Wie der Föderalismus die Politik besser macht
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Der Bundesrat tritt zur 1000. Sitzung zusammen. Die Länderkammer repräsentiert den Föderalismus. Der ist in der Pandemie schwer in die Kritik geraten. Zu umständlich und kompliziert? Die Politologin Nathalie Behnke verteidigt ihn leidenschaftlich.
Liane von Billerbeck: Immer wieder mal, wenn etwas besonders langsam läuft oder ein ewiges Hin und Her der Bundesländer Entscheidungen verlangsamt, wird über den Föderalismus gestritten. Auch jetzt gerade in der Pandemie. Zu umständlich, zu kompliziert, zu langsam – und außerdem macht am Ende sowieso jedes Bundesland, was es will, so die Vorwürfe. Frage an die Politikwissenschaftlerin Nathalie Behnke, Professorin an der TU Darmstadt: Kann er also weg, der Föderalismus?
Im Grundgesetz mit der Ewigkeitsklausel abgesichert
Behnke: Unter keinen Umständen! Erstens mal kann er gar nicht weg, weil er nicht weg darf, er ist im Grundgesetz mit der Ewigkeitsklausel gesichert. Und zweitens wären wir gut beraten, mit dem Föderalismus weiterzuleben, aus einer ganzen Reihe von Gründen. Der Föderalismus ist gut für uns als Bürger, weil er unsere individuelle Freiheit sichert, indem er politische Macht begrenzt und Checks und Balances etabliert.
Der Föderalismus ist gut, weil er zu einem Policy-Lernen beiträgt, weil Länder unterschiedliche Lösungen implementieren, sich beobachten und das Bessere übernehmen. Die Bürger sind näher an den Regierenden dran in den Ländern und haben mehr Einfluss, auch mehr Identifikation. Aber das Allerwichtigste ist, und das ist vor allem in Deutschland so und da spielt der Bundesrat eine ganz zentrale Rolle: Über den Föderalismus wird ein breiter gesellschaftlicher Konsens in Deutschland hergestellt, den wir dringend brauchen.
Billerbeck: Warum ist Deutschland föderalistisch aufgebaut und Frankreich beispielsweise eher zentralistisch?
Niemand soll allein Entscheidungen treffen können
Behnke: Letztlich historische Zufälle. Da können Sie bis ins 14. oder 13. Jahrhundert in Deutschland zurückgehen und finden dort Vorläufer des Föderalismus in Zusammenschlüssen von Städten.
Aber im Endeffekt waren es zwei historisch entscheidende Momente. Das war die Reichsgründung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, bei der sich die kleineren Fürstentümer durchgesetzt haben gegen eine Hegemonie der Preußen – auch hier wieder das Element der Machtbegrenzung.
Und dann natürlich die klare Entscheidung der Alliierten nach dem Zweiten Weltkrieg, die sagten, wir wollen in Deutschland nie wieder irgendjemanden haben, der alleine und ungehindert fatale Entscheidungen treffen kann. Beides waren sehr kluge Weichenstellungen.
Billerbeck: Sie haben gesagt, der Bundesrat ist wichtig, der ja heute zum 1000. Mal tagt. Früher war alles eindeutig. Da gab es die sogenannten A-Länder, die waren SPD-regiert, und die B-Länder, die waren CDU-regiert. Die Zeiten sind bekanntlich vorbei, man muss immer mal gucken, welche Parteien eigentlich in welchem Bundesland regieren. Zugleich hat sie die Anzahl der zustimmungspflichtigen Gesetze verringert. Machen wir doch mal eine Liste: Was spricht denn heute für den Bundesrat?
Die Arbeitsteilung im deutschen Föderalismus
Behnke: Die Zahl der zustimmungspflichtigen Gesetze hat sich verringert, allerdings nicht dramatisch. Wir waren vor der Föderalismusreform 2006 bei etwas über 50 Prozent, wir sind jetzt im Schnitt bei ungefähr 40 Prozent.
Zweitens: Der Bundesrat ist nicht nur bei zustimmungspflichtigen Gesetzen wichtig, sondern bei allen Gesetzen, auch bei allen Rechtsverordnungen und bei der EU-Gesetzgebung. Überall dort bestimmt der Bundesrat mit.
