100 Jahre politischer Mord in Deutschland
Eine Sendereihe von Deutschlandfunk Kultur in Kooperation mit dem Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung
Autorin: Elke Kimmel
100 Jahre politischer Mord in Deutschland
Demonstrationen der Nationalsozialisten gegen den Antikriegsfilm "Im Westen nichts Neues". © picture-alliance / Imagno / Austrian Archives
Die alltägliche Bedrohung von rechts
06:31 Minuten
Nationalsozialisten ziehen vor Häuser Andersgesinnter, schimpfen und randalieren. Politiker erhalten Morddrohungen, werden überfallen. In der Weimarer Republik gehörte das zum Alltag. Polizei und Justiz schritten selten ein.
„Auer verlangt das sofortige Eingreifen der Regierung gegen die durch die Nationalsozialisten herbeigeführte politische Verwilderung. Gegen das Beschmieren der Häuser mit Hakenkreuzen und das Herunterholen der Reichsflagge stellte Genosse Auer die Selbsthilfe der Arbeiterschaft in Aussicht, falls die Polizei weiterhin fortgesetzt versage. Weiterhin stellte Auer die Frage: Hat die Regierung etwas im Hinblick auf den nationalsozialistischen Protest gegen den Besuch des Reichspräsidenten in München getan? Wenn Ebert nach München kommen will und die Regierung ihn nicht zu schützen vermag, werden die Sozialdemokraten es tun.“
So fasst der „Vorwärts“ am 31. Mai 1922 eine Rede des bayerischen SPD-Landesvorsitzenden Erhard Auer zusammen, die dieser in seiner Funktion als Landtagsvizepräsident am Vortag gehalten hat.
Überfall durch rechte Angreifer
Auer weiß, wovon er redet: Er selbst wurde am 25. Oktober 1921 von bewaffneten rechten Angreifern überfallen, die ihr Ziel aber verfehlten – Auer blieb unverletzt. Dem gewaltsamen Angriff waren öffentliche Beschimpfungen vorausgegangen. Der „Vorwärts“ berichtete am 22. Oktober 1921 davon:
„Ein Haufen junger Burschen zog kürzlich vor die Wohnung des Genossen Auer und begann zu johlen, zu pfeifen und zu schreien. In das Haus wurde gerufen: Auer raus, Schieber, Verräter, Saujud, Lump!“
Dass solche Beschimpfungen und Belagerungen überhaupt bekannt wurden, war eher die Ausnahme und hängt mit der Prominenz Auers zusammen. Andere müssen sich gegen üble Nachrede und Verleumdung wehren, wie etwa der preußische Innenminister Carl Severing, dem Käuflichkeit und Schiebung unterstellt wird.
Beschimpfungen und Drohungen
Reichspräsident Friedrich Ebert wird immer wieder als Vielfraß, als Alkoholiker und als Vaterlandsverräter beschimpft. Reichskanzler Joseph Wirth von der katholischen Zentrumspartei erhält zahlreiche Morddrohungen per Post. Solche Persönlichkeiten sind Angriffen ausgesetzt, aber ihre herausgehobene Stellung bietet ihnen auch Schutz.
In vielen Fällen versucht der „Reichskommissar für Überwachung der öffentlichen Ordnung“ herauszufinden, wer die zumeist anonymen Briefeschreiber sind. Die Aggressionen richten sich aber auch gegen einfache Beamte wie jenen Breslauer Gerichtsdiener, der Anfang Juni 1922 diesen Brief erhält:
„Mit kaltem Lächeln habe ich das Schreiben von Ihnen, mein Judenknecht, gelesen. Das ist ein falscher Irrtum von Ihnen, es gibt Gott sei Dank noch immer ein Königliches Amtsgericht. Waren Sie dabei, als Kaiser Wilhelm II. nach Holland ging? Sie alter Saubulle, verschrobene Schießbudenfigur. Lassen Sie sich man die Knochen nummerieren, Sie alter Sack. Wenn ich nach Breslau komme, trete ich Ihnen ein Hakenkreuz in den Asch. Und dann werden Sie geschliffen nach allen Regeln der Kunst. Wagen Sie es noch einmal den Kaiser zu beleidigen, dann hauen wir Sie, daß Sie in keinen Sarg mehr passen.“
Zur Rechenschaft gezogen wird nicht der Berliner Absender dieser Beschimpfungen, sondern der Beamte, der sich zur Republik bekannte.
In München dringen Nationalsozialisten mit brennender Zigarette in eine Synagoge ein und machen sich über die anwesenden Gottesdienstbesucher lustig: Es sei nirgendwo geschrieben, dass man in den Räumen nicht rauchen dürfe. Andernorts spucken Antisemiten demonstrativ vor jüdischen Friedhöfen aus oder skandieren „Judenblut muss fließen“.
Antisemitische Schmierereien
Immer wieder gibt es antisemitische Schmierereien, häufig versehen mit Hakenkreuzen. Besonders auf öffentlichen Toiletten überbieten sich die anonymen Hetzer mit Hassparolen. Die sozialdemokratische Presse reagiert auf diese allgegenwärtigen Schmierereien teilweise mit Sarkasmus wie diesem fiktiven Dialog:
„Alfred mein Liebling, wenn auch nicht mir, so tu´s Lizzi zu Liebe und stecke dir das Hakenkreuz an!“ – „Nein Mama! Was in jedem Lokus prangt, damit möchte ich mich nicht schmücken. Meine Brust ist keine Abort-Wand.“
Provozierende Gespräche in der Straßenbahn
Zum Alltag gehören „provozierende Gespräche in der Straßenbahn“, bei denen die USPD-Presse Zivilcourage fordert. Wie schwierig das ist, verdeutlicht ein Bericht im „Vorwärts“ über einen Ausflug in den Harz im Dezember 1921, bei dem sich der Autor von „Hakenkreuzlern“ nahezu umzingelt sieht:
„Männlein und Weiblein sind geschmückt; nicht mit Feldblumen oder Tannenreisig oder Eichenblättern, wie einstmals, sondern mit dem Hakenkreuz.“
Dieselben Menschen säßen dann abends in den Gaststätten und straften all jene mit feindseligen Blicken oder gehässigen Sprüchen, die „nicht flachsblonde und kaiserlich gescheitelte Haare“ besäßen oder eine „etwas anders geformte Nase“ hätten.
Sich wehren – fast aussichtslos
In Berlin begegnen Kunden auf dem Telegrafenamt Wilmersdorf Angestellten mit angeheftetem Hakenkreuz, die auf die „Judenrepublik“ schimpfen – obwohl das Tragen solcher Abzeichen im Dienst untersagt ist. Wie schwer es ist, sich gegen solche Hakenkreuzträger zu wehren, davon berichtet der sozialdemokratische Abgeordnete Erich Kuttner im Preußischen Landtag:
„Die Aufforderung eines jüdischen Kaufmannes an einen Hakenkreuzjüngling, sein Hakenkreuz abzulegen, wird von der Breslauer Strafkammer als ‚gemeingefährliche Beeinträchtigung der persönlichen Freiheit‘ bezeichnet, die ‚nicht energisch genug‘ bestraft werden könnte.“