100 Jahre Vertrag von Trianon

Geschichtspolitik mit einem ungarischen Trauma

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Ankunft der ungarischen Delegation, unter Führung von Dr. Benard, begleitet von Colonel Henry. Männer in Anzügen laufen an Soldatenreihen vorbei.
Am 4. Juni 1920 wurde der Friedensvertrag zwischen Ungarn und den Alliierten im Schloss Trianon in Versailles unterzeichnet. Hier die Ankunft der ungarischen Delegation. © picture-alliance/dpa/akg-images
Von Stephan Ozsváth |
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Mit dem Friedensvertrag von Trianon am 4. Juni 1920 in Paris verlor Ungarn als unterlegene Kriegspartei schlagartig zwei Drittel seines Territoriums. Mit politischem Kalkül nutzt der ungarische Präsident Viktor Orbán das historische Ereignis.
Der 4. Juni 1920 ist ein Schicksalstag für die Ungarn. Damals schrumpft das Land auf ein Drittel der Größe des Königreichs zusammen, Millionen Menschen werden plötzlich Bürger der zum Teil neu gegründeten Anrainerstaaten. Rumänien bekommt mit Siebenbürgen ein Gebiet, das fast genauso groß ist wie der geschrumpfte ungarische Staat. Bis heute ist Trianon das große Trauma der Ungarn – und damit lässt sich trefflich Politik machen.
Die Rockband Kárpátia hat "Trianon" zu ihrem Geschäftsmodell gemacht. Seit Jahren bieten die ungarischen Rechtsrocker zuverlässig den Soundtrack für Revisionisten.
"Nem, Nem, Soha" – das "Nein, Nein, Niemals" der Zwischenkriegszeit – im Refrain eines Kárpátia-Songs von heute. 2006 spielt Kárpátia sogar in "Trianon" selbst – dem Lustschloss bei Versailles. Hunderte Ungarn skandieren vor dem Schloss: Weg mit Trianon.

"Das hält die Nation zusammen"

Der Weltverband der Ungarn – ein stramm rechter Verein – sammelt seit Jahren sogar Unterschriften für eine Revision des Friedensvertrages in Budapester Metrostationen. Der Kossuth-Platz in Budapest, direkt an der Donau ist das ungarische Parlament. János Rainer deutet auf einen Ort gegenüber dem Eingang.
"Das hier wird das Trianon-Denkmal, hier kann man über so eine Art Rampe hinunter gehen. Und an den Marmorwänden sind die Namen aller Gemeinden des alten Großungarn angebracht."
So beschreibt der Historiker, der an der Universität Eger lehrt, das Mahnmal zum 100. Jahrestag des Trianon-Vertrages. Die Botschaft sei der Propaganda der Horthy-Zeit – also der Zwischenkriegszeit – sehr ähnlich, meint Rainer, alles zurück. Aber halt nur symbolisch.
"Es geht nicht darum, die europäische Friedensordnung aufzukündigen und Grenzverläufe neu zu diskutieren. Die Hauptbotschaft von diesem Trianon-Mahnmal und anderen ist innenpolitisch motiviert: Das ungarische Opfer, die ungarische Nation, die ungarische Integrität, die viele Schläge hinnehmen musste. Der Gedanke lebt weiter – und das hält die Nation zusammen."

Orbán hält Staatsbürger in Angst

Und die schart sich hinter ihrem Anführer Viktor Orbán. Die Rechnung ist bisher aufgegangen. Seit zehn Jahren regiert der Nationalist mit Zweidrittelmehrheit. Der Platz vor dem Parlament wird so gestaltet, wie er 1944 ausgesehen hat: Zu Zeiten des Reichsverwesers Horthy, der durch einen Deal mit Nazis und Italienern 1938 und 1940 einen Teil der Gebiete zeitweise zurückbekam, die Ungarn mit dem Vertrag von Trianon 1920 verloren hatte. Das macht ihn beliebt auch bei Orbán.
"Dass wir nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg, den 133 Tagen roten Terror und dem Friedensdiktat von Trianon nicht unter der Last der Geschichte begraben wurden, ist wenigen außergewöhnlichen Staatsmännern zu verdanken."
Allen voran nennt Orbán Miklós Horthy, der als ungarisches Staatsoberhaupt mit den Nazis kollaborierte. Von allem, was als "links" gilt, wird der Platz bereinigt, urteilt die Soziologin Éva Kovács. Selbst die Statue von Imre Nagy musste einem Denkmal für die Opfer der Räterepublik 1919 weichen. Imre Nagy, die reformkommunistische Symbolfigur des ungarischen Aufstandes von 1956, wurde einen Kilometer weiter versetzt. Éva Kovács.
"Orbán arbeitet daran, dass wir ein stolzes, gebärfreudiges Volk sein sollen. Wir sollen viele Kinder gebären, auf unser Ungartum stolz sein – ohne internationale Diskussion. Das reicht von Attila über den Tatarensturm bis zur Székler Runenschrift. Das alles zeigt nur: Wir sind allein, den Stürmen der Geschichte ausgesetzt. Deshalb müssen wir zusammenhalten. Orbán gibt keine demokratische Antwort: Du bist für Deine Zukunft verantwortlich, er hält die ungarischen Staatsbürger in dieser Angst gefangen. Damit will er eine Art kollektive Identität schaffen."

