125 Jahre Versöhnungskirche

Die Kirche und die Mauer im Kopf

09:07 Minuten
Die Versöhnungskirche wurde am 28. Januar 1985 gesprengt. Damals hieß es "gemäß Maßnahmeplan für die Erhöhung von Sicherheit, Ordnung und Sauberkeit an der Staatsgrenze zu Berlin-West".
Versöhnung unerwünscht: Am 28. Januar 1985 erfolgte die Sprengung der Berliner Versöhnungkirche, die durch den Mauerbau ins Niemandsland geraten war. © imago / Günter Schneider
Von Michael Hollenbach |
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Am 28.8.1894 wurde die Berliner Versöhnungskirche eingeweiht. Nach dem Zweiten Weltkrieg stand sie auf der Grenze zwischen Ost und West. Sie wurde eingemauert, 1985 ließ die SED sie sprengen – für eine freie Sicht im Todesstreifen.
Pastor Thomas Jeutner führt auf das Gelände der ehemaligen Versöhnungskirche. Reste der Grundmauern deuten die früheren Dimensionen des Gotteshauses an. "Hier sieht man, wie die Umrisse dieser sehr großen neugotischen Kirche abgezeichnet sind, mit diesen metallenen Bodenumrissen", sagt Jeutner.
"Wir stehen im ehemaligen sowjetischen Sektor, aber dieser Gehsteig dort gehörte schon zum französischen Sektor. Das beschreibt ein bisschen die Lage."

Kirche als Puffer zur Sozialdemokratie

Seit sieben Jahren ist Thomas Jeutner Pastor der Versöhnungsgemeinde. Als die Kirche am 28. August 1894 eingeweiht wurde, fanden rund 1000 Besucher darin Platz. Ein Drittel der Baukosten hatte die Kaiserin beigesteuert.
"Kaiserin Auguste Viktoria – im Berliner Volksmund auch ‚Kirchen-Guste‘ genannt - galt als eine fromme Frau", erklärt der 73-jährige Publizist Hans-Jürgen Röder. "Und sie hatte auch sicherlich ein großes Interesse daran, dass die Kirche die neu entstehende Industriearbeiterschaft an sich bindet, um sie möglichst fern von der Sozialdemokratie zu halten."
Später, in der Weimarer Republik, gehörten fast 20.000 Protestanten zur Versöhnungsgemeinde. Während der NS-Zeit war der Umgang im Kirchengemeinderat dann nicht mehr allzu versöhnlich. Zwei Pfarrer gehörten der Bekennenden Kirche an, einer den Deutschen Christen.

Ein Pfarrer in Uniform predigt vor der SS

"Es war so, dass der NS-Pfarrer von den Deutschen Christen zeitweilig in Uniform aufgetreten ist beim Gottesdienst", sagt Röder, "und weil ja doch ein ganzer Teil boykottierte, ließ er die leeren Reihen auffüllen mit Kameraden der SS in Uniform."
Nach 1945 stand das Gotteshaus plötzlich an der Grenze zwischen den verfeindeten Mächten des Kalten Krieges. Während Kirche, Pfarr- und Gemeindehaus sich im Osten Berlins befanden, wohnten mehr als 90 Prozent der Gemeindemitglieder im Westen, im Bezirk Wedding. Das sei zunächst kein Problem gewesen, sagt Jörg Hildebrandt, der Sohn des damaligen Pfarrers.