Und was man auch noch mit ins Bild holen muss, ist die Arbeitsteilung im deutschen Föderalismus. Die Länder vollziehen Gesetze, das heißt, die Länder sind die Experten in Fragen, wie Verwaltungsvollzug funktioniert. Und diese Kompetenz speisen sie über ihre Beteiligung im Bundesrat bereits antizipierend in die Gesetzgebung ein. Dadurch wird die Gesetzgebung natürlich qualitativ besser.
Sie haben Recht, wir haben die A-Länder, wir haben die B-Länder, wir haben inzwischen auch G-Länder. Und die anderen, die da noch rumspringen, die FDP, die AfD und die Linken, die müssen dann gucken, wo sie sich einsortieren. Das ist unübersichtlicher geworden, das ist für manche vielleicht mühsam.
Aber es ist andererseits so, dass wir auf die Weise viel breitere und weniger parteigebundene Sachkoalitionen schmieden. Auch das ist letztlich ein Pluspunkt, vor allem wenn man bedenkt, dass die politischen Entscheidungen, die getroffen werden müssen, tendenziell komplizierter und komplexer werden und sich nicht mehr so eindeutig entlang von Parteilinien gruppieren lassen.
Billerbeck: Sie sehen das, was viele Bürger als anstrengend und langsam und als gegen den Föderalismus sprechend empfinden, als dessen Vorteil?
Komplexität erfordert komplexe Institutionen
Behnke: Genau das. Natürlich ist langsam mühsam. Unterschiedliches zu verstehen oder zu akzeptieren, erfordert eine große Toleranz. Aber ich denke: Je länger, je mehr ist der Föderalismus eigentlich die angemessene institutionelle Form, den Staat zu organisieren, um mit den eben auch sehr komplexen und interdependenten Politikproblemen angemessen umzugehen.
Das ist ein Grundproblem, dass wir als Bürger uns klare Institutionen und Prozesse wünschen, aber die sind nicht geeignet, um die komplizierten Probleme zu lösen, die wir haben. Um diese Komplexität zum Beispiel in der ganzen Mehrebenen-Architektur mit der Europäischen Union und den Internationalen Organisationen - grenzüberschreitende Problematiken haben wir zuhauf - abbilden zu können, brauchen wir komplexe Institutionen.
Dann wird das Ganze natürlich unübersichtlich und es wird langsam, aber das liegt in der Natur der Sache. Und es funktioniert im Endeffekt besser, als wenn wir eine Steuererklärung auf einer Serviette machen können und einer allein entscheidet. Das klingt erst mal toll, aber im Endeffekt funktioniert es halt nicht.
Billerbeck: Haben Sie als begeisterte Anhängerin des Föderalismus und auch des Bundesrates nicht irgendwo einen Tropfen Wasser, den Sie in den Wein gießen wollen? Wo verstehen Sie die Länderhoheit denn nicht?
Brauchen die Länder eigene Gesetzgebungskompetenzen?
Behnke: Ich lehne mich mal ganz weit aus dem Fenster, wobei das nicht zu Ende gedacht ist. Ich frage mich, ob die Länder noch Gesetzgebungskompetenzen brauchen. Es sind ja nicht mehr viele, die übrig sind, und die wichtigste Gesetzgebungskompetenz der Länder ist im Bildungsbereich. Das führt zu viel Unmut, zu viel Kleinstaaterei, zu viel Nebeneinander.
Da würde ich als begeisterte Föderalismusanhängerin wieder sagen: Ist auch nicht so schlimm, dann habe ich halt verschiedene Schulbücher in verschiedenen Bundesländern, das überleben wir, aber es ist auch andererseits kein Mehrwert zu erkennen.
Das lernende System ist im Bildungsbereich nicht erkennbar. Jedes Land macht wirklich, was es will – und nicht nur das. Jede neu gewählte Landesregierung schmeißt wieder alles über den Haufen.
Die Stärke des deutschen Föderalismus liegt darin, dass die Länder für den Vollzug verantwortlich sind und Gesetze umsetzen, zum Beispiel in der Pandemie den ganzen Infektionsschutz. Aber brauchen sie wirklich unbedingt autonome Gesetzgebungskompetenzen? Da bin ich mir nicht sicher.
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