"Altersarmut wird zunehmen"
1889 wurde in Deutschland die gesetzliche Rentenversicherung beschlossen. Doch das System ist in Gefahr, warnt der Wirtschaftswissenschaftler Winfried Schmähl. Soziale Konflikte würden zunehmen, wenn die Politik nicht umsteuert.
125 Jahre nach ihrem Beschluss ist die gesetzliche Rentenversicherung in einem desolaten Zustand, beklagt der Rentenexperte und Wirtschaftswissenschaftler Winfried Schmähl. Das allgemeine Leistungsniveau der Rentenversicherung werde immer weiter reduziert, sagte Schmähl im Deutschlandradio Kultur. Gleichzeitig hätten die Menschen immer weniger Möglichkeiten, durch ihre Erwerbstätigkeit Ansprüche zu erwerben – "so dass insgesamt hier ein Entkoppeln der Renten und der Rentenentwicklung von der Lohnentwicklung stattfindet. Man könnte ein bisschen überspitzt formulieren: Wir haben seit jetzt gut zehn Jahren eine systematische Demontage der gesetzlichen Rentenversicherung eingeleitet."
Der berühmte Satz "Die Rente ist sicher" gelte nur dann, wenn die Beitragszahler das Gefühl hätten, dass sie einmal einen angemessenen Gegenwert erwarten könnten. "Dieses ist natürlich jetzt durch die Reform aus dem Jahr 2000 grundlegend in Frage gestellt worden."
Von der Politik werde die Frage, wie es mit der Rentenversicherung weitergehen soll, "überhaupt nicht diskutiert", beklagte Schmähl. Stattdessen hoffe sie noch immer darauf, "dass die private Vorsorge und die betriebliche Alterssicherung – im Grunde also kapitalmarktabhängige Alterssicherung – die Lücke, die man durch politische Entscheidungen aufreißt, dass diese Lücke geschlossen wird." Dies habe sich allerdings bereits als Fehlkalkulation erwiesen: "Die private und die betriebliche Alterssicherung als solche leisten nicht den flächendeckenden Ersatz und können ihn auch gar nicht leisten."
Sollte es der Politik nicht gelingen umzusteuern, werde die Altersarmut und damit auch der soziale Konfliktstoff zunehmen. Winfried Schmähl habe da "leider nicht so große Hoffnung". Erinnere man sich heute daran, dass der damalige Minister bei der Einführung der Reform im Jahr 2000 verkündet habe, jeder Rentner werde in Zukunft mehr Rente erhalten – "das stößt einem schon sauer auf, wenn man sich das noch einmal vergegenwärtigt".
Das Interview im Wortlaut:
Nana Brink: Wir schreiben das Jahr 1889. Im Deutschen Reichstag wird das Gesetz betreffend der Invaliditäts- und Altersversicherung beschlossen, mit knapper Mehrheit. Der damalige Reichskanzler Otto von Bismarck vollendet damit seine Sozialgesetzgebung, revolutionär für damalige Zeiten. Nach der Kranken- und Unfallversicherung war die Rentenversicherung der letzte Meilenstein. Bei Einführung der Rentenversicherung im Jahr 1891 betrug der Beitragssatz 1,7 Prozent, finanziert zu je einem Drittel von den Arbeitnehmern, den Arbeitgebern und staatlichen Zuschüssen, also Steuergeldern. Interessanter Nebenaspekt: Das Eintrittsalter war damals 70 Jahre. Und um die Geschichtsstunde zu komplettieren: Bismarck schuf damit die Basis für den modernen Sozialstaat, wie wir ihn heute kennen. Heute nun wird 125 Jahre Rentenversicherung groß gefeiert. Der Rentenexperte Winfried Schmähl war 16 Jahre lang Mitglied des Sozialbeirates für die gesetzliche Renten- und Unfallversicherung. Guten Morgen, Herr Schmähl!
Winfried Schmähl: Schönen guten Morgen!
Brink: Ein Blick auf die Fakten. Immer weniger junge Leute müssen für immer mehr alte Leute heute zahlen und in Zukunft. Beerdigen wir nicht gerade die Rentenversicherung, die Bismarck geschaffen hat?
Schmähl: Zunächst ist, glaube ich, einmal wichtig, darauf hinzuweisen, dass sich die Rentenversicherung im Vergleich zu Bismarcks Zeit natürlich grundlegend gewandelt hat, auch in ihren Zielen. In der Bismarck'schen Reform ging es darum, einen Zuschuss zum Lebensunterhalt durch die Rente zu schaffen und damit im Grunde Altersarmut nicht zu beseitigen, aber zu mindern. Der entscheidende Schritt für uns damals in Westdeutschland war 1957, mit der Einführung der dynamischen Rente. Hier ging es jetzt darum, die Rente sollte nicht nur ein Zuschuss sein, sondern sollte den Lohn ersetzen und wurde dynamisiert und an die Entwicklung der Löhne angekoppelt. Auch damals wurde schon über die Alterung der Bevölkerung diskutiert, und es ist unstrittig, dass in einem Land, wo wir immer mehr Ältere im Vergleich zu Jüngeren und Erwerbstätigen haben, Alterssicherung notwendigerweise teurer wird.
Brink: Aber sie basiert doch trotzdem, oder sie basierte, Sie haben es ja gesagt, 1957 auch mit breiter Mehrheit übrigens beschlossen, auf dem Grundsatz der Solidarität. Das ist doch angesichts der Demografie nicht mehr zu halten.