Geteilte Stadt - doch die Gemeinde hält zusammen

"Die Gemeinde fühlte sich überhaupt nicht getrennt", erinnert sich Hildebrandt. "Sie müssen davon ausgehen: Der Zugang zur Kirche verlief völlig ungehindert, da gab es keine Kontrollen von der Ostseite her. Da fragte auch keiner: Kommst du aus dem Westen, oder kommst du aus dem Osten? Wir gehörten alle zusammen."
Eine schwarz-weiß Aufnahme zeigt den Blick über die Berliner Mauer  auf die Versöhnungskirche kurz vor deren Abriss im Winter 1985 an der Bernauerstraße am Grenzstreifen.
Blick über die Berliner Mauer im Winter 1985 mit der Versöhnungskirche auf dem Grenzstreifen an der Bernauer Straße.© imago images / imagebroker
Das änderte sich mit dem Bau der Mauer am 13. August 1961. "Zuerst hat man gedacht, das gibt sich schon wieder", sagt die 96-jährige Gerda Neumann, die in der Versöhnungskirche getauft und konfirmiert wurde. Doch eine Woche später sei die Hoffnung dahin gewesen: "Als wir gesehen haben, es ist nicht nur abgesperrt, da wird eine feste Mauer aufgerichtet."

Nach Mauerbau Mahnwachen in West-Berlin

Im Osten der Bernauer Straße wurden die Häuser geräumt, im Westen ging man auf die Straße. "Wir wissen, dass es gerade in den ersten Monaten viele Mahnwachen gab", sagt Pfarrer Jeutner. "Sogar Sonntags zur Gottesdienstzeit vor der vermauerten Kirche, auf dem West-Berliner Bürgersteig, Studierende der FU. Und manchmal wuchs sich das aus, dann kamen Tausend. Und dann wurde auch berichtet, dass auf dem Kirchturm auch schon mal ein Maschinengewehr postiert wurde."
Jörg Hildebrandt erinnert sich, dass die Pfarrersfamilie zu den letzten Bewohnern des Viertels gehörte, die dem Mauerbau weichen mussten. Am 26. Oktober 1961 hatten sie die östliche Bernauer Straße und damit das Kirchengrundstück zu verlassen.

Am letzten Tag zeigt die Turmuhr 5 vor 12

"Ich war Turmuhrenwart, und hatte den Schlüssel für den Kirchturm, den habe ich auch jetzt noch", sagt Hildebrandt. "Ich bin dann hoch über die Glocken hinaus, und habe die Uhren in allen Richtungen auf fünf vor 12 gestellt. Das sollte heißen: Es ist keine Zeit mehr zu verlieren, vergesst uns nicht."
Sein Vater hatte sich entschieden, als Seelsorger im Osten Berlins zu bleiben. "Obwohl der Hauptteil der Gemeinde im Westen war", so Hildebrandt. "Und das ist für ihn eine fürchterliche Sache gewesen, seinen seelsorgerlichen Dienst nicht mehr wahrnehmen zu können und wirklich ahnen zu müssen, dass das geistliche Leben überhaupt beendet ist."

Grenzposten treiben ihr Unwesen in der Kirche

Die Gemeindemitglieder mussten sich neu orientieren. "Wir hatten ein Auto", erzählt Gerda Neumann. "Dann ist mein Mann fast alle Dorfkirchen von West-Berlin angefahren zum Gottesdienst, und wir haben die kennengelernt."
Derweil verfiel die Versöhnungskirche immer mehr, erinnert sich Jörg Hildebrandt: "Das Dach war verrottet, die Kirche innen zum Teil verwüstet durch die Grenzposten, die hier ihr Unwesen getrieben haben. Hundezwinger in der Sakristei."
1984 stimmten nach jahrelangen Verhandlungen die Kirchenleitungen in West- und Ost-Berlin dem Verkauf des Kirchengrundstücks an den Berliner Magistrat zu. Der Kirche ging es um die Präsenz vor Ort in den Neubaugebieten im Osten Berlins, erläutert der Publizist Hans-Jürgen Röder:
"Die Kirchenleitung in Ost-Berlin musste sehen, dass sie da noch einen Fuß reinkriegt, und da kam plötzlich die Versöhnungskirche ins Spiel. Und schließlich hat man gesagt: Na gut, wir geben die Versöhnungskirche auf, wenn wir dafür das Gemeindezentrum in Hohenschönhausen bauen können."
Ende Januar 1985 erfolgte die Sprengung der Kirche "gemäß dem Maßnahmeplan für die Erhöhung von Sicherheit, Ordnung und Sauberkeit an der Staatsgrenze zu Berlin-West" – wie es offiziell hieß.

