Wilhelm Conrad Röntgen
Der deutsche Physiker Wilhelm Conrad Röntgen (1845-1923) erhielt 1901 den Nobelpreis für Physik für seine Entdeckung der Röntgenstrahlen. © Getty Images / Corbis
Blick ins Innere des Menschen
Vor 100 Jahren starb Wilhelm Conrad Röntgen. Die von ihm entdeckten Röntgenstrahlen revolutionierten die Medizin und machten den deutschen Physiker weltberühmt. Doch seine Entdeckung verursachte auch einen gefährlichen Hype.
Es sieht aus wie eine gespenstische Kralle, die aus dem unteren Bildrand herauswächst. Aus einer dunklen Handwurzel sprießen die Mittelhandknochen. Auf ihren Gelenken scheinen Fingerglieder zu balancieren. Über einem der Finger schwebt ein schwarzer Ring, wie ein viel zu großer Klunker an einer knöchernen Kette. Der Ehering und die Hand gehören Anna Bertha Röntgen. Ihr Ehemann Wilhelm Conrad Röntgen entdeckte 1895 zufällig die Röntgenstrahlen. Das Foto machte ihn in kurzer Zeit weltberühmt und revolutionierte die Medizin.
Ohne Abitur zum Nobelpreis
Durch einen Zufall entdeckte Wilhelm Conrad Röntgen die nach ihm benannten Strahlen. Wenn es nach ihm ginge, hießen sie auch heute noch "X-Strahlen", wie er sie taufte. Röntgen war bereits 50 Jahre alt und Professor an der Universität Würzburg, nachdem er in Zürich seine akademische Laufbahn begonnen hatte, ganz ohne Abitur. Wie viele Wissenschaftler seiner Zeit experimentierte er mit einer Gasentladungsröhre und ahnte nicht, was er so entdecken würde. In der Röhre wurden Elektronen unter hoher Spannung stark beschleunigt, trafen dann auf eine Metallplatte und wurden abgebremst.
Sein Kollege Philipp Lenard beobachtete, dass aus dem Röhrenkasten Licht austrat, obwohl er mit schwarzer Pappe verdeckt war. Eine Leinwand, die zufällig im Labor stand, leuchtete immer dann auf, wenn der Apparat in Betrieb war. Etwas Unsichtbares musste durch die blickdichte Box nach außen getreten sein, aber was? Und womit konnte er es aufhalten?
Bilder von Büchern und Händen
Röntgen experimentierte daraufhin wochenlang. Mal hielt er ein dünnes Buch vor die unsichtbaren Strahlen, dann ein dickes. Kein Unterschied, die lichtsensible Leinwand leuchtete komplett auf. Dann hielt er eine Spielkarte vor, dann einen ganzen Stapel, kein Schatten war zu sehen. Er probierte es mit einer Münze und es erschien ein dunkler Fleck auf der Leinwand. Sie musste die unbekannten Strahlen irgendwie aufgehalten haben, aber warum? Er durchleuchtete alles, was ihm im Labor in die Hände fiel. Und so hielt er am Ende seine eigene Hand in die Strahlen.
Röntgen hielt seine Hand zwischen das Gerät und die lichtsensible Fotoplatte. Es muss um die 30 Minuten gedauert haben. Erst strahlte die Platte weiß, dann erschienen langsam leichte Umrisse seiner Hand, dann war es eindeutig: Nicht seine Hand, seine Handknochen warfen einen schwarzen Schatten. Der Physiker war der erste Mensch, der auf diese Weise sein Skelett sah. Noch konnte er sich nicht erklären, dass es das Calcium war, das die Strahlung abprallen ließ. Was ihm aber sofort klar war: Er war einem großen Geheimnis auf der Spur. Und das anschließende Geisterhand-Foto seiner Frau machte das nicht nur der Wissenschaft, sondern auch Laien klar.
Heute wissen wir, dass Wilhelm Conrad Röntgen in seinem Experiment Röntgenstrahlen künstlich erzeugte: Elektronen bremsen vor dem negativen Pol, der Anode, ab und ein Teil der Energie wird frei. In einem bestimmten Wellenbereich werden diese elektromagnetischen Strahlen zu Röntgenstrahlen, entweichen und dringen durch gewisse Materialien hindurch.
