Russland und sein Kommunismus
Die Oktoberrevolution vor 100 Jahren überzog Russland mit Gewalt und führte zu kommunistischen Diktaturen in vielen Ländern der Welt. Warum Russland die Aufarbeitung seiner Geschichte so schwer fällt, erklärt der Historiker und Kommunismus-Experte Gerd Koenen.
Deutschlandfunk Kultur: Am 7. November jährt sich die Große Sozialistische Oktoberrevolution, wie sie in der Sowjetunion jahrelang genannt wurde, zum 100. Mal – ein Jubiläum, das Moskau noch immer nicht zum Anlass nimmt für eine kritische Auseinandersetzung, das andererseits aber auch nicht pompös gefeiert wird.
Zu diesem 100. Jahrestag der Oktoberrevolution hat der deutsche Historiker Gerd Koenen eine Ausstellung gestaltet mit dem Titel "Der Kommunismus in seinem Zeitalter". Sie ist in Zusammenarbeit mit der Bundesstiftung für Aufarbeitung der SED-Diktatur und dem Deutschen Historischen Museum in Berlin entstanden.
Gerd Koenen gilt aufgrund seiner zahlreichen Bücher über Russland und den Kommunismus in seinen verschiedenen Erscheinungsformen als einer der renommiertesten Kenner der Materie. Er hat sich früher selbst zum Kommunismus bekannt, sein "rotes Jahrzehnt" lang. Aber das ist für ihn längst vorbei.
Die von ihm gestaltete Ausstellung wird gerade europaweit gezeigt und ist jetzt unter anderem auch in Kiew zu sehen, wo wir uns zu diesem Gespräch treffen. Tacheles heute also mit Gerd Koenen und Sabine Adler am Mikrofon.
Gerd Koenen, der Titel "Der Kommunismus in seinem Zeitalter" klingt so, als sei nicht ganz klar, dass der Kommunismus beendet ist. Ist er zu Ende? Ist die Gefahr sozusagen vorüber?
Gerd Koenen: Na ja, den Kommunismus, den wir im 20. Jahrhundert gekannt hatten, der ist tatsächlich nach '89 über den Deister gegangen in erstaunlicher Weise. Der Zenit der sozialistischen Weltbewegung, wenn Sie sie mal typologisch sehen, war im Jahr 1980 ungefähr. 22 Volksrepubliken in der Welt, Äthiopien usw., das war plötzlich weg. Das muss man als Historiker erstmal konstatieren.
Das andere ist, dass natürlich die Kommunistische Partei Chinas nach wie vor an der Macht ist. Der erste Satz des chinesischen Programms beginnt: "Das Ziel ist der Kommunismus". Ich kann sagen, das ist eine Fassade, eine Scharade. Ich würde das nicht ganz so leicht nehmen, sondern ich würde rückwärts fragen: Was genau meint dann Kommunismus eigentlich? Und was hat es eigentlich im 20. Jahrhundert gemeint? Das ist die Frage, die ich in meinem Buch stelle – "Die Farbe Rot. Ursprung und Geschichte des Kommunismus". Und das greift tiefer in die Geschichte zurück und endet im Jahr 2017.
"Im Grunde war jeder Kommunismus im 20. Jh. ein Nationalkommunismus"
Deutschlandfunk Kultur: Jetzt treffen wir uns ja hier in Kiew in der Ukraine. Die Ukraine ist ein zutiefst gespaltenes Land, wie wir wissen, ein Land mit einem bewaffneten Konflikt, mit einem Krieg im Osten. Wie viel kommunistisches Denken steckt denn noch in den Köpfen in den ehemaligen Bruderstaaten der Sowjetunion und auch natürlich in Russland selbst?
Gerd Koenen: Na ja, das kommunistische Denken war, glaube ich, mehr als wir uns so gedacht haben, immer schon ein komplex zusammengesetztes Denken. Wir gehen immer von den Texten aus. Wir gehen von den großen Figuren aus. Und wir glauben, dass dieses ausgearbeitete System der Theorie, dieser ganz bestimmte Staats- und Gesellschaftstypus, dass das auch das gewesen sei, was die Menschen an diese Staaten und Gemeinwesen gebunden habe.
