Reform-Pädagogik aus der Zigarettenfabrik
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Die ersten Waldorf-Schüler waren Kinder von Fabrikarbeitern. 1919 gründete Rudolf Steiner in Stuttgart die erste Schule für seine anthroposophische Pädagogik. Das Gebäude dafür stellte Emil Molt, Besitzer der Zigarettenfabrik Waldorf-Astoria.
Nach den Kirchen sind die Waldorfschulen in Deutschland die größten privaten Schulträger. In diesen Tagen feiert die Waldorfbewegung ihr 100-jähriges Bestehen. Wenig bekannt sind jedoch die Ursprünge der Bewegung in Württemberg: An der ersten Waldorfschule, gegründet am 7. September 1919 auf der Uhlandshöhe in Stuttgart, werden bis heute Schülerinnen und Schüler unterrichtet und Lehrkräfte an historischer Stätte ausgebildet.
"Ich glaube, es gibt in Stuttgart kaum jemand, der nicht irgendeinen Kontakt hat zu einer Waldorfeinrichtung", sagt Ute Schüler, Kuratorin der Ausstellung "100 Jahre Waldorf in Stuttgart – einer Beziehung auf der Spur." Die Schau im Stuttgarter Rathaus zeigt selbstgemalte Tafelbilder. Präzise Zeichnungen die auf den ersten Blick wie Plakate wirken. So auch Portraits von Rudolf Steiner und dem Unternehmer Emil Molt. Auf beide Männer geht die Gründung der ersten Waldorfschule zurück, wie Ute Schüler Oberstufenlehrerin für Kunstbetrachtung an der Stuttgarter Freien Waldorfschule Kräherwald erinnert.
Waldorf-Gründer Rudolf Steiner leitete die erste Schule
"Im April 1919 kam der Emil Molt auf den Rudolf Steiner zu", erzählt Schüler, "und sie haben sich überlegt: ‘Lass uns doch aus dieser Anthroposophie eine Pädagogik machen.' Und im September wurde in dem Café Uhlandshöhe, das sich Emil Molt dann gekauft hat, im Kanonenweg, die erste Waldorfschule eröffnet."
Dem Unternehmer Emil Molt gehört die Zigarettenfabrik "Waldorf-Astoria" in Stuttgart. Unter den Eindrücken der Novemberrevolution beschließt Molt, mehr für seine Angestellten zu tun. "Waldorf-Astoria" bekommt nicht nur den ersten Betriebsrat in Württemberg, sondern auch eine fabriknahe Schule. In einem ehemaligen Stuttgarter Café findet im September 1919 der erste Unterricht statt. Rudolf Steiner selbst leitete diese erste Waldorfschule.
Das Café Uhlandshöhe wurde jüngst abgerissen, zurzeit entsteht an gleicher Stelle ein neues Verwaltungs- und Schulgebäude. Längst sind in den vergangenen Jahrzehnten auf dem über 300 Meter hohen Hügel "Uhlandshöhe" etliche neue Gebäude hinzugekommen. Ein Sportplatz, der erste Schulgarten mitten im parkähnlichen Schulensemble sowie Teile eines großen Schulgebäudes stammen noch aus dem Gründungsjahr 1919.
Die Aura der "Mutterschule" ist lebendig
"Was wir noch urtümlich an Bausubstanz haben, ist das erste Erdgeschoss des Haupthauses", erklärt Waldorf-Lehrer Guido Ostermai. "Alles was darüber ist, wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört und neu drauf gesetzt." Ostermai kommt aus der Schweiz und unterrichtet seit 20 Jahren an der Waldorfschule in Stuttgart. Der Oberstufenlehrer für Deutsch, Geschichte und Kunstbetrachtung ist auch Mitglied der Schulführung. Klassische Schulleitungen wie an staatlichen Schulen gibt es an Waldorfschulen nicht.
