"Er ist ein Menschenwelpe, wie es nie einen gab", sagte Balu. "Der beste und klügste und kühnste aller Menschenwelpen – mein eigener Schüler, der den Namen Balus in allen Dschungeln berühmt machen wird. Und außerdem: Ich – wir – lieben ihn, Kaa."
Bill Peet, seit Jahrzehnten Disneys Zeichner und Storywriter, hatte Kiplings Dschungelbuch für den nächsten Trickfilm vorgeschlagen. Walt Disney zeigte sich zunächst begeistert von den Entwürfen. Dann aber missfiel ihm plötzlich die ganze Geschichte. Der Plot war ihm zu düster, die Songs zu schwermütig.
Peet verließ das Studio – für immer. Disney engagierte eine komplett neue Mannschaft und empfahl: "Macht aus diesen ernsten, unheimlichen, düsteren Geschichten etwas Neues und macht was Lustiges daraus!"
Als beschwingter Disneyfilm ein Riesenerfolg
So entstand Walt Disneys 19. und beschwingtester Zeichentrickfilm "The Jungle Book". Von der literarischen Vorlage waren allerdings lediglich der Titel und die Figuren, sowie ein, zwei Motive übriggeblieben. In Deutschland war "Das Dschungelbuch", ein überwältigender Erfolg, der größte Kinoerfolg aller Zeiten, wie es heißt.
Szene aus dem Disney-Film "Das Dschungelbuch": Wer aber kennt Kiplings originale Mogli-Geschichten?© imago/ZUMA press
Jedes Kind, jeder Erwachsene kennt Mogli im roten Höschen, ist mit Baghira und Balu, Shir Kan und Kaa bestens vertraut. Wer aber kennt bei uns schon die originalen Mogli-Geschichten des britischen Schriftstellers? Mit ihren Versen und Gesängen? Und wer hat all die anderen Erzählungen der beiden Dschungelbücher gelesen?
"Gut, das Dschungelbuch, die 'Dschungelbücher' muss man eigentlich sagen, 1894/95 erschienen, das ist natürlich eine ganze Zeit zurück und das ist natürlich auch kulturgeschichtlich ein ganz schöner Abstand zu uns heute, der Film ist uns wesentlich näher", sagt Stefan Welz, Anglistikprofessor in Leipzig und Verfasser der ersten deutschen Kipling-Biografie, die erst im Jahr 2015 erschien.
"Gut gesprochen", brummte Balu, denn Mogli hatte seinen Dank sehr artig abgestattet. Die Python ließ ihren Kopf für eine Minute leicht auf Moglis Schulter sinken. "Ein tapferes Herz und eine höfliche Zunge", sagte sie, die werden dich im Dschungel weit bringen, Menschling."
Ein Literaturklassiker mit abnehmender Bekanntheit
Ein Klassiker, auch hierzulande - wenn auch mit abnehmender Bekanntheit. Im Mai 1894 war "The Jungle Book" in London erschienen, im November 1895 folgte "The Second Jungle Book". Vier Jahre später kam die deutsche Übersetzung heraus: Im gleichen Verlag, in dem auch Karl Mays Werke gedruckt wurden.
Zwei Sammlungen von Kurzgeschichten, darunter die acht "Mogli"-Erzählungen, die in der Wildnis von Zentralindien, im Staat Madhya Pradesh, spielen.
"Er hatte ja seine Kindheit in Indien verbracht und auch seine jungen Berufsjahre als Journalist, er kannte Indien also sehr gut", erzählt Andreas Nohl. "Und er kannte auch die Tierwelt sehr gut und fing dann eben an, für ein Familienmagazin in den USA Geschichten zu schreiben, die sich um die Abenteuer oder die Erlebnisse eines kleinen Menschenkindes drehen, das im Dschungel verloren geht und von Wölfen aufgenommen wird."
Der Übersetzer und Schriftsteller Andreas Nohl hat 2015 die beiden "Jungle Books" in einer vielgelobten neuen Übersetzung im Steidl Verlag herausgebracht.
Die einzelnen Geschichten hatte Kipling im Alter zwischen 26 und 29 geschrieben - jenseits von Indien, in einem kleinen Nest im US-Staat Vermont, Neuengland.
Kiplings Tochter wurde mit Moglis Geschichten groß
Dass es "Children´s Beast Tales", also "Tiergeschichten für Kinder" wurden, wie Kipling sie bei Freunden ankündigte, hatte vermutlich auch mit der Geburt seiner ersten Tochter im Dezember 1892 zu tun. Die kleine Josephine wurde gewissermaßen mit Mogli groß.
Der Kanha-Nationalpark im indischen Bundesstaat Madhya Pradesh vermittelt einen Eindruck von der Wildnis Zentralindiens. © picture alliance / newscom / Mark Johanson
Es sind Kurzgeschichten im bunten Wechsel von Tierprotagonisten und exotischen Orten, angesiedelt im indischen Dschungel oder Himalaya, aber auch in der Arktis. Sie wurden von Anfang an auch von Erwachsenen gelesen und waren sofort ein großer Erfolg. Am berühmtesten wurden die Geschichten vom indischen Findelkind Mogli, das unter sprechenden wilden Tieren aufwächst.
"Ein Mensch", schnappte er, "ein Menschenwelpe. Sieh nur!"