In Wirklichkeit war natürlich jeder Kommunismus im 20. Jahrhundert letztlich bei allem Internationalismus, den er vor sich hergetragen hat, ein Nationalkommunismus. Am Ende haben wir ja auch Kriege zwischen kommunistischen Staaten gesehen – China und Russland, Vietnam und Kambodscha, China und Vietnam usw.
Deutschlandfunk Kultur: Ich hatte bei der Frage im Kopf: Wie viel Kommunismus steckte eigentlich noch in den ehemaligen sozialistischen Ländern? Da können wir auch nach Ostdeutschland gucken. Wie viel Kommunismus steckt eigentlich noch in den Köpfen? Also, wie viel an Erwartungshaltung ist zum Beispiel noch da, dass der Staat es richtet, dass der Staat verantwortlich ist? Oder man glaubt, wenn Banken verstaatlicht sind bzw. Produktionsmittel verstaatlicht sind, dass dann alles automatisch besser wird.
Gerd Koenen: Das ist eine Denkform, dass der Staat, der fürsorgliche Staat, der patriarchalische Staat, der nationale Staat letztlich ja auch alles richten soll, die nicht nur die Kommunisten gehabt haben. Da fangen die Mischungen sofort an. Das kann man in vielen Formen denken. Und wenn Sie auf den Auseinanderfall der Sowjetunion schauen, dann ist es doch kein Zufall, dass in praktisch allen Republiken, in die das Land auseinandergefallen ist, erst einmal die Führer und in vielen Fällen ja bis heute die alten Parteichefs waren – überall.
Die haben dann aber privatisiert. Die haben sich selber einen großen Teil dieses Volksvermögens genommen. Also, sie konnten das System austauschen. Sie machten sich jetzt plötzlich zu Vätern der Nation. Und dann funktioniert dasselbe Versprechen auf einer nationalen Ebene: "Wir sind der fürsorgliche nationale Staat, der für euch alle sorgt."
Also kann das sowjetische oder kommunistische Denken sich auch plötzlich in ein nationalreligiöses Denken zum Beispiel übersetzen.
"Die starken Männer sind plötzlich überall wieder da"
Deutschlandfunk Kultur: Wir sehen hier in der Ukraine im Osten, dass sich 2014, also vor drei Jahren, zwei sogenannte Volksrepubliken etablieren konnten, die sogenannte Donezker Volksrepublik, die sogenannte Luhansker Volksrepublik. Zeugt das eigentlich davon, dass sowohl das Denken, dass die Diktatur als Form, als akzeptable Staatsform überhaupt nicht so geächtet ist, wie wir uns das vielleicht vorstellen könnten nach dieser Erfahrung, und dass auch die Bevölkerung, nicht nur eine von Russland angeleitete Separatistengruppe, bereitwillig in eine solche Diktatur springt, sondern dass auch dieses Denken von Moskau aus Diktatur ist, etwas, was man jederzeit wieder etablieren kann, dass dieses auch damit zu tun hat, dass Kommunismus überhaupt nicht überwunden ist?
Gerd Koenen: Ja, in diesen Donezker Volksrepubliken ist das wohl sehr präsent, wiewohl ich ja die Mischung auch ironisch finde. Denn manches hat sich ja beispielsweise am Sturz der Lenin-Denkmäler festgemacht, der Sturz Lenins, Lenin als Symbol eines großrussischen Anspruchs, jetzt von Seiten der Ukrainischen Bevölkerung her. Aber für Putin und die Großrussen ist Lenin auch gleichzeitig derjenige, der das große Russland in einen Bürgerkrieg damals verstrickt hat. Und der weiße General Denikin erscheint plötzlich wieder als der Verteidiger des großen Russland. Das war also der Führer der weißen Bewegung im Bürgerkrieg, der für das einige monarchistische große Russland eintrat.
Und der schlimmste Vorwurf der russischen Ultra-Nationalisten gegen die Bolschewiki und Lenin ist ja, dass er die Ukraine erfunden hat. Das hören natürlich die Ukrainer nicht gerne, weil sie immer schon ein Staat gewesen sein wollen und auf irgendeine Weise vielleicht auch als Volk existiert haben.