Röntgen wurde zum Hype
Das Besondere war, dass Röntgen seine Experimente mit Fotos dokumentierte. Das war im Jahr 1895 Wissenschaftskommunikation at its best.
Röntgen veröffentlichte seine Erkenntnisse und das Foto der Hand ging um die Welt. Ein Röntgen-Hype begann. Skelette gab es sonst nur im Operationssaal zu sehen oder am toten Menschen. Die Vorteile der neuen Technologie waren anhand des Fotos sofort zu verstehen: Brüche, Tumore und Nierensteine konnten entdeckt werden. Und da viele Labore zu der Zeit Gasentladungsröhren hatten, bauten Forscher das Röntgenexperiment nach. Es war der Beginn der Radiologie.
Berichte erzählen von Jahrmarkt-Röntgenbuden und X-Ray-Partys, auf denen Gäste ihre Rippen zum Spaß verglichen. Es gab Schuhläden, in denen Kundenfüße erst geröntgt wurden. Auch Forschende und Mediziner setzten das Röntgen unbedarft ein. Manche von ihnen kostete das ihr Leben. Erst später wurde bekannt, dass die Strahlung schwere Schäden am Körper verursachen und auch zu Krebs führen kann. Ein Denkmal am St. Georg Krankenhaus in Hamburg erinnert an die Opfer von Strahlenschäden.
Gepäck und Gewebe durchleuchten
Heute ist die Strahlenbelastung durch Röntgenaufnahmen mit der von damals nicht vergleichbar. Der medizinische Fortschritt hat die Röntgentechnik so weit verfeinert, dass die Belastung immer kleiner und die Detaildarstellung immer besser wurde.
Computertomografen scannen den Körper aus Tausenden Richtungen für 3D-Abbildungen. Röntgengeräte durchleuchten Weichgewebe und selbst Blutgefäße können mit injiziertem Kontrastmittel sichtbar gemacht werden, um zum Beispiel einen Herzinfarkt zu diagnostizieren.
Auch moderne Sicherheitstechnik, etwa Gepäck- und Bodyscanner am Flughafen, basiert auf Röntgens Entdeckung. Riesenröntgengeräte scannen das Weltall ab. Röntgengeräte durchleuchten verborgene Schichten unter alten Gemälden, lösen Geheimnisse von versiegelten Briefen und verbundenen Mumien.
Zum Ende des 19. Jahrhunderts konnte plötzlich eine Erfindung nicht nur durch Kleidungsschichten schauen, sondern durch unser größtes Schutzschild, die Haut. Was verborgen war, wurde offenbar. Es war dieselbe Zeit, in der Freud das Unbewusste erforschte. Was war noch alles möglich? Die ersten Röntgenbilder ließen von großen Erkenntnissen träumen, weckten aber auch Ängste, allzu gläsern zu werden als Mensch.
Das Foto der gespenstigen Hand hat mit klinischen Röntgenbildern von heute nicht mehr viel gemeinsam. Aber es löst immer noch Faszination aus. Es erinnert uns daran, dass wir, auch in unserem digitalen Leben, Menschen aus Fleisch und Blut sind. Auch wenn wir ihn gerne mal vergessen, wir tragen alle einen knöchernen Schädel mit uns rum.
Rätseln um Röntgen
Wilhelm Conrad Röntgen beschäftigte sich seit seiner Entdeckung nicht mehr mit den Strahlen. Warum ist nicht bekannt, wie so vieles über ihn: Denn Röntgen verfügte in seinem Testament, dass all seine Aufzeichnungen zu vernichten seien. Nachdem er in Kürze weltberühmt wurde, hielt er nie wieder einen öffentlichen Vortrag über Röntgenstrahlen, nicht einmal, als ihm der erste Nobelpreis für Physik verliehen wurde. Röntgen stiftete sein Preisgeld und auf sein Röntgengerät meldete er kein Patent an. Er schlug keinen Profit aus seiner Entdeckung. Sie gehörte fortan der gesamten Menschheit.
(inw, Deutschlandradio)
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