100 Jahre politischer Mord in Deutschland
Eine Sendereihe über mörderische Demokratiefeindschaft und ihre Hintergründe
Zeitfragen, immer mittwochs gegen 19.25 Uhr
Eine Kooperation von Deutschlandfunk Kultur mit dem Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung (Potsdam)
100 Jahre politischer Mord in Deutschland
Postkarten und Flugblätter weisen die Schuld des Deutschen Reichs am Ersten Weltkrieg zurück, bezeichnen dies als Lüge. © picture alliance / arkivi
Die "Kriegsschuldlüge"
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Nach dem Ersten Weltkrieg legt der Versailler Vertrag die alleinige Kriegsschuld des Deutschen Reichs und der Verbündeten fest. In Deutschland wird gegen die sogenannte „Kriegsschuldlüge“ Front gemacht, die wahren Ursachen der Niederlage werden verdrängt.
„Die Deutsche Volkspartei hat heute durch eine gewaltige Massenkundgebung in der Philharmonie eine Offensive gegen die Lüge von der deutschen Kriegsschuld eröffnet.
Alle drei Redner betonten, dass es sich hier nicht um eine Parteiangelegenheit handle, sondern um eine Ehrensache des ganzen deutschen Volkes, da auf der Lüge von der deutschen Kriegsschuld der Versailler Vertrag aufgebaut ist.
Die gewaltige Versammlung belohnte die Ausführungen mit wahrhaft tosendem Beifall. Feierlicher Orgelklang leitete die Kundgebung ein und schloss sie auch. Die Deutsche Volkspartei wird diese Kundgebung im ganzen Reich wiederholen.“
Empörung über Versailler Vertrag
Das berichtet der Bonner „General-Anzeiger“ am 9. Januar 1922. Insbesondere Frankreich, wo weite Landstriche durch den Stellungskrieg verwüstet sind, bestand nach Kriegsende darauf, die Kriegsschuld Deutschlands und seiner Verbündeten im Versailler Vertrag festzuhalten.
„Die alliierten und assoziierten Regierungen erklären, und Deutschland erkennt an, dass Deutschland und seine Verbündeten als Urheber für alle Verluste und Schäden verantwortlich sind, die die alliierten und assoziierten Regierungen und ihre Staatsangehörigen infolge des ihnen durch den Angriff Deutschlands und seiner Verbündeten aufgezwungenen Krieges erlitten haben.“
So lautet der Artikel 231 des Versailler Vertrages. Die Kriegsschuld ist Basis für die Reparationsforderungen, die die Alliierten an das Deutsche Reich stellen. Der Artikel 231 wird in Deutschland auch als moralische Verurteilung verstanden – und empört zurückgewiesen. Nur unter dem großen Druck der Alliierten stimmte der Reichstag im Juni 1919 der Unterzeichnung des Versailler Vertrages zu. Ansonsten hätte die Besetzung Deutschlands durch die Siegermächte gedroht. Das war allen Parteien im Reichstag klar.
Demokraten als "Vaterlandsverräter" beschimpft
Die rechten Parteien nutzen dennoch die sogenannte „Kriegsschuldlüge“, um Demokraten als „Vaterlandsverräter“ zu beschimpfen und die kaiserliche Regierung von jedem Versagen freizusprechen. Auch die SPD spricht vom „Friedensdiktat“ von Versailles, sieht aber auch Verantwortung bei „dem ehemaligen Kaiser Wilhelm und seinem System“, wie der „Vorwärts“ am 17. Juni 1922 schreibt:
„Diese Männer sind schuldig, durch gröbste Fahrlässigkeit diesen Zusammenstoß herbeigeführt zu haben, der zwei Millionen Deutsche das Leben kostete, und diese Schuld wäscht auch keine mangelnde ‚Absicht‘ von ihnen ab. Eine Erörterung der Kriegsschuldfrage, die dies verschweigt, ist nichts als Heuchelei.“
Kampagne für die deutsche Vorkriegspolitik
Doch seit Kriegsende haben sich auch die SPD und die demokratischen Parteien gescheut, offensiv die Frage der Mitschuld der kaiserlichen Regierung am Kriegsausbruch 1914 zu thematisieren. Stattdessen ist im Auswärtigen Amt ein eigenes Referat eingerichtet worden, das die Aufgabe hat, die deutsche Vorkriegspolitik in einem möglichst günstigen Licht darzustellen und die Veröffentlichung aller anderslautenden Dokumente zu verhindern.
Das Kriegsschuldreferat finanziert Publikationen und massenhaft verteilte Flugblätter. So zitiert ein Flugblatt des Arbeitsausschusses Deutscher Verbände 1929 den Reichspräsidenten Paul von Hindenburg:
„Nicht Neid, Hass oder Eroberungslust gaben uns die Waffen in die Hand. Der Krieg war uns vielmehr das äußerste mit den schwersten Opfern des ganzen Volkes verbundene Mittel der Selbstbehauptung einer Welt von Feinden gegenüber. Reinen Herzens sind wir zur Verteidigung des Vaterlandes ausgezogen und mit reinen Händen hat das deutsche Heer das Schwert geführt.“
Propaganda gegen die Weimarer Republik
Diese „Welt von Feinden“ ist in monarchistischen Kreisen sprichwörtlich. Aber die Flugblatt-Propaganda kann sich auch auf den renommierten Berliner Historiker Hans Delbrück berufen:
„Von allen Großstaaten betrieb vor 1914 allein Deutschland eine Politik des Friedens und des Rechts, die anderen aber waren ihm weit voran durch ihre pazifistische Heuchelei.“
Ernsthafte Versuche, die Ursachen des Kriegsausbruchs zu erforschen und die Erfahrungen der entfesselten Kriegsgewalt zu verarbeiten, gibt es in den öffentlichen Debatten der Weimarer Republik nur vereinzelt. Parlament, Regierung und Verwaltung vermeiden eine gewissenhafte Untersuchung des Kriegsausbruchs. So bieten sie den Republikfeinden eine willkommene Angriffsfläche für eine sehr wirkungsvolle Propaganda gegen die Weimarer Republik.