100 Jahre Weimarer Verfassung

Wandel im Historiker-Blick

Ein Banner mit der Aufschrift «Woche der Demokratie» hängt am Deutschen Nationaltheater, davor steht das Goethe-Schiller-Denkmal auf dem Theaterplatz. Hier kam am 6. Februar vor 100 Jahren die Nationalversammlung erstmals zusammen.
Diese beiden berühmten Herren hätten die junge Weimarer Republik womöglich mit Beifall begrüßt: Goethe und Schiller in Weimar. © Martin Schutt/dpa
Horst Dreier im Gespräch mit Ute Welty |
Vor 100 Jahren trat in Weimar die neu gewählte Nationalversammlung zusammen, um der jungen deutschen Republik eine Verfassung zu geben. Für den Rechtsphilosophen Horst Dreier war dies ein Neuanfang mit großem Potenzial - man dürfe nicht nur auf das Ende schauen.
Am 6. Februar 1919 trat die Weimarer Nationalversammlung zusammen, um eine Verfassung für die erste Demokratie in Deutschland zu erarbeiten. Nach dem Versammlungsort erhielt sie ihren Namen: Weimarer Republik. An das historische Ereignis wird mit einem Festakt erinnert, zu dem neben 800 Ehrengästen einige Spitzenpolitiker nach Weimar kommen, darunter Kanzlerin Angela Merkel, Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble und Bundesratspräsident Daniel Günther. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier wird als Festredner auftreten.

Neuer Rückblick

Es gebe eine Trendwende in der Beurteilung der Weimarer Reichsverfassung, sagte der Rechtsphilosoph und Jurist Horst Dreier im Deutschlandfunk Kultur. Der Professor an der Universität Würzburg hat diesem Thema zusammen mit dem Kollegen Christian Waldhoff das Buch "Das Wagnis der Demokratie" gewidmet.
Lange Zeit hätten Historiker die Weimarer Republik und deren Verfassung immer vom Ende her gedacht und von der Machtübernahme Adolf Hitlers aus, sagte Dreier. Es sei dabei vor allem auf ihr Scheitern geblickt worden. "Seit einiger Zeit passiert etwas, das ich sehr begrüße", sagte der Jurist. Denn: "Man muss, wenn man fair sein will, die Weimarer Verfassung gewissermaßen auch von ihrem Anfang her sehen, von ihren Chancen, von ihrem Entwicklungspotenzial, von ihren Optionen, die sie geboten hatte."
(gem)

Horst Dreier, Christian Waldhoff, "Das Wagnis der Demokratie. Eine Anatomie der Weimarer Reichsverfassung"
C. H. Beck Verlag, München 2018, 242 Seiten, 29,95 Euro.

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Das Interview:

Ute Welty: Der Bundespräsident kommt, der Präsident des Bundesverfassungsgerichtes und die Bundeskanzlerin. Feierlich begeht man heute den 100. Jahrestag der Weimarer Verfassung, genauer, man begeht den Jahrestag, an dem die verfassungsgebende Versammlung erstmals in Weimar zusammenkam. Über die Anatomie dieser Verfassung hat Horst Dreier ein Buch geschrieben, seit 1995 als Jurist und Rechtsphilosoph an der Universität Würzburg. Guten Morgen, Herr Dreier!
Horst Dreier: Schönen guten Morgen!