Aber das sind eben genau diese komplizierten Überlagerungen. Und ich meine, wir brauchen vielleicht nicht die Volksrepubliken in Luhansk und Donezk, um zu sehen, dass der Wunsch nach den starken Potentaten unter Menschen, die in einer sich unablässig in Prozessen der Globalisierung verändernden Welt panische Attacken bekommen. Also, da können wir in die Türkei gucken. Da können wir selbst nach Amerika gucken. Die starken Männer sind plötzlich überall wieder da. Die Demokratie ist jetzt im Moment das Gefährdete, nicht die Norm.
Deutschlandfunk Kultur: Jetzt möchte ich trotzdem zur Oktoberrevolution zurückkommen. In Russland ist das so ein Jahrestag, der – ganz anders als normalerweise – gewürdigt wird. Man hofft, dass dieses vermaledeite Jahr 2017 schnell zu Ende geht, dass man es mit diesem Jubiläum nicht mehr zu tun hat. Wovon zeugt das eigentlich?
Gerd Koenen: Von dem, was ich vorhin schon sagte, dass Lenin eigentlich eine schwierige Figur ist für das neue Russland, von der sie nicht wissen, wie sie mit ihr zurechtkommen.
"Kritische Auseinandersetzung ist, was man nicht will"
Deutschlandfunk Kultur: Nun könnte man sich ja kritisch auseinandersetzen damit.
Gerd Koenen: Ja, könnte man, aber kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte ist nun gerade, was man nicht will. Man möchte alles an seinen Platz setzen. Stalin hat da seinen Platz. Den kann man dann tatsächlich, was auch eigentlich verrückt ist, aber irgendwie macht man das, über den Großen Vaterländischen Krieg, irgendwie mit dem großen Russland zusammenbringen. Und dann hat man plötzlich den starken Zar Alexander III., den Putin vielleicht bewundert. Der letzte war schon ein ziemlicher Schwächling, den bewundert man nicht.
Dann kamen diese schrecklichen Bolschewiki. Dann kamen die weißen Generäle wie Denikin. Und dann kam plötzlich Stalin, …
Deutschlandfunk Kultur: …den Putin wieder bewundert.
Gerd Koenen: ...den Putin wieder bewundert. Und dann kommt Stalin. Und dann kommt plötzlich die Orthodoxe Kirche, die fürchterlich unterdrückt war. Also, man mixt aus vollkommen heterogenen Elementen irgendwie ein neues großes Geschichtsnarrativ. Und daran soll sich dann Russland wieder aufrichten. Aber so findet es in vielen Ländern der Welt statt, da allerdings besonders intensiv.
Deutschlandfunk Kultur: Jetzt sagen Sie, an einem Geschichtsnarrativ soll sich Russland wieder aufrichten. Das ist ja nun gerade nicht die Aufgabe der Historiker, ein Narrativ zu erfinden, sondern einfach – jetzt sage ich mal das ein bisschen flapsig – eben zu sagen, was war.
Die Ukraine versucht, sich mit diesem Kapitel des Kommunismus auf ihre Weise auseinanderzusetzen. Es gab ein sogenanntes Dekommunisierungsgesetz. Das ist 2015 verabschiedet worden. Ist das der richtige Weg, da eine Aufarbeitung anzufangen?
Gerd Koenen: In gewisser Weise muss es natürlich sein, weil es ein – man könnte fast sagen – Spleen des sowjetischen Systems war, alles mit den Namen irgendwelcher bekannten oder weniger bekannten Helden zu bepflastern. Ich glaube, man hat gezählt, dass in der Sowjetunion so ungefähr 3.500 Lenin-Statuen gestanden haben.
Nun ist es viel ironischer noch, denn die Mehrzahl dieser Lenin-Statuen ist auf die Sockel gekommen, auf denen vorher die Stalin-Statuen standen. Die konnten nicht leer bleiben. Also musste überall Lenin wieder drauf. Das war in den 60er-, 70er-Jahren. Also, die Sowjetunion hatte eine Manie, das Land sozusagen symbolisch zu besetzen.