Fast 1000 Schülerinnen und Schüler besuchen die sogenannte Mutterschule auf der Uhlandshöhe. Die Gründungsgeschichte spiele im Schulalltag keine Rolle, eher außerhalb würden Schüler und Lehrer auf die Uhlandshöhe angesprochen, sagt Ostermai: "Wenn dann so Vorstellungsrunden gemacht werden, und dann stellen Sie sich vor und sagen: ‚Stuttgart, Uhlandshöhe‘, dann merken Sie wohl immer wieder einmal an den Reaktionen der anderen: ‚Oh! Uhlandshöhe, Mutterschule.' - Und ich persönlich habe das auch schon erlebt, bei Lehrerfortbildungen, Lehrertagungen, ähnliche Reaktionen von den Kollegen. Also, wo man merkt: Da strahlt noch etwas aus, das mag berechtigt sein oder nicht, aber es ist atmosphärisch immer noch ein bisschen da."
Keine Noten, keine Sitzenbleiber und kein Klassendünkel
Denn, die Gründung der ersten Waldorfschule kommt einer kleinen Revolution gleich. 1919, ein Jahr nach dem Ersten Weltkieg - in der neuen Schule gibt es keine Noten und kein Sitzenbleiben, auch Status, Geschlecht, Herkunft der Schülerinnen und Schüler spielen keine Rolle. Über 200 Kinder, darunter vor allem Arbeiterkinder der Waldorf-Astoria- Zigarettenfabrik, zählenzu den ersten Schülern. Doch bald kommen Anfragen aus der Region, aus dem ganzen Land, sogar einige französische Eltern wollen ihre Sprösslinge auf die neue Schule in Stuttgart schicken.
1925, sechs Jahre nach ihrer Gründung, besuchen bereits 900 Schülerinnen und Schüler die Waldorfschule. Der Platz im frühen Café reicht nicht mehr aus. Ein dreigeschossiges Haupthaus wird gebaut. Bereits bei der Gründung polarisiert die neue Bewegung. Ein der USPD nahe stehender Sozialdemokrat meint, die Bestrebungen der Waldorfschule mögen gut und schön sein, aber man wolle die Erziehung des Volkes nicht in die Hände von Fabrikanten legen, seien diese auch noch so wohlwollend.
Die Kritik ist geblieben. Doro Moritz, Landesvorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft in Baden-Württemberg betont, sie habe nichts gegen Waldorfschulen. Doch nicht alle Schülerinnen und Schüler könnten die Schulen besuchen, sagt Moritz: "Ich bin überzeugt, dass alle Schulen in freier Trägerschaft eine Positiv- Auswahl aus Schülerinnen und Schüler haben - das ist nicht nur dem Schulgeld geschuldet -, und dass wir an diesen Schulen deutlich weniger Kinder aus benachteiligten Familien haben."
An der Waldorfschule Uhlandshöhe werden mit den Eltern sogenannte Beitragsgespräche geführt. Das Prinzip: Jeder bezahlt für den Schulbesuch seines Kindes so viel, wie es eben möglich ist. "Wenn man kommt und sagt, man hat gerade nicht die Möglichkeit, zu zahlen, ist das kein Grund, deshalb die Schülerin oder den Schüler abzulehnen", sagt Lehrer Ostermai.
Asylbewerber aus Syrien und Afghanistan mit Waldorf-Abitur
Im Schuljahr 2015/16 seien viele Waldorfschulen der Aufforderung gefolgt und hätten junge Flüchtlinge aufgenommen, so Ostermai. "Und wenn man so schaut, also wir haben inzwischen junge Menschen aus Syrien, Afghanistan, die haben das Abitur gemacht." Und doch gibt er zu: Die Schülerschaft repräsentiere nicht ganz den gesellschaftlichen Durchschnitt.
Es gebe viele, die sich spöttisch über die Waldorfschulbewegung äußern, sagte Stuttgarts grüner Oberbürgermeister Fritz Kuhn bei der Jubiläumsfeier. Er selbst habe dafür kein Verständnis, denn bei den Grünen habe man einst die Formel geprägt: "Die freie Schulbewegung ist die Hefe im Reformteig des staatlichen Schulsystems."
Die Hefe im Reformteig - Baden-Württembergs grüner Ministerpräsident Winfried Kretschmann lobte die freien Waldorfschulen mit Blick auf die Verbreitung als eine der erfolgreichsten deutschen Bildungsideen des letzten Jahrhunderts. Weltweit gibt es heute über 1200 Einrichtungen. Kretschmann war selbst viele Jahre lang Lehrer an einem staatlichen Gymnasium. Bei dem Festakt Anfang September erinnerte er an die Verhältnisse 1919:
"Und so war das ein historischer Glücksfall, dass nach dem Zusammenbruch der Monarchie aufgrund des liberalen Schulgesetzes in Württemberg, Schulen in freier Trägerschaft eingerichtet werden konnten."
