100 Jahre politischer Mord in Deutschland
Eine Sendereihe über mörderische Demokratiefeindschaft und ihre Hintergründe
Zeitfragen, immer mittwochs gegen 19.25 Uhr
Eine Kooperation von Deutschlandfunk Kultur mit dem Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung (Potsdam)
100 Jahre politischer Mord in Deutschland
Die Novemberrevolution war während der Weimarer Republik bei vielen Zeitgenossen nicht sehr populär. © imago images / United Archives
Wie man in der Weimarer Republik auf die Novemberrevolution blickte
05:34 Minuten
Der 9. November ist heute der Schicksalstag der Deutschen. Vor 100 Jahren stand er noch ganz im Zeichen der Revolution von 1918. Der Umgang mit diesem Datum war aber schon damals ambivalent.
"Die Republik begeht heute ihren dritten Geburtstag. Das ist ein Anlaß nicht zu Jubelfeiern, aber zu ernstem Gedenken."
So beginnt Otto Braun, in der Weimarer Republik fast durchgängig Ministerpräsident des Freistaates Preußen, am 9. November 1921 seinen Leitartikel in der SPD-Zeitung "Vorwärts" zum Jahrestag der Revolution.
"Die Monarchie in Deutschland ist nicht an der Kraft der inneren Gegner zugrunde gegangen, sondern an ihrer eigenen Unfähigkeit, sich in einer Weltkrise zu behaupten. Alle Parteien stimmten darin überein, daß die Politik des kaiserlichen Deutschland nach Bismarck verhängnisvoll falsch gewesen ist. […] Nach der totalen Auflösung der alten Ordnung wäre Deutschland ins Chaos versunken, wenn nicht die Arbeiter die Führung übernommen und die deutsche Republik aufgerichtet hätten. Das bleibt ein Ruhmesblatt in der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, soviel auch später durch Zersplitterung und Bruderkampf gesündigt worden ist."
Kaum Stolz auf die errungene Demokratie
Von Feiern, von Freude ist keine Rede. Vielmehr ruft Braun seine Leser zum weiteren Durchhalten auf. Wie er weist auch das von SPD und USPD geleitete thüringische Staatsministerium in der "Freiheit" darauf hin, dass die Probleme der Republik ihre Ursache in den Fehlern der Monarchie haben. Trotzdem klingt Stolz auf die errungene Demokratie an – eine Haltung, die in der Weimarer Republik nicht sehr verbreitet ist.
"Vom 9. November 1918 führte diese rastlose Arbeit zum 1. Mai 1920, zum Geburtstage des Freistaates Thüringen. 9. November und 1. Mai werden daher immer bedeutsame Tage für unser Land bleiben, Feiertage, die nicht überkommen sind aus vergangenen Zeiten harter Knechtschaft und geistiger Bevormundung, sondern entsprungen und errungen sind durch den Willen und die Arbeit eines freigewordenen, sich selbst regierenden Volkes."
Ganz anders die "Berliner Börsen-Zeitung". Für sie ist der 9. November der Tag, "[…], an dem vor drei Jahren Haufen von halbwüchsigen Burschen in den Straßen der Reichshauptstadt eine Revolutionsgroteske aufführten […]."
So ein Tag dürfe selbstverständlich nicht durch einen Feiertag gewürdigt werden. Dass die Beschäftigten der Berliner Verkehrsbetriebe ihre Arbeit für zehn Minuten ruhen lassen wollen, werde ihnen, so hofft die "Börsen-Zeitung", harsche Kritik einbringen.
Ein "kalte und eindruckslose" Revolutionsfeier
Darüber schreibt auch die "Deutsche Allgemeine Zeitung" am 10. November:
"Kalt und eindruckslos verlief die gestrige Revolutionsfeier. […] Etwas Besonderes war diesmal nur die 10-Minuten-Feier der Hochbahner. Die Züge hielten 10 Minuten auf den Haltestellen, wobei die Fahrgäste nichts anderes tun konnten, als auf dem Steig auf und ab zu gehen und sich zu langweilen. Soweit sie zu jenen Leuten gehörten, die angestrengt zu arbeiten haben, konnten sie stille Betrachtungen anstellen über die soziale Denkweise der Verursacher dieser Verkehrsstörung, die das Wort ‚sozial‘ stets im Munde führen, sich aber nicht scheuen, berufstätige Leute sinn- und zwecklos um einen wesentlichen Teil ihrer Zeit zu bestehlen. Übrigens schienen sich die Hochbahner […] selbst recht unbehaglich zu fühlen, schlugen die Hände auf dem Rücken zusammen, um sich warm zu machen, und vermieden es, den in ihrer Fahrt aufgehaltenen Fahrgästen ins Auge zu sehn."
Hoffnung auf eine noch radikalere Umwälzung
Drei Jahre nach der Revolution und dem Sturz der Monarchie ist von Aufbruchstimmung nichts mehr zu spüren. Auch die Unabhängigen Sozialdemokraten blicken skeptisch auf die Republik, da die "Bourgeoisie" die Bruderkämpfe der Arbeiter zur eigenen Machtvermehrung genutzt habe.
"Während sich die verschiedenen Arbeiterparteien über die Frage der besten Staatsform gegenseitig die Köpfe einschlugen, eroberte die Bourgeoisie auf wirtschaftlichem Gebiet Schritt um Schritt das verlorene Terrain zurück, ja, sie eignete sich, begünstigt durch ihre größere Bewegungsfreiheit in der demokratischen Republik […] eine Machtfülle an, die sie in solchem Umfange nie besessen hatte. […] Zu den Machtstellungen des alten junkerlichen Obrigkeitsstaates, die in Form zahlreicher wichtiger Posten in der Regierung, Verwaltung, Justiz usw. erhalten geblieben waren, kamen nun die neuen wirtschaftlichen und politischen Machtpositionen des Großkapitals hinzu."
Diese Herrschaft des Kapitals habe längst "die Form einer Diktatur angenommen", schreibt die "Freiheit" am 9. November 1921. Die Gesellschaft ist gespalten. Während die einen drei Jahre nach der Novemberrevolution die vermeintlich bessere Ordnung der Vorkriegszeit zurücksehnen, hoffen die anderen auf eine noch radikalere Revolution. Entschiedene Befürworter hat die Republik nur wenige.