sprechen. Sein Einfluss auf die Massen war erdrückend. Er war die zentrale Persönlichkeit dieser Tage."

Eine diskreditierte Regierung

Doch auch Trotzkis revolutionäres Genie hätte die Bolschewiki nicht an die Macht gebracht, hätte die Provisorische Regierung nicht zuvor verhängnisvolle Fehler begangen: Ihre Entscheidung, den verhassten Krieg gegen das deutsche Kaiserreich fortzuführen und Sozialreformen dem künftigen Parlament zu überlassen, hatte sie viel Vertrauen im Volk gekostet. Ein missglückter Putschversuch des Militärs im September 1917 diskreditierte die Regierung vollends.
Nach dem Sturz der Regierung erwiesen sich die Bolschewiki als Meister der Machtbehauptung. Als erste Amtshandlungen erließ der Rat der Volkskommissare zwei Dekrete über die entschädigungslose Enteignung der Großgrundbesitzer und die sofortige Aufnahme von Friedensverhandlungen mit dem Deutschen Reich. Beides war populär, zugleich beschleunigten die Bolschewiki damit den Zerfall der Armee, die der massenhaften Fahnenflucht der einfachen Soldaten bald nicht mehr Herr wurde.
Hans Mark, der als Sanitäter des Roten Kreuzes den Krieg in Russland erlebte, erinnerte sich Jahrzehnte später an die Agitation der Bolschewiki unter den Frontsoldaten:
"Was sitzt ihr hier noch rum? Macht, dass ihr nach Hause kommt! Wenn ihr euch noch lange hier in der Linie aufhaltet, kommt ihr nach Hause und das Land ist verteilt!‘"

Das Rätsel der Oktoberrevolution

Die soziale Revolutionierung der Dörfer und die Zersetzung der Armee waren zentrale Teile der Machteroberungsstrategie der Bolschewiki. Der Terror gegen jede Opposition kam bald dazu. Und gerade die Bauern mussten schnell feststellen, dass sie von einer rücksichtslosen neuen Elite vereinnahmt wurden. In den Worten Leo Trotzkis:
"… Das aus dem Mittelalter sich emporhebende Bauerntum – es sucht den Führer. Und diesen Führer hat das russische Bauerntum zum ersten Mal in der Weltgeschichte im Proletariat gefunden. Und das erklärt ihnen das Rätsel der Oktoberrevolution."
So unblutig die Revolution der Bolschewiki begann, so verheerend war ihre Folgen: ihr erstes Opfer, die russische Demokratie, hat sich bis heute nicht erholt.
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