Trendwende bei der Beurteilung

Welty: Im Buch und im Titel bezeichnen Sie Weimar als Wagnis der Demokratie. Was sagen Sie denen, die entgegnen, ‚Ja, so erfolgreich war das Wagnis nicht, danach kam Hitler‘?
Dreier: Ja, das ist nicht zu leugnen, dass danach Hitler kam, das ist schon richtig. Aber der Titel deutet eine gewisse Trendwende in der Beurteilung der Weimarer Reichsverfassung an. Damit steht dieses Buch, das ich zusammen mit meinem Kollegen Christian Waldhoff herausgegeben habe, nicht allein. Lange Zeit, vielleicht bis vor zehn, 15 Jahren, hat man die Weimarer Republik und auch die Weimarer Reichsverfassung eigentlich immer vom Ende her betrachtet, immer von ihrem Scheitern her, und hat so ein Bild gezeichnet, dass die Verfassung notwendigerweise scheitern musste und die Republik notwendigerweise scheitern musste.
Porträt von Horst Dreier von der Universität Würzburg
Horst Dreier von der Universität Würzburg© Heiner Kiesel
Und seit einiger Zeit passiert etwas, was ich sehr begrüße und was auch zum Beispiel der Bundespräsident in seiner großen Rede am 9. November des letzten Jahres im Bundestag gesagt hat: Man muss, wenn man fair sein will, die Weimarer Verfassung gewissermaßen auch von ihrem Anfang her sehen, von ihren Chancen, von ihrem Entwicklungspotenzial, von den Optionen, die sie hatte und die sie geboten hat und die sie teilweise auch genutzt hat.

Von der Monarchie zur Republik

Welty: In der Weimarer Verfassung wie im Grundgesetz steht der Satz "Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus". 2019 klingt das selbstverständlich. Wie war das 1919?
Dreier: Tja, das war natürlich der große verfassungsrechtliche Umbruch von der Monarchie hin zu einer Republik, was die Staatsform angeht, und zu einer Demokratie, was die Staatsverfassung angeht. Denn das ist ja klassischerweise der Grundsatz der Volkssouveränität, den wir das erste Mal ausformuliert finden etwa in der französischen oder auch in der amerikanischen Revolution, also Ende des 18. Jahrhunderts.
Deutschland hatte dann ja aber eine lange Phase der sogenannten konstitutionellen Monarchie bis 1918. Und in dem Jahr 1918 im November brachen erstaunlicherweise übrigens sang- und klanglos alle Monarchien, die es ja auch in den verschiedenen Gliedstaaten gab, nicht nur auf der Ebene des Reiches, zusammen und Deutschland war überall, also in allen Direktorien und natürlich auch auf Reichsebene, eine Republik.
Sturz des Kaiserreichs: Demonstration junger Arbeiter vor dem Abgeordnetenhaus in Berlin im November 1918.
Sturz des Kaiserreichs: Demonstration junger Arbeiter vor dem Abgeordnetenhaus in Berlin im November 1918. © dpa picture-alliance / Ullstein
Welty: Wenn wir Weimar tatsächlich vom Anfang her denken: Inwieweit verkörpert die Weimarer Verfassung den Aufbruch in eine neue, in eine sozial gerechte Gesellschaft?
Dreier: Ja, sie verkörpert ihn, kann man sagen, auf eine schon fast paradigmatische Art und Weise, weil gerade der zweite Teil der Verfassung, Grundrechte und Grundpflichten, nicht nur einklagbare Rechte enthält, also Freiheitsrechte oder Gleichheitsrechte, sondern auch eine ganz umfängliche soziale Programmatik in einer Ausführlichkeit, wie man sie vorher und nachher kaum irgendwo wiederfindet. Und eine Kurzformel lautet: Der Sozialstaat, so wie er in Weimar konzipiert worden ist, ist die Antwort auf die soziale Frage des 19. Jahrhunderts.

Hartnäckige Legenden

Welty: Jetzt ist es ja das eine, ein Grundrecht in eine Verfassung hineinzuschreiben, das andere ist ja, dieses Grundrecht dann auch umzusetzen.
Dreier: Das ist richtig. Zunächst mal sind Verfassungen geschriebenes Papier. Sie müssen zum Leben erweckt werden. Auch dazu gibt es ja in Bezug auf die Weimarer Verfassung gewissermaßen hartnäckige Legenden. Man hat aus Gründen, über die man noch mal nachdenken könnte, jahrzehntelang praktisch immer gepredigt, in Weimar galten die Grundrechte nur als Programmsätze. Das heißt, als unverbindliche Empfehlungen, aber nicht als geltendes, einklagbares, subjektives Recht.
Das ist schlicht falsch. In der Weimarer Verfassung standen im zweiten Hauptteil in der Tat auch eine ganze Reihe von sozialprogrammatischen Sätzen. Und diese soziale Programmatik, das waren natürlich keine individuellen Grundrechte, aber in diesem zweiten Hauptteil standen die ganzen klassischen Freiheitsrechte liberaler, demokratischer Art, also Pressefreiheit, Unverletzlichkeit der Wohnung, Versammlungsfreiheit, Kunstfreiheit, Wissenschaftsfreiheit, Religionsfreiheit nicht zu vergessen.
Und all diese Rechte waren natürlich unmittelbar geltendes Recht und konnten auch eingeklagt werden und wurden eingeklagt. Was wir in Weimar nicht hatten, war die Verfassungsbeschwerde, die wir heute haben, aber die gab es 1919 nirgends auf der Welt und die gibt es auch bis zum heutigen Tage kaum irgendwo in einem anderen Verfassungsstaat in der Ausprägung wie bei uns.

