"Wissensressource der digitalen Gesellschaft"
Am 15. Januar 2001 wurde Wikipedia als freies Onlinelexikon gegründet. Seitdem gab es auch oft Kritik an möglicherweise manipulierten Artikeln. Trotzdem spiele Wikipedia im Alltag der Menschen eine große Rolle, meint der Wissenschaftler Leonhard Dobusch.
Leonhard Dobusch, Juniorprofessor für Organisationstheorie der FU Berlin, bewertet das heutige 15-jährige Bestehen von Wipedia als Erfolgsgeschichte. Das Onlinellexikon sei die zentrale Wissensressource in der digitalen Gesellschaft, sagte Dobusch im Deutschlandradio Kultur. Es sei enorm wichtig:
"Deshalb ist es auch so, dass sich die Wikipedianerinnen und Wikipedianer auch oftmals viel Kritik anhören müssen. Eben weil Wikipedia so eine große Rolle im Alltag der Menschen spielt."
Dobusch ging auch auf Kritikpunkte an Wikipedia ein, die sich oft auf Vorwürfe einer möglicherweise vorhandenen, verkappten Werbung oder der politischen Propaganda beziehen. Diese Manipulationsversuche seien mit der Tatsache zu erklären, dass diese Enzyklopädie prinzipiell offen angelegt sei und es Menschen auch erlaube, dort Beiträge anonym beizusteuern. In dieser prinzipiellen Offenheit gebe es aber trotzdem bestimmte Regulationsmöglichkeiten, meinte Dobusch:
"Weil man eben jede einzelne Änderung nachvollziehen kann. Und wenn da systematisch versucht wird, etwas zu beeinflussen, dann ist die Wahrscheinlichkeit – zumindest bei den Artikeln, die viel gelesen werden – groß, dass das auffliegt."
Das Interview im Wortlaut:
Nana Brink: 15 Jahre gibt es Wikipedia schon. Unglaublich, oder? Wir haben uns so daran gewöhnt, als hätte man nie etwas anderes benutzt, ich weiß ja nicht wie es Ihnen geht! Am 15. Januar 2001 wurde Wikipedia als freies Online-Lexikon gegründet, an dem ja jeder mitschreiben kann. Haben Sie schon mal? So viele sind es nämlich gar nicht. Zu Beginn waren es mal über 50.000 weltweit, die regelmäßig Berichte verfasst haben, heute sind es noch knapp 30.000.
Aber trotzdem wartet Wikipedia noch immer mit Rekorden auf, es ist das weltweit bekannteste Nachschlagewerk. Nur die ganz Großen im Internet wie Google, Facebook oder Youtube haben mehr Klickzahlen. Und es scheint eine Männerdomäne zu sein! Leonhard Dobusch hat sich ausführlich mit Wikipedia beschäftigt, er ist Juniorprofessor für Organisationstheorie an der Freien Universität Berlin. Ich grüße Sie, schönen guten Morgen!
Leonhard Dobusch: Guten Morgen!
Brink: Wann haben Sie Wikipedia zuletzt benutzt? Heute früh?
Dobusch: Ja, ich habe heute früh in Vorbereitung für unser Gespräch noch mal nachgesehen, wie sich die Wikipedia selbst beschreibt, also als welche Organisationsform. Ist sie eine Basisdemokratie oder eine Demokratie oder eine Anarchie oder eine Technokratie und so weiter? Und da steht, Wikipedia ist eine Mischung von ganz vielen dieser Formen, und das stimmt wahrscheinlich auch.
Brink: Darauf wollen wir gleich noch zu sprechen kommen, auf diesen basisdemokratischen Aspekt. Aber das Erste, was mich eigentlich interessierte, als ich bei Wikipedia nachgeschlagen habe und darüber recherchiert habe, dass eigentlich gar nicht mehr so viele mitmachen wollen. Das war ja eigentlich mal der Clou bei Wikipedia. Wie erklären Sie sich das?