Als der Kirchtum fällt, fließen Tränen in Ost und West

Gerda Neumann wohnte im Westen nicht weit von der Kirche entfernt: "Mein Mann sagte, willst du runter gehen? Nein, sagte ich, ich will es nicht sehen. Dann bin ich aber doch ans Küchenfenster gegangen und vom Küchenfenster konnte ich die Hälfte vom Kirchturm sehen. Und als der fiel, und das Kreuz fiel im hohen Bogen, da kamen mir die Tränen. Und da nahm mich mein Mann in den Arm und sagte: Ich weiß, deine Kirche."
Nicht nur im Westen, auch im Osten verfolgten die alten Gemeindemitglieder die Sprengung. Jörg Hildebrandt sah gemeinsam mit seiner Frau Regine, der späteren Sozialministerin von Brandenburg, wie das Gotteshaus in sich zusammenfiel.
"Das war für uns sehr bitter", erinnert er sich, "speziell für meine Frau, die hier an der Bernauer Straße geboren wurde, getauft worden ist, und ihre Eltern haben hier geheiratet - da sind schon Tränen geflossen."
Die Kapelle der Versöhnung steht heute an Stelle der gesprengten Versöhnungskirche auf dem ehem. Mauerstreifen. Im Vordergrund in Bewegungsunschäre ist eine Touristengruppe zu sehen. Im Hintergrund der aufgehende Vollmond.
Die Kapelle der Versöhnung steht heute an der Stelle der gesprengten Kirche auf dem ehemaligen Mauerstreifen.© imago images / Rolf Zöllner
Vor der Sprengung wurden unter anderem die alten Glocken gerettet. Heute läuten sie im Glockenhaus neben der Versöhnungskapelle. Fast jeden Tag findet hier in der Kapelle eine Andacht statt, um an jene Menschen zu erinnern, die zwischen 1961 und 1989 an der Mauer getötet wurden.
Die Mauer ist seit 30 Jahren Geschichte. In den Köpfen ist sie aber immer noch präsent.
"Für uns, die wir in den 50er-, 60er-Jahren geboren sind, wir werden immer damit zu tun haben, auch die alten Bilder und alten Vorurteile zu bekämpfen", meint Pfarrer Thomas Jeutner. Und er zitiert aus dem Gedicht "Die Mauer" von Reiner Kunze: "Als wir sie schleiften, ahnten wir nicht, wie hoch sie ist in uns."

Die Uhr wird wieder schlagen

Als vor einigen Jahren der Keller des Gemeindehauses entrümpelt wurde, machte man einen interessanten Fund:
"Wir fanden dabei unter anderem einen Haufen von alten Zahnrädern, rostigem Eisen, sogar zwei Zeiger waren dabei und Ketten", erzählt Thomas Jeutner. Schließlich förderte man alle Teile der alten Turmuhr zu Tage, die ebenfalls vor der Sprengung gerettet worden war. Ein Uhrmacher hat alles wieder zusammengebaut – sehr zur Freude des alten Turmuhrenwarts Jörg Hildebrandt.
"Als ich die Uhr anhielt, am 26. Oktober 1961, da dachte ich, es ist alles vorbei", sagt Hildebrandt. "Und nun wird sie vorbereitet: 125 Jahre evangelische Versöhnungsgemeinde, ich bin wirklich hin und weg und freu mich wahnsinnig darauf, dass die Uhr wieder hörbar wird."
Jörg Hildebrandt wird seine alte Uhr wieder zum Ticken bringen - am kommenden Mittwoch, zum 125. Gründungstag, um fünf vor zwölf.
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