Zerstörung der Republik

Welty: Trotzdem fragt man sich ja an dieser Stelle erneut: Warum ist Weimar gescheitert? Und ich frage mich umso mehr: Droht dem Grundgesetz Ähnliches?
Dreier: Also Weimar ist an vielen Gründen oder aus vielen Gründen gescheitert. Ich würde mal ganz grundsätzlich sagen, vielleicht ist das Wort vom Scheitern auch schon so ein bisschen fragwürdig. Letztlich ist sie ja zerstört worden von ihren Feinden. Und als ein solcher Feind der Weimarer Republik, den Grundsätzen von Demokratie, Freiheit, Gleichheit, Volkssouveränität, hat sich dann eben auch der gewählte Reichspräsident erwiesen, der ja zunächst mit seinen Präsidialkabinetten und dann mit der Reichstagsbrandverordnung und vorher mit der Ernennung Hitlers an dieser Zerstörung beteiligt hat.
Also unter den günstigen Umständen, die das Grundgesetz nach 1949 vorgefunden hat, wirtschaftlicher Aufschwung, politische Stabilität, unter diesen günstigen Umständen wäre die Weimarer Reichsverfassung wunderbar erblüht. Umgekehrt: Hätte man 1919 nicht die Weimarer Reichsverfassung verabschiedet, sondern das Grundgesetz, wäre diese Verfassung spätestens 1923 untergegangen. Das Ganze wäre implodiert und man hätte nie wieder von dieser Verfassung geredet. Denn das Grundgesetz kennt all diese Mechanismen nicht, die damals Ebert dazu befähigt haben, eine Krise nach der anderen zu bewältigen. Und das ist eben ein damals effektives Notstandregime gewesen, was das Grundgesetz gar nicht kannte.
Auf dem Platz vor dem Brandenburger Tor in Berlin hält Friedrich Ebert am 9. November 1918 eine Ansprache. 
Friedrich Ebert war der erste Reichspräsident in der Weimarer Republik.© picture-alliance / dpa
Welty: Unter anderem Habermas hat vom Verfassungspatriotismus gesprochen, von einer emotionalen Verbundenheit der Menschen zu ihrer Verfassung. Ist es das, was heute das Grundgesetz unterstützt und was in Weimar womöglich gefehlt hat?
Dreier: Also in Weimar hat ganz sicher gefehlt die Zustimmung zu dieser neuen Staatsform und zu dieser Demokratie. Und wenn Sie dann eine Situation haben, in der auf der einen Seite in den Parlamenten oder damals halt im Reichstag die Vertreter extremistischer, republikfeindlicher Positionen von links und rechts die Mehrheit haben, und Sie haben gleichzeitig einen Reichspräsidenten, der ebenfalls kein Freund der Republik ist, dann kann keine Verfassung der Welt so etwas retten. Und umgekehrt: Wenn man natürlich die Zustimmung hat zu einer freiheitlichen Verfassung, dann kann sie auch besser blühen, wachsen und gedeihen, so wie das unter dem Grundgesetz und mit dem Grundgesetz der Fall ist.
Welty: 100 Jahre Weimarer Verfassung! Dazu der Rechtsphilosoph Horst Dreier von der Universität Würzburg im Studio 9-Gespräch. Herr Dreier, haben Sie herzlichen Dank!
Dreier: Ich danke Ihnen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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