Strenge Relevanzkritierien
Dobusch: Es gibt eine Reihe von Forschungsarbeiten darüber, warum eigentlich seit 2007 die Anzahl der Leute, die bei Wikipedia mitschreiben, rückläufig ist. Und da gibt es auch eine Reihe von Erklärungen. Ein Grund ist vielleicht, dass man mehr und mehr - weil die Anzahl der Artikel gewachsen ist -, dazu übergegangen ist, auch mit Algorithmen kleinere Änderungen vorzunehmen oder Vandalismus zu bekämpfen. Das hat aber den Nebeneffekt gehabt, dass Änderungen von Neulingen häufig sehr schnell automatisch oder binnen kurzer Zeit rückgängig gemacht wurden, was natürlich nicht sehr motivierend ist.
In Deutschland zum Beispiel ist einer der Gründe jener, dass man durchaus strenge Relevanzkriterien sich selbst gegeben hat. Das heißt, es darf nicht alles – auch wenn es eigentlich im Internet kein Platzproblem gibt – in die Wikipedia reingeschrieben werden. Und wenn jetzt jemand Unbedarfter da hinkommt, der diese Relevanzkriterien nicht kennt, dann ist auch da die Wahrscheinlichkeit sehr groß, dass er oder sie, wenn sie den Artikel angelegt hat, sofort in eine sogenannte Löschdiskussion verwickelt wird mit jemandem, der diese Relevanzkriterien besser kennt.
Brink: Nun haben Sie viele unterschiedliche Akteure ja angesprochen, die einen oder zumindest mich unwillkürlich zu der Frage führen: Es ist eigentlich gar nicht so, dass da jeder einfach mitschreiben kann? Wie ist Wikipedia organisiert?
Dobusch: Also, technisch ist es bis heute wie vor 15 Jahren noch immer so, dass jeder und jede, auch ohne sich anzumelden, bei Wikipedia mitmachen kann. Und das funktioniert auch ganz leicht: Wer Wikipedia liest und einen Tippfehler findet, der klickt oben rechts auf die Seite. Und ohne sich anzumelden, kann man diesen Tippfehler korrigieren. Das funktioniert heute wie vor 15 Jahren genau gleich.
Gleichzeitig muss man aber sagen, dass inzwischen das Regelwerk ausdifferenziert wurde. Eben auch für größere Änderungen, für das Anlegen neuer Artikel und so weiter. Auch das kann man immer noch machen, ohne sich anzumelden, allerdings: Die Wikipedianerinnen und Wikipedianer, die dort sehr aktiv sind, achten darauf, dass eben die Qualität auch gewahrt bleibt und dass da nicht irgendwas reingeschrieben wird, auch weil sie dann immer schlechte Presse haben, wenn da ein Vulkan oder eine Insel erfunden wurde. Und deshalb ist das sozusagen, wirklich größere, substanzielle Beiträge zu bringen, vielleicht nicht mehr ganz so einfach wie früher. Einfach auch, weil schon viel mehr da ist.
Wikipedia ist männerdominiert
Brink: Aber wer ist denn dieses "Wer"? Wer macht das, wer bestimmt das, wer organisiert das?
Dobusch: Also, dieses "Wer" sind in Wirklichkeit, kann man sagen, lang gediente Wikipedianerinnen und Wikipedianer. Also die, die schon von Anfang an dabei waren oder früh dazugekommen sind, die Erfahrung gesammelt haben, die die Regeln kennen. Und es gibt auch Studien über die Zusammensetzung dieser Gruppe. Und - Sie haben es ja in der Anmoderation erwähnt - , da gibt es einen starken Überhang von Männern. Was vielleicht auch daher kommt, dass Wikipedia als technisches Projekt wahrgenommen wurde, dass man Wiki-Syntax kennen muss, und viele solcher Open-Source-Projekte, also mit offenen Inhalten sind halt eher männerdominiert. Und das war mal so und da gibt es jetzt auch wieder viele Theorien darum, warum sich das so schwer ändern lässt. Hat sicher mit einer Art Kultur zu tun. Und wenn eine solche männliche Kultur mal etabliert ist, ist es auch schwierig, das wieder zu ändern.