Damit muss natürlich die neue Ukraine umgehen und zurechtkommen. Das verstehe ich sehr gut. Die Frage ist dann: Wer kommt jetzt auf die Schilder? Da – Sie fragten mich, wie viel kommunistischer Geist ist noch in den Köpfen – könnte ich jetzt sagen, das kann man auch natürlich nationalistisch umdrehen. Und dann schafft man neue Identifikationsfiguren. Die stehen jetzt für die geschlossene ukrainische Nation. Ja, es ist offensichtlich immer sehr schwierig, mit einer gespaltenen Geschichte, und keine Geschichte ist vielleicht überhaupt so gespalten wie die ukrainische, zurechtzukommen und sich daran festzuhalten und aufzurichten.
Auseinandersetzung mit Geschichte für Russen schwiergier als für Deutsche
Deutschlandfunk Kultur: Sie spielen wahrscheinlich an auf Stepan Bandera, der jetzt kommt, der jetzt zum Helden stilisiert wird und wo einfach vergessen wird, was für eine – sagen wir zumindest – doch polarisierende Figur er ist.
Ich möchte, bevor wir über diese Art von neuer Heldenschaffung sprechen, auf einen anderen Aspekt noch schnell zu sprechen kommen. Der hat mit der Dekommunisierung zu tun, mit diesem Gesetz, das nun ausgerechnet in einer Zeit verabschiedet wurde, in der die Ukraine im Krieg mehr oder weniger ja auch mit Russland steht. Zumindest wird dieser Konflikt ausgetragen in der Ost-Ukraine unter Beteiligung von Russland. Ist das eine richtige Zeit? Ist das der richtige Moment, um sich mit Geschichte und ausgerechnet kommunistischer Geschichte, die ihre Heimat und ihr Zentrum ja in Moskau hatte mehr oder weniger, auseinanderzusetzen?
Gerd Koenen: Nein, ich denke, es ist überhaupt kein guter Zeitpunkt. Es ist vielleicht der schlechteste. Ich meine, dass Geschichtsschreibung, um auf das zurückzukommen, was Geschichtsschreibung sein sollte, was Sie vorher gefragt haben, dass Geschichtsschreibung dazu dient, na ja, wie man so sagt in unserem Jargon, über die Erfindung von Traditionen jeweils Nationen überhaupt erst mit zu schaffen, das ist bekannt. Das war im 19. Jahrhundert so. Es war im 20. Jahrhundert so. Es ist bis heute so.
Für eine kritische Geschichtsschreibung ist das immer ein Problem. Man sollte vielleicht mal den beunruhigenden Tatbestand nennen, weil wir ja jetzt auch über Geschichte des Kommunismus sprechen, dass die großen Arbeiten über die russische Geschichte, die sowjetische Geschichte, die chinesische Geschichte zum Beispiel nicht in den Ländern selber geschrieben werden, die es eigentlich hauptsächlich betrifft. Sie haben alle eine große Schwierigkeit, sich mit dieser Geschichte auseinanderzusetzen, weil sie nämlich auch tatsächlich intellektuell und emotional schwierig ist, viel schwieriger als es für die Deutschen war, sich mit ihrer Geschichte auseinanderzusetzen.
Wir wurden – ich sage mal "wir" als die Nachkriegskinder – ja gewissermaßen wie der Hund in die Scheiße mit der Schnauze in alles das, was da angerichtet war, hineingestoßen. Es gab Nürnberg. Es gab eine Niederlage. Und dann war Schluss. Und dann musste man mit dieser Geschichte zurechtkommen. Wie die Deutschen ohne das sich damit auseinandergesetzt hätten, weiß ich gar nicht.
In Ländern, wo das eine viel längere Spanne ist, wo das über Generationen ist, wo es Gesellschaften wirklich über lange Zeit gestaltet hat mit all ihren großen Figuren und ihren Straßenschildern und allem dem, ist es tatsächlich ein sehr langer mühseliger Prozess. Das muss man anerkennen. Deswegen sind alle solche forcierten Versuche – also schon das Wort Dekommunisierung, ehrlich gesagt, gefällt mir überhaupt nicht – eigentlich kontraproduktiv.
Und jetzt in der Situation des Krieges, das war ja Ausgangspunkt, vielleicht erst recht, weil, darüber lief ja genau die Polarisierung, die die andere Seite auch herbeigeführt hat. Da drüben, auf dem Maidan, da waren überall Faschisten.