Entkopplung von Lohn- und Rentenentwicklung
Schmähl: Das weiß ich nicht. Die Frage ist ja immer, dieser berühmte Satz, "Die Rente ist sicher" – die Rente ist dann sicher, wenn diejenigen, die Beiträge zahlen, das Gefühl haben, dass sie einen irgendwie angemessenen Gegenwert mal erwarten können. Und dieses ist natürlich jetzt durch die Reformen nach dem Jahre 2000 grundlegend in Frage gestellt worden, denn das Renten- – allgemein das Leistungsniveau in der Rentenversicherung wird deutlich reduziert, immer weiter. Und gleichzeitig haben die Menschen immer weniger oder viele Menschen immer weniger Möglichkeiten, Ansprüche durch Erwerbstätigkeit und so weiter zu erwerben aufgrund längerer Arbeitslosigkeitsphasen und so weiter. Sodass insgesamt hier ein Entkoppeln der Renten und der Rentenentwicklung von der Lohnentwicklung stattfindet. Man könnte ein bisschen überspitzt formulieren: Wir haben seit jetzt gut zehn Jahren eine systematische Demontage der gesetzlichen Rentenversicherung eingeleitet.
Brink: Aber das sagt doch keiner so deutlich.
Schmähl: Ja, das ist ja das Thema, das mich selbst schon lange umtreibt, dass im Grunde die großen Parteien das zentrale Thema, wie soll die Rentenversicherung wirklich weitergehen, auf welchem Niveau, überhaupt nicht diskutiert, sondern allenfalls dann für irgendwelche Sondergruppenregelungen beschließt. Und vor allem eben die Hoffnung darauf setzt, immer noch, dass die private Vorsorge und die betriebliche Alterssicherung, im Grunde also kapitalmarktabhängige Alterssicherung die Lücke, die man durch politische Entscheidungen aufreißt, dass diese Lücke geschlossen wird. Aber das hat sich bis jetzt ja schon als Fehlkalkulation erwiesen. Wir sehen auf der einen Seite, erfolgreich wird die gesetzliche Rentenversicherung immer weiter runtergefahren, aber die private und die betriebliche Alterssicherung als solche leisten nicht den flächendeckenden Ersatz und können ihn auch gar nicht leisten.
Brink: Nun diskutieren wir ja schon seit den 90er-Jahren darüber, wie die gesetzliche oder was die gesetzliche Rentenversicherung noch leisten kann, und die Diskussion geht ja immer, Sie haben es gerade geschildert, in die Richtung Rente wird eine Mindestsicherung sein, alles andere muss privat erledigt werden – ich geh noch mal zurück zu 125 Jahre Rentenversicherung: Erleben wir gerade eine Rolle rückwärts, also eigentlich zurück zum System Bismarck, das ja Rente als Zuschuss am Anfang betrachtet hat?
Schmähl: Ja, man kann es im Grunde so sagen. Wir bewegen uns in Richtung auf eine Mindestsicherung, wobei das auch unklar ist, was das bedeutet. Vermutlich längerfristig, Mindestsicherung in der Rentenversicherung in Höhe der, sagen wir mal, der Grundsicherung der Sozialhilfe, nur für langjährig Versicherte, während alle anderen mehr oder weniger auf bedürftigkeitsgeprüfte Leistungen wie Sozialhilfe und Grundsicherung angewiesen sind, wenn sie nicht ausreichend haben vorsorgen können, privat. Und dass es damit ja nicht gerade so rosig bestellt wird, auch gerade für die Jüngeren angesichts der niedrigen Zinsen, die wir erleben, das ist wohl deutlich.
Altersarmut wird zunehmen
Brink: Was bedeutet denn das für unsere Gesellschaft, für die Menschen, die eben nicht, wie Sie sagen, 35 oder 40 Jahre Berufsleben haben oder die einfach überwiegend in Minijobs gearbeitet haben?
Schmähl: Das Problem ist, dass im Grunde die Armut in Zukunft, nicht gegenwärtig, sondern nicht so gravierend, aber in Zukunft die Altersarmut zunehmen wird. Dass die Einkommen auch im Alter sich immer weiter auseinanderentwickeln und dass hier natürlich auch ein sozialer Konfliktstoff vorhanden ist, wenn es nicht gelingt – und ich habe leider da nicht so große Hoffnung – wenn es nicht gelingt, hier tatsächlich ein Umsteuern in der Politik vorzunehmen. Ich würde so plakativ mal sagen, wenn nicht zum Beispiel heute bei dem Festakt die Bundeskanzlerin gewissermaßen eine Rentenwende verkünden würde. Aber ich glaube, darauf brauchen wir nicht zu hoffen.
Brink: Aber Bismarck war auch ein Erneuerer für seine Zeit, und man könnte sich gut vorstellen, dass er heute auch gefordert hätte, ihr müsst aber auch privat mitdenken, wenn es geht.
Schmähl: Ja, natürlich. Das ist ja aber auch schon lange. Das ist ja nicht was ganz Neues. Nur, die Hoffnungen, die man darauf setzt, und die Möglichkeiten, privat in dem Sinne die doch deutlich, bis zu einem Viertel des Leistungsniveaus, in der Rentenversicherung aufgerissene Lücke durch kapitalmarktabhängige Produkte zu schließen, die ist doch sehr ungleich verteilt. Und insofern, auch, wenn man noch mal daran erinnert, dass der damalige Minister, als diese Reform jetzt um 2000 eingeführt wurde, sagte, jede Rentnerin und jeder Rentner wird jetzt und in Zukunft mehr Rente erhalten als nach altem Recht – also das stößt einem schon sauer auf, wenn man sich das noch mal vergegenwärtigt.
Brink: Der Rentenexperte Winfried Schmähl. Danke für das Gespräch an diesem Morgen! Und wir sprachen über 125 Jahre Rentenversicherung. Wie gesagt, vor 125 Jahren wurde sie im Reichstag beschlossen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.