Den 4. Juni – den Tag der Unterzeichnung – hat die Regierung Orbán schon vor Jahren zum "Tag des Nationalen Zusammenhalts" erklärt und Lieder zum Singen hüben wie drüben der Grenze komponieren lassen. In offiziellen Dokumenten ist von einem "Friedensdiktat" die Rede. Soziologin Kovács sagt, im Opfermythos werde die Rolle Ungarns im Holocaust relativiert, die Mittäterschaft. Der frühere Vizekanzler Österreichs Erhard Busek sieht den Trianon-Mythos auch aus anderen Gründen kritisch.
"Trianon ist das große Trauma des heutigen Ungarn. Für die Ungarn ist es die Geschichte des Verlusts von zwei Dritteln des Gebietes des Königreichs Ungarn. Was die Ungarn nicht realisieren, ist, dass dort nicht nur lauter Ungarn gewohnt haben, sondern dass es eine beachtliche Sammlung war.
Eine beachtliche Sammlung: In den Gebieten, die der ungarische Staat 1920 verlor, lebten nicht nur mehrheitlich Ungarn, sondern auch Angehörige anderer Nationalitäten. Heute sind die Ungarn dort nur eine Minderheit, die – etwa in der Slowakei und Rumänien – aber durch eigene Parteien einen gewissen Einfluss haben, betont Busek. Etwa zwei Millionen sind es – die wegen Trianon heute in den Anrainerstaaten leben. Unter ihnen hat sich Ungarns Premier Viktor Orbán einen neuen Wählerpool erschlossen. Seine Strategie geht bisher auf: Geld aus Budapest für Kultur, Bildung und Sport gegen das richtige Kreuz auf dem Wahlzettel. In der Coronapandemie versorgt Außenminister Péter Szíjjártó sie mit Schutzmasken.
"Wir sind ein Land, in dem das Volk und die Grenzen nicht zusammenfallen. Da jeder Ungar für jeden Ungarn verantwortlich ist, kümmern wir uns auch um die Auslandsungarn."
Der ungarische Admiral Miklós Horthy (r) 1943 im Gespräch mit Hitler und dem deutschen Außenminister Ribbentrop.
Der ungarische Admiral Miklós Horthy (r) 1943 im Gespräch mit Hitler und dem deutschen Außenminister Ribbentrop.© imago images / United Archives Internationa

Familienbande und kulturelle Wurzeln

Besuch beim Ungarisch-Burgenländischen Kulturverein in Oberwart, 100 Kilometer von Wien entfernt, nahe der ungarischen Grenze. Auch er bekommt ein paar Tausend Euro pro Jahr aus Budapest, erzählt die Vorsitzende Marianne Seper. Vor Trianon gehörte das Burgenland zu Ungarn, es ging an Österreich. Das nahe Sopron wurde per – umstrittener Volksabstimmung – 1921 den Ungarn zugeschlagen.
"Trianon spielt für mich eine Rolle. Da ich Geschichte unterrichte und da ich dieses Thema natürlich nicht auslasse. Weil die Friedensverhandlungen für Deutschland, für Österreich, für Ungarn ein wichtiges Kapitel sind – vor allem, weil es dazu geführt hat, dass der Völkerbund entstanden ist bzw. später dann die UNO – dessen wichtigstes Ziel die Bewahrung des Friedens ist. Und deswegen ist es für mich wichtig, dass den Schülern auch beizubringen, dass Staaten, die für einen Krieg verantwortlich waren, auch zur Rechenschaft gezogen wurden."
Ihre Nabelschnur nach Ungarn sind Familienbande und kulturelle Wurzeln. Regelmäßig fährt sie ins Theater nach Szombathely oder Budapest, erzählt sie. Auf einem Video sieht man sie mit roter Schleife im Haar tanzen, seit vielen Jahren macht sie bei der Tanzgruppe "Virgonc" mit.
"Als ich noch aktiver getanzt habe, waren wir natürlich sehr oft eingeladen bei diesen Trianon-Feiern. Und wir haben getanzt. Nur – in den letzten Jahren musste ich das immer wieder erkennen, dass diese Feiern sehr nationalistisch waren und wir wollten uns ganz einfach nicht in diese nationalistische Ecke drängen lassen. Ich verstehe das nicht, warum man etwas nachtrauert, was so lange her ist und was außer Diskussion steht, dass man es ändern kann. Ich versteh einfach den Gedanken dahinter nicht, weil da mein Herz nicht blutet."
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