Lehrer lernen individueller auf die Kinder einzugehen
Wenige Meter von dem Ort entfernt, wo einst die erste Waldorfschule stand, befindet sich auch die weltweit erste Hochschule für Waldorfpädagogik. Seit 1928 werden hier in Stuttgart auch Waldorflehrerinnen und -lehrer ausgebildet. Dabei haben die Studierenden direkten Kontakt zur Schule in der Nachbarschaft. Rund 400 Studentinnen und Studenten aus der ganzen Welt sind aktuell an der Hochschule eingeschrieben.
"Ich habe zuvor zwei Jahre in einem Waldorfkindergarten gearbeitet, und gemerkt, dass die Pädagogik die richtige für mich ist", sagt die 23-jährige Studentin Marie. "Ich wollte auch schon immer Lehrerin werden und habe mich aus diesen Gründen bewusst dafür entschieden, habe auch schon versucht, staatliches Lehramt zu studieren, aber schnell gemerkt, dass es nicht der richtige Weg für mich ist."
Eine 25-jährige Kommilitonin hat ähnliche Erfahrungen gemacht: "Ich wollte schon immer Lehrer werden, ich habe auch in Freiburg zwei Semester Grundschullehramt studiert, habe aber gemerkt, dass das nicht der Weg ist, den ich gehen möchte. Und mich deswegen hier beworben, weil ich die Kinder später zur Freiheit erziehen möchte. Ich möchte den Weg ebnen für starke Persönlichkeiten und ich glaube, dass der Waldorfweg der richtige dafür ist, weil man da viel individueller auf die Kinder eingeht."
Der Gründungsort zieht Studierende aus der ganzen Welt an
Den Studierenden ist das eine Menge Geld wert. Pro Jahr bezahlen sie 2000 Euro Studiengebühren. Ein Waldorflehrerstudium dauert fünf Jahre, auch Oberstufenlehrer sowie Eurythmisten werden in Vollzeitstudiengängen in Stuttgart ausgebildet. In englischer Sprache finde bereits zum vierten Mal ein International Mastercourse an der Freien Hochschule statt, sagt Matthias Jeuken, Professor für Eurythmie-Pädagogik: "Studierende, die in ihrem Land mit Waldorfpädagogik in Kontakt gekommen sind, ganz unterschiedliche Nationalitäten, ganz unterschiedliche Altersstruktur, ganz unterschiedliche Vorbildungen."
Jeukens Kollege Professor Peter Lutzker, kommt aus den USA und ist überzeugt, gerade der Ur-Ort habe eine Anziehungskraft auf die Studierenden: "Wenn man die Studenten im internationalen Kurs fragt, warum dieser lange Weg von Nigeria, von Taiwan, von Indien nach Stuttgart? Das hängt auch manchmal mit dem Ort zusammen. Die sagen, sie wollen an den Ursprungsort, an diese Hochschule, in diese Stadt."
Zumindest in Stuttgart gibt es gegenüber der Waldorfpädagogik wenig Vorbehalte. Im Gegenteil: Vor einigen Jahren bat Stuttgarts CDU-Schulbürgermeisterin und heutige Landeskultusministerin Susanne Eisenmann die Waldorfpädagogen um die Gründung eines Kindergartens in einem sozialen Brennpunkt der Stadt. Der Wunsch wurde umgesetzt, die Waldorf-Kindertagesstätte 2013 eröffnet. 40 Kinder können aufgenommen werden, und die Plätze in dem sozial benachteiligten Stuttgarter Stadtteil Hallschlag sind begehrt.
Konzeptionell verantwortlich ist der Verein für interkulturelle Waldorfpädagogik. Dort nahm man sich bei der Konzeption der Kindertagesstätte die Mutterschule zum Vorbild, nämlich eine Schule für Arbeiterkinder zu schaffen. Jedes zweite Kind, das aktuell die Einrichtung besucht, hat einen interkulturellen Hintergrund. Längst ist die Kindertagesstätte auch zu einer Anlaufstelle für viele Eltern im Hallschlag geworden. "Waldorf", sagt Matthias Jeuken, "ist Teil der Kultur und der Stadt geworden."