"Die Geschichte ist so kompliziert wie sie ist"
Deutschlandfunk Kultur: Angeblich.
Gerd Koenen: Angeblich. Ja, das war der Vorwurf. Jetzt rehabilitiert man Leute, die wirklich mindestens sehr nah da dran gewesen sind. Und dann spielt man denen in die Hände, würde ich eher sagen.
Deutschlandfunk Kultur: Und damit kommen wir zu der Figur Stepan Bandera – ein Ultranationalist in der Zwischenkriegszeit, der sich den Nazis angedient hat, dessen Bewegung Verbrechen an der polnischen Zivilbevölkerung verübte, der im Konzentrationslager Sachsenhausen war, dort aber entlassen wurde. Bandera war also eine äußerst ambivalente Figur. Rächt es sich eigentlich am Beispiel Stepan Banderas, wenn sich Völker mit ihrer Geschichte nicht kritisch auseinandersetzen?
Gerd Koenen: Ja, letztlich werden sie das alle tun müssen. Aber ich sehe, wie gesagt, nicht nur hier, sondern überall, wie schwierig es ist. Die Türkei kommt mit ihrem Völkermord an den Armeniern nicht zurecht. Spanien. Hier waren es auch nicht die Fremden nur, die bolschewikischen Großrussen, die die armen Ukrainer umgebracht haben. Die Roten Armeen, die im Bürgerkrieg Kiew viermal eingenommen haben, bestanden zu einem sehr großen Teil aus ukrainischen Bauern, die soziale Gründe hatten, warum sie sich unter die rote Fahne gestellt hatten. Das sind alles Komplikationen der Geschichte. Die ist dann so kompliziert wie sie ist.
Deutschlandfunk Kultur: Jetzt würde ich Sie gerne etwas fragen, was ein bisschen persönlicher wird. Sie haben sich ja selber doch ganz stark nicht nur mit der kommunistischen Bewegung auseinandergesetzt. Würden Sie so weit gehen, dass Sie sich als einen Kommunist bezeichnen?
Gerd Koenen: Ja, genau. Ich habe ein Buch geschrieben, "Das rote Jahrzehnt. Unsere kleine deutsche Kulturrevolution" hieß das.
Deutschlandfunk Kultur: Und ausgehend davon, wenn Sie sagen, Sie haben sich als Kommunist verstanden, wir haben ja alle in Erinnerung in Deutschland, wie schwer es war, sich von der Nazidiktatur hin zu entwickeln zu einem demokratischen Land, diese Nazidiktatur hinter sich zu lassen. Was muss man da eigentlich persönlich durchschreiten? Welches Gebiet muss man durchschreiten, um zu sagen, ich habe einer falschen Ideologie angehangen? Wie haben Sie das selber bewältigt?
Gerd Koenen: Das habe ich versucht in diesem Buch auch selbst erforschend aufzuschlüsseln, was einen eigentlich motiviert hat. So unverständlich ist das überhaupt nicht. Ich meine: Wir sagen Diktatur und Demokratie – schön und gut, aber natürlich mit einer großen Kontinuität zum Beispiel der Eliten der Generation unserer Eltern. Also, es stand ja diese Generation der 60er-Jahre, das fing auch vor 68 an, im Bann dieser Weltkriegsgeschichte mit den Worten, dass es eine Demokratie ohne Demokraten sei, dass aus den früheren Brandstiftern wieder die Biedermänner geworden sind. Man traute eben dieser Gesellschaft nicht. Man traute im Übrigen auch dem wirtschaftlichen Aufschwung nicht, sondern es war so ein Grundgefühl, dass das wieder in einer Krise enden müsse. Und wenn eine Krise kommt, dann kommt wieder Faschismus usw. und vielleicht auch wieder ein neuer Krieg. Also, man traute ja diesem ganzen Nachkriegsaufschwung nicht.
Das war im Übrigen eine weltweite Stimmung unter der Nachkriegsjugend in dieser Zeit. Dann gab es eben noch den Faktor der Dritten Welt. Also, alle unsere Demokratien waren in Afrika noch kolonial unterwegs, waren in Vietnam bombend unterwegs, alles im Zeichen des Antikommunismus. Also landete man auf der anderen Seite des politischen Spektrums.
