100 Jahre politischer Mord in Deutschland
Eine Sendereihe über mörderische Demokratiefeindschaft und ihre Hintergründe
Zeitfragen, immer mittwochs gegen 19.25 Uhr
Eine Kooperation von Deutschlandfunk Kultur mit dem Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung (Potsdam)
100 Jahre politischer Mord in Deutschland
Eine geradezu mythische Verehrung brachten viele Deutsche in den 1920er-Jahren dem Generalfeldmarschall und späteren Reichspräsidenten Paul von Hindenburg entgegen. © picture alliance / arkivi
Der Hindenburgmythos und die Dolchstoßlegende
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Nicht die Armee, sondern "feindliche Kräfte" im Innern seien schuld an der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg: Maßgeblich behauptet wurde das von Generalfeldmarschall Hindenburg, der zur Symbolfigur der Rechten in der Weimarer Republik wurde.
"Auf die Frage, ob es nicht auch die Pflege des Geistes der deutschen Wehrhaftigkeit nötig sei, erwiderte Hindenburg: ‚Ja, und das bedeutet noch lange nicht Krieg. […] Trotzdem müssen wir immer daran denken, jenen Geist zu pflegen, um für alle Entwicklungsmöglichkeiten vorbereitet zu sein. Vergeblich wehrt man als Legende ab den Dolchstoß von hinten – und doch haben wir täglich neue Beweise dafür. Unser herrliches Heer – und mußte so zusammenbrechen.‘"
Am Vorabend seines 74. Geburtstags veröffentlicht das "Hamburger Tageblatt" ein Gespräch mit dem im konservativen Bürgertum als "Sieger von Tannenberg" verehrten ehemaligen Generalfeldmarschall und Chef der Obersten Heeresleitung Paul von Hindenburg. Seit seinem Abschied aus dem aktiven Dienst 1919 lebt Hindenburg in Hannover. In zahlreichen Vorträgen verbreitet er die Behauptung, die deutsche Armee sei "im Felde" unbesiegt gewesen und nur ein "Dolchstoß in den Rücken" durch die "feindlichen Kräfte" im Innern habe die Armee entscheidend geschwächt.
Tatsächlich hatte die Oberste Heeresleitung im Herbst 1918 unverzüglich zu einem bedingungslosen Waffenstillstand gedrängt, weil sie keine Chance mehr sah, den Krieg zu gewinnen. Doch davon wollte Hindenburg nichts mehr wissen, als er im November 1919 vor dem parlamentarischen Untersuchungsausschuss aussagte:
"Während sich beim Feinde trotz seiner Überlegenheit an lebendem und totem Material alle Parteien, alle Schichten der Bevölkerung in dem Willen zum Siege immer fester zusammenschlossen, und zwar um so mehr, je schwieriger ihre Lage wurde, machten sich bei uns, wo dieser Zusammenschluss bei unserer Unterlegenheit viel notwendiger war, Parteiinteressen breit, […] und diese Umstände führten sehr bald zu einer Spaltung und Lockerung des Siegeswillens. […] So mussten unsere Operationen misslingen, es musste der Zusammenbruch kommen […]. Den guten Kern des Heeres trifft keine Schuld."
Historische Tatsachen wurden verdreht
Diese Dolchstoßlegende entfaltete eine außerordentliche Wirkung in weiten Teilen der Gesellschaft. Sie bestärkte das Gefühl, dass die Republik am Unglück des verlorenen Krieges schuld sei und dass sie eigentlich nicht rechtmäßig zustande gekommen sei. In seinen 1920 veröffentlichten Memoiren verweist Hindenburg auf den Nationalmythos der Deutschen, das Nibelungenlied:
"Wie Siegfried unter dem hinterlistigen Speerwurf des grimmigen Hagen, so stürzte unsere ermattete Front […]."
Die demokratische Presse versucht, der Dolchstoßlegende mit historisch korrekten Darstellungen über das Ende des Krieges etwas entgegenzusetzen, bestätigt auch durch die Ergebnisse des parlamentarischen Untersuchungsausschusses. Doch diese Aufklärungsbemühungen bleiben in weiten Kreisen der Bevölkerung wirkungslos. Hindenburgs immer wieder vorgetragene Legenden wirken stärker. Dazu trägt bei, dass die Ergebnisse des Untersuchungsausschusses und die Sachverständigengutachten erst 1928 und dann auch nur in abgemilderter Form veröffentlicht werden.
Unterstützt von der konservativen Presse
Aus dem Ruhestand heraus entwickelt Hindenburg, der eigentlich maßgebliche Verantwortung für den verlorenen Krieg trägt, jene Aura, die ihn zum Gegenpol der demokratisch gewählten Regierenden macht – kräftig unterstützt von der konservativen Presse:
"Ein letzter Händedruck, ein letzter Blick in das erste Antlitz des großen, ehrwürdigen Mannes. Gewaltig war der Eindruck, diesem Manne unter vier Augen gegenüber zu sein, in seinem schlicht vornehmen Heim."
So endet der Bericht im "Hamburger Tageblatt" zu Hindenburgs Geburtstag 1921. Die mythische Verehrung, die ihm entgegengebracht wird, ist Voraussetzung dafür, dass Hindenburg 1925 zum Reichspräsidenten gewählt wird – mithin genau der Mann, dessen Dolchstoßlegende die Reputation der Republik untergräbt.