Brink: Eine männliche Kultur etabliert heißt aber auch, dass es dann Festangestellte gibt, dass es auch schon ein Unternehmen gibt, das hinter Wikipedia steckt? Oder wie würden Sie das definieren?
Dobusch: Nein, es gibt kein Unternehmen. Also, ursprünglich wurde Wikipedia mal von einem Unternehmen gegründet, so als Liebhaberprojekt eigentlich, aber bereits nach zweieinhalb Jahren hat dieses Unternehmen sämtliche Rechte an der Marke Wikipedia und auch die technische Infrastruktur, die Server übertragen an die gemeinnützige Wikimedia-Stiftung, die Wikimedia Foundation. Und diese Wikimedia Foundation sammelt auch die Spendengelder ein. Ud in der Wikimedia Foundation gibt es auch Hauptamtliche und es gibt auch Ländervereine.
Also, Wikimedia Deutschland ist der erste Länderverein gewesen, auch dort arbeiten Menschen hauptamtlich. Aber niemand von diesen Hauptamtlichen schreibt Inhalte, niemand von diesen Hauptamtlichen ist verantwortlich dafür, was gelöscht wird, was drinnen bleibt, niemand von diesen Hauptamtlichen hat Einfluss darauf, was als der neutrale Standpunkt, den sich die Wikipedia ja selbst auf die Fahnen heftet, gilt.
Verkappte Werbung oder politische Propaganda?
Brink: Aber das ist ja interessant, denn der Vorwurf taucht ja immer wieder auf, dass PR-Manager über Unternehmen schreiben, dass es verkappte Werbung gibt, dass auch politische Propaganda da in Wikipedia Eingang findet. Können Sie das bestreiten?
Dobusch: Also, ich würde das so sagen: Wenn man eine Enzyklopädie wie die Wikipedia prinzipiell offen anlegt und eben auch Leuten erlaubt, dort anonym Beiträge beizusteuern, dann ist man natürlich auch offen für Versuche, zu manipulieren. Das können halt verschiedenste Gründe sein, warum Leute das tun, aus politischen Motivationen, aus ökonomischen Motivationen, Werbung et cetera.
Gleichzeitig muss man sagen, diese prinzipielle Offenheit erlaubt es aber deshalb auch - wenn das jemand übertreibt oder wenn das gerade in Artikeln, wo viele Leute draufsehen, also Artikel, die wichtig sind, die auch häufig gelesen werden – dann kommt man damit häufig nicht lange durch. Weil man eben jede einzelne Änderung nachvollziehen kann. Und wenn da systematisch versucht wird zu beeinflussen, dann ist die Wahrscheinlichkeit zumindest bei den Artikeln, die viel gelesen werden, groß, dass das auffliegt.
Brink: Kurze Frage zum Schluss: Wie wichtig ist Wikipedia nach 15 Jahren? Sind sie wirklich zitierfähig?
Dobusch: Ich würde sagen, Wikipedia ist die zentrale Wissensressource in der digitalen Gesellschaft und deshalb enorm wichtig. Deshalb ist es auch so, glaube ich, dass die Wikipedianerinnen und Wikipedianer sich auch oftmals viel Kritik anhören müssen, eben weil die Wikipedia so eine große Rolle im Alltag der Menschen spielt.
An der Universität finde ich, dass Wikipedia sogar überdies in manchem zitierfähiger ist als die meisten anderen Webseiten im Internet, denn es gibt da auf der linken Seiten einen Link, der heißt Permalink und damit kann ich mit einem Klick einen wirklich dauerhaften Link auf eine bestimmte Version zu einem bestimmten Zeitpunkt der Seite verlinken. Das kann ich bei anderen Webseiten eigentlich nicht.
Brink: Leonhard Dobusch, Juniorprofessor für Organisationstheorie an der FU in Berlin. Schönen Dank, Herr Dobusch, für das Gespräch!
Dobusch: Schönen Tag noch!
Brink: Ihnen auch! Und wir sprachen über 15 Jahre Wikipedia.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.