100 Jahre politischer Mord in Deutschland
Eine Sendereihe über mörderische Demokratiefeindschaft und ihre Hintergründe
Zeitfragen, immer mittwochs gegen 19.25 Uhr
Eine Kooperation von Deutschlandfunk Kultur mit dem Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung (Potsdam)
100 Jahre politischer Mord in Deutschland
Ein Sonderzug für Stimmberechtigte bei der Volksabstimmung Schlesien am 20. Maäz 1921 wartet im Schlesischen Bahnhof Berlin © picture-alliance / akg-images
Mörderischer Kampf um Oberschlesien
04:31 Minuten
Nach dem Ersten Weltkrieg lassen die Siegermächte zunächst offen, wo die Grenze zwischen Deutschland und Polen verlaufen soll. Vor allem im oberschlesischen Industrierevier entbrennt ein heftiger Kampf zwischen beiden Staaten.
"Breslau, 21. Oktober. Der Oberbürgermeister hat angeordnet, dass sämtliche städtischen Gebäude, einschließlich der Schulen, auf Halbmast oder mit Trauerflor zu flaggen sind." Das berichtet der sozialdemokratische "Vorwärts" am 22. Oktober 1921. Der Grund für die Anordnung ist kein Trauerfall. Vielmehr haben sich die Vertreter der Entente-Mächte Frankreich, Großbritannien und USA dem Rat des Völkerbundes angeschlossen und einer Teilung Oberschlesiens zugestimmt.
Das oberschlesische Kohle- und Industrierevier um Kattowitz gehört nun zu Polen. Die deutsche Öffentlichkeit reagiert empört, bis weit ins linke Milieu hinein, weil die Entscheidung dem Prinzip des Selbstbestimmungsrechts der Völker zu widersprechen scheint. Um das nicht zu verletzen, war die Frage der Grenzziehung zwischen Deutschland und Polen 1918 zunächst offen gelassen worden.
Nationalistische Parolen
Eine Volksabstimmung sollte über den Verbleib des umstrittenen Gebiets entscheiden, das bis dahin unter alliierter Verwaltung stand. Sowohl polnische als auch deutsche Institutionen hatten massive Propaganda für diese Abstimmung betrieben.
"Oberschlesier! Wahret Euren Vorteil – wählet deutsch!"
"Schlesier seid auf der Hut! Der Tod Eures Wohlstands naht sich!"
"Wir Ober-Schlesier wählen deutsch!"
"Der polnische Wolf begehrt Eure Heimat! Duldet das nicht!"
"Oberschlesier! Lass nicht Fremde ernten, was Du gesät hast – stimme deutsch!"
"Schlesier seid auf der Hut! Der Tod Eures Wohlstands naht sich!"
"Wir Ober-Schlesier wählen deutsch!"
"Der polnische Wolf begehrt Eure Heimat! Duldet das nicht!"
"Oberschlesier! Lass nicht Fremde ernten, was Du gesät hast – stimme deutsch!"
Oberschlesien ist der deutschnationalen Propaganda zufolge die Region, in der die Zukunft des Deutschen Reichs entschieden wird. Eigens eingesetzte Züge bringen 180.000 Menschen zur Abstimmung in ihre oberschlesischen Herkunftsorte.
Am 21. März 1921 stimmen insgesamt fast 60 Prozent der Wahlberechtigten für den Verbleib bei Deutschland, aber wegen der sehr ungleichmäßigen Verteilung der Stimmen ist eine Grenzziehung schwierig.
Ab Anfang Mai 1921 besetzen polnische Verbände, kaum behindert von der alliierten Verwaltung, weite Gebiete in West-Oberschlesien und drohen, Oppeln einzunehmen, um vollendete Tatsachen zu schaffen. Als Reaktion gründen die Deutschen erste Einheiten des Oberschlesischen Selbstschutzes. Innerhalb von Tagen kommen aus dem ganzen Reich angeblich längst aufgelöste Freikorpsverbände und Angehörige der geheimen "Organisation Consul" zu Hilfe, wiederum toleriert von einer machtlosen Regierung. Am 21. Mai erobern diese Truppen Annaberg und hissen dort Schwarz-Weiß-Rot – die Farben des Kaiserreichs.
Bis zu 200 Fememorde
Nur das Eingreifen der Entente verhindert das weitere Vorrücken der deutschen Einheiten. Doch der angeordnete Rückzug und die Entwaffnung aller nicht-einheimischen Verbände wird vielfach unterlaufen. Die in Oberschlesien verbleibenden Mannschaften terrorisieren deutsche und polnische Einheimische. Sie verüben bis zu 200 Fememorde an angeblichen "Verrätern".
Die Entscheidung der Siegermächte des Ersten Weltkriegs, Oberschlesien zu teilen und das Kohlerevier um Kattowitz Polen zuzuschlagen, schafft zwar vorläufig klare Verhältnisse an der deutschen Ostgrenze, doch die nationalistische Kampagne hat die politische Radikalisierung verstärkt und die Schwäche der Reichsregierung unterstrichen. Freikorps und die rechtsradikale "Organisation Consul" hingegen nutzen den Einsatz in Oberschlesien, um noch engere Netzwerke zu knüpfen – zur Bekämpfung der Republik.