Aber in meiner Selbstanalyse war es auch so, dass man, die ideologische Unterfütterung kam schon mit Rudi Dutschke und anderen, sich irgendwie als Revolutionär, man wusste nur noch gar nicht, um welche Revolution es gehen sollte, deklariert hatte. Jetzt musste man das fieberhaft unterfüttern. Politik hat man ja eigentlich nicht gemacht. Man hat Papier bedruckt. Man ist herum marodiert. Man hat die Büchertische aufgestellt usw.
Und dann war die Welt aber immer komplizierter da draußen. Es gab auch die Orientierungspunkte nicht mehr. Also, alle Heroen der Dritten Welt wurden auch düstere Potentaten usw. Also war man irgendwann am Ende der Fahnenstange angelangt. Dann habe ich eben begonnen damals '80, '81 mich mit den realen Oppositionen im realen Sozialismus, wie man das sagen könnte, zu beschäftigen, also der polnischen Solidarnosc-Bewegung in erster Linie, und dachte dann: Na, wenn das keine Arbeiterbewegung ist, was war dann je eine Arbeiterbewegung? Weil, sie war auch eine demokratische Bürgerrechtsbewegung. Sie war beides.
Dann habe ich begonnen, eben aus dieser ja doch sehr temporären Faszination für so ein scheinbar welterklärendes Gesamtsystem…
Kommunistische Bewegung "hat Gesellschaften völlig umgekrempelt"
Deutschlandfunk Kultur: Dem kommunistischen…
Gerd Koenen: … dem kommunistischen ein realgeschichtliches Interesse zu machen, da ich nun mal Historiker war. Das, würde ich auch sagen, das ist bis heute eine gar nicht gut verstandene Seite der Geschichte des 20. Jahrhunderts.
Deutschlandfunk Kultur: Was genau daran nicht verstanden?
Gerd Koenen: Na ja. Wir stehen alle ein bisschen jetzt im Banne des Zusammenbruchs. Was so verschwindet, kann ja nie funktioniert haben. Ja, also, ein Dreivierteljahrhundert war das irgendwie im Aufstieg begriffen, hat sich immer weiter ausgedehnt. Können Sie mir irgendeine weltweite Bewegung nennen, die eine solche Ausdehnung gehabt hat? Das hat es in der Geschichte noch nie gegeben.
Deutschlandfunk Kultur: Religion vielleicht, ja.
Gerd Koenen: Ja, aber die Religionen sind Religionen. Das hatte auch ein paar religiöse Züge, aber es war eine Kampfbewegung. Und sie hat Staaten gegründet. Sie hat Gesellschaften völlig umgekrempelt.
Deutschlandfunk Kultur: Daraus höre ich eine gewisse Unerklärbarkeit bis jetzt, was diese Faszination ausgemacht hat.
Gerd Koenen: Nein. Ich will nur sagen, für Historiker ist das nach wie vor eine große Herausforderung, wenn man jetzt schon mal totalitarismustheoretisch, was man ja machen kann, erklärt. Und ich würde sogar sagen, die kommunistischen Regime waren ja die eigentlich totalitären. Die faschistischen Regime haben sich viel mehr auf die alten Eliten gestützt und haben letztlich ihre Großreichsprojekte verfolgt.
Mussolini wollte ein Römisches Reich. Herr Hitler wollte ein großgermanisch arisches Reich. Die Japaner wollten da hinten ein großasiatisches Reich. Das ist traditionell und das ist ein radikalisierter Imperialismus alten Stils. Die kommunistischen Systeme sind komplizierter zu erklären. Die Masse der Opfer sind die Leute im eigenen Land. Die Nazis haben die anderen im Großen und Ganzen umgebracht, die Kommunisten die eigenen. Dann eben auch das große Format dieser kommunistischen Weltbewegung, das finde ich nach wie vor noch ungenügend erklärt.
Und vielleicht eins noch: Wenn Sie mal die beiden Hauptgeschichten nehmen, Russland und China, an denen alles andere auch hängt im Grunde: Es gibt noch nicht einmal eine Darstellung, die diese beiden Geschichten zum Beispiel zusammen schaut als parallele Geschichten und zugleich im Konflikt übrigens immer schon miteinander.