Direkt vor ihm stand, an einen niedrigen Ast geklammert, ein nacktes braunes Baby, das gerade erst laufen konnte – so weich und mit so niedlichen Grübchen, wie nur je eines in der Nacht eine Wolfshöhle aufgesucht hat. Es blickte Vater Wolf ins Gesicht und lachte.
"Ist das ein Menschenwelpe?" fragte Mutter Wolf. "Ich habe noch nie einen gesehen. Bring ihn her."
Eine Welt des Fressens und Gefressenwerdens
Mogli, dem Tiger Shir Khan entkommen, wird von einer Wolfsfamilie aufgenommen und von drei starken und klugen Tieren erzogen: einem Panther, einem Bären und einer Pythonschlange. Die Wildnis ist hier allerdings kein Kinderparadies. Es ist eine Welt des alltäglichen Fressens und Gefressenwerdens, der Rudelkämpfe und Führungsansprüche, auch der Dürren. Dennoch geht es in diesem Vielvölkerstaat erstaunlich zivilisiert zu.
Das "Gesetz des Dschungels" regelt die Rivalitäten im Wolfsrudel ebenso wie das Zusammenleben der verschiedenen Dschungelvölker und das Töten. Balu, der alte, braune Bär, bei Kipling eine große Seele und ein Lehrer, der auch ungemütlich werden kann, bringt Mogli seine Lehren bei.
Das Dschungelgesetz ist reich an Geboten, Regeln und Ritualen und archaisch anmutenden Beschwörungsformeln. Es gelten die Herrschaft des Stärkeren und Gehorsam, aber auch Vernunft, Respekt und Solidarität zählen. Ganz offensichtlich hat Kipling hier seine Idealvorstellungen vom menschlichen Zusammenleben eingebracht.
"Wir sind von einem Blute, du und ich", sagte Mogli, wobei er die Worte mit dem Bärenakzent aussprach, den alle Jägervölker benutzen."
Trotz aller Grausamkeiten bleibt der Dschungel Moglis Sehnsuchtsort. Hier erlebt er faszinierende Abenteuer, wie die Entführung durch das gesetzlose Affenvolk in die verlassene Stadt, aus der ihn die mächtige Python Kaa befreit. Und hier schickt ihn Kipling in monströse Kämpfe.
Schriftsteller mit "gemeiner Ader"
"Das ist für uns heute sicherlich nur schwer zu verkraften, muss man einfach so sagen", sagt Stefan Welz. "Der Kipling hatte gerade bei dieser Art von Rache, von bestimmten Intrigen und Tricks, die gegen andere angewendet wurde, da hatte er schon eine sehr, sehr, teilweise auch gemeine Ader, und da konnte es schon sehr zur Sache gehen."
Sprechende Tiere hatte es bereits in einem anderen berühmten Kinderbuch gegeben, in Lewis Carolls "Alice im Wunderland", 1864 in London erschienen. Das viktorianische Zeitalter war eine Epoche, in der sich auch ein neues Mensch-Tier-Verhältnis herausbildete.
"Das sind also keine bloß vermenschlichten Tiere, wie sie bei Goethes 'Reineke Fuchs' oder bei irgendwelchen Märchen vorkommen", sagt Übersetzer Andreas Nohl." Nein, nein - wenn die Tiere bei Kipling sprechen, dann handelt es sich um eine Kommunikationsart, die den Tieren in ihrem eigentlichen Wesen relativ nahekommen und das hat Konrad Lorenz auch schon erkannt."
Der britische Schriftsteller Rudyard Kipling (1865-1936): Packende Storys erzählen konnte er, sagt Stefan Welz.© picture alliance / Mary Evans Picture Library / Reginald Haines
Im Laufe der Episoden bringt es Mogli zum Meister des Dschungels. Und verlässt am Ende freiwillig die Wildnis – nach einem peinigenden Frühling der Einsamkeit unter all den liebestollen Tieren.
Bis heute jüngster Literaturnobelpreisträger
"Kipling ist ein sehr profunder Geschichtenerzähler", erklärt Stefan Welz. "Und er weiß natürlich, was man mit einer guten Geschichte machen muss, also eine packende Story, das konnte er."
1907, mit knapp 42, erhielt Kipling als erster Engländer und jüngster Autor bis heute, den Literaturnobelpreis. Als Verteidiger und "Barde" des britischen Imperialismus fiel er dagegen bei seinen englischsprachigen Schriftstellerkollegen in Ungnade. Mit nachhaltigem Imageschaden – auch bei uns. Seine Überzeugungen vom Zivilisationsauftrag des Empire brachte Kipling vor allem in Gedichten ein, ein engstirniger Verherrlicher war er aber nie.
Auch ist in den Dschungelbuchgeschichten ist von all dem nichts zu entdecken. Und viele davon sind zeitlos gut und literarisch beglückend.
Ein tapferes Herz und eine höfliche Zunge
Vor 125 Jahren sind Rudyard Kiplings "Jungle Books" erschienen
Autorin: Renate Maurer
Besetzung: Heidrun Bartholomäus, Christan Gaul und Manuel Harder
Regie: Klaus Michael Klingsporn
Ton: Peter Seyffert
Redaktion: Dorothea Westphal