Deutschlandfunk Kultur: Sie haben gesagt, dass die Opfer im Kommunismus vor allem die eigene Bevölkerung war, die eigenen Bürger waren. Wie ist zu erklären, dass die Ächtung des Kommunismus bei weitem nicht an die des Faschismus der Hitlerdiktatur heranreicht?
Gerd Koenen: Ich habe vorher schon mal drüber gesprochen: Weil das Ächten schwieriger ist. Nehmen wir mal Russland als das Kernland und das Ausgangsland. Über China könnte man Ähnliches sagen. Da kann man so rein statistisch sagen: In jeder Familie hat es irgendeinen Repressierten gegeben – Onkel, Tante, Vater, Mutter. Aber in jeder Familie gab es vielleicht auch einen von den anderen. Man kann das nicht so genau trennen. Diese Geschichte ging viel mehr durch die Familien, durch die Dörfer, durch die Städte, durch die Milieus.
Die nationalsozialistische Geschichte lebt ja von den scharfen Trennungen. Da gab's die deutsche Volksgemeinschaft. Und wenn ich nicht wirklich ein aktiver Gegner des Regimes war, dann ist mir nicht so schrecklich viel passiert. Denn man wurde raus dividiert nach scheinbar objektiven Kriterien. Wenn du Jude warst, dann stand das in deinem Taufregister. Ansonsten war die Masse der Leute, die die Nazis umgebracht haben, nicht Deutsche. Also war das eine viel schärfere Trennung. Und damit ist in gewisser Weise leichter zurechtzukommen.
Also, der Taxifahrer bei meinem ersten Besuch in Moskau hat so etwas gesagt. Da fuhren wir nämlich damals zum Memorial, dieser antistalinistischen Geschichtsgesellschaft. Und er sagt, wo kommt man her usw. – aus Deutschland. Und dann sagte er: Ja, okay, euer Hitler, der hat ja die anderen umgebracht. Stalin hat die eigenen, naschi, umgebracht. Das erklär' mir mal.
"Deutschland hat in der ganzen Kommunismus-Geschichte eine zentrale Rolle gespielt"
Deutschlandfunk Kultur: Jetzt müssen wir aber mal ganz kurz klarstellen: Hitler hat die Juden umgebracht, auch in Deutschland, deutsche Juden, die deutsche Staatsbürger waren.
Gerd Koenen: Ja, aber die Masse der Juden, die er umgebracht hat, waren nicht deutsche Staatsbürger, sondern polnische, sowjetische, litauische usw.
Und er hat eben auch nicht nur Juden umgebracht. Er hat Hunderttausende in Leningrad ausgehungert. Er hat die Polen dezimiert. Er hat auch die Ukrainer dann dezimiert, wenn sie nicht hilfswillig waren.
Deutschlandfunk Kultur: Die Weißrussen.
Gerd Koenen: Oder die Weißrussen, ja. Das war ein in sich genozidaler Menschen vernichtender Krieg. Und das zieht ja viel schärfere Grenzen zwischen Herrenmenschen und Untermenschen eben zum Beispiel, wie der Kommunismus das in dieser Weise zunächst mal getan hat. Er hat auch ständig selektiert und Gruppen von Menschen aussortiert.
Deutschlandfunk Kultur: Feinde, Volksfeinde.
Gerd Koenen: Volksfeinde. Aber dann vermehrten sich ja die Feindkategorien dermaßen – Kulaken, Weißgardisten, Hooligans, ich weiß nicht, was alles.
Deutschlandfunk Kultur: Ich möchte nochmal auf die Ächtung kommen, auf die Ächtung des Kommunismus, die auch in Deutschland bei weitem nicht so weit vorangeschritten ist wie die Ächtung des Faschismus bzw. der Nazidiktatur.
Hängt das in Deutschland möglicherweise damit zusammen, dass man das SED-Regime nicht annähernd für einen solchen Blutzoll verantwortlich machen kann, wie man das zum Beispiel mit der Stalin-Diktatur oder überhaupt der sowjetischen Diktatur machen kann?
Gerd Koenen: Das ist das eine, ja. Also, das würde ich jetzt wirklich nicht vergleichen wollen. Man kann sagen, zwei Diktaturen, okay, aber mit Verlaub, da war ja die DDR sozusagen ein Zwergenformat gegenüber dem großdeutschen Reich, was die halbe Welt in Schutt und Asche gelegt hat.
Überhaupt muss man mal sagen, dass die Kommunisten an den beiden Weltkriegen in der Hauptsache nicht als Urheber beteiligt waren. Gerade aus den Weltkriegen heraus sind diese Systeme entstanden. Aber die Grundkonflikte kamen aus einem Spiel der kapitalistischen und imperialistischen Mächte des Zeitalters.
Das andere ist aber, das betrifft ja auch die Ukraine, wo wir hier gerade sind, auch wieder: Immer da, wo man das so etwas externalisieren kann, das kommt von Moskau, Polen, die DDR sind dann durch die Rote Armee besetzt worden. Das kam nicht aus einem genuinen Wunsch der ostdeutschen Bevölkerung, sich jetzt ein volksdemokratisches Regime zu geben. Das kam durch diesen Vormarsch der Roten Armee.
Andererseits wird dann immer wieder gerne unterschätzt, dass man sich dann darin auch eingerichtet hat, dass man nicht nur sich eingerichtet hat, sondern dass es auch eine sehr aktive Beteiligung gegeben hat. Auch die Polen hatten am Machtkörper der Bolschewiki einen relativ hohen Anteil, das hören sie nicht gerne, die Letten auch und die Deutschen auch. Seit der Oktoberrevolution war das deutsche Element auch ziemlich stark.
Deutschland hat überhaupt in der ganzen Kommunismus-Geschichte eine zentrale Rolle gespielt.
"Geschichte ist ein offenes Projekt"
Deutschlandfunk Kultur: Wo stehen wir bei der Aufarbeitung des Kommunismus – auf der halben Strecke des Weges oder noch nicht mal?
Gerd Koenen: Ich muss mal sagen, dass ich mit dem Terminus "Aufarbeitung" auf Kriegsfuß stehe, weil es immer so ein bisschen der Magie unterliegt, man arbeitet es auf und dann hat man das alles durchdacht. Und dann hat man alles schön an seinen Platz gestellt. Geschichte ist ein offenes Projekt. Sie unterliegt immer… Die Geschichte ist die beste Utopie. Man kann sich rückwärts alles erfinden. Und das ist eine große Versuchung. Das sieht man eben, dass man national, revolutionär…
Deutschlandfunk Kultur: Aber wenn wir jetzt trotzdem nochmal versuchen zu bestimmen, wo wir stehen?
Gerd Koenen: Richtig. Die Historiker haben natürlich eine andere Aufgabe, als sich dem zu widmen, diese Bedürfnisse zu erfüllen. Also, eine wirklich quellengestützte kritische und auch selbstkritische Aufarbeitung von Geschichte ist natürlich, würde ich sagen, für eine über sich selbst aufgeklärte Gesellschaft was ganz Zentrales.
Und diese Frage, wo wir stehen, ist eben deshalb so schwierig, weil in den Hauptländern, die es vor allem betrifft - Russland und China, nehmen wir mal nur diese beiden großen Fälle - genau dort findet das größtenteils eben aus diesen Gründen, weil man damit nicht zurechtkommt, am wenigsten statt.
Wenn man über ganz bestimmte Themen der Geschichte im 20. Jahrhundert nicht sprechen kann und bis heute die ganze Geschichte des modernen China dieser kommunistischen Partei auf den Leib geschneidert ist, sie hat angeblich das neue China überhaupt erst wieder erschaffen, dann wird auch die ältere Geschichte Chinas verzerrt. Das finde ich dramatisch, weil, auch alles andere wird dann oft rückinterpretiert, bleibt bruchstückhaft. Das haben die Kommunisten natürlich angefangen. Die mussten sich alles auf ihren Leib schneidern. Alles musste auf sie zu laufen. Und dann kommt natürlich ein ganz verzerrtes Bild der Geschichte insgesamt heraus. Das ist das große Problem.
Deutschlandfunk Kultur: Das war Tacheles heute mit dem Historiker und Kommunismus-Experten Gerd Koenen und Sabine Adler am Mikrofon.