Michael Felten, geboren 1951, hat 35 Jahre Mathematik und Kunst an einem Gymnasium in Köln unterrichtet. Er arbeitet weiterhin in der Lehrerausbildung, berät Schulen und ist Mitbegründer der "Initiative Unterrichtsqualität". An die Bedeutung Alfred Adlers erinnert er zu dessen 150. Geburtstag mit alfred-adler-panorama.info.
Der Mensch, das soziale Wesen
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Menschen seien grundsätzlich sozial orientiert. Davon ging der Wiener Sozialpsychologe Alfred Adler aus – und leitete daraus pädagogische Grundsätze ab. Daran könnte sich auch die heutige Gesellschaft orientieren, meint der Pädagoge Michael Felten.
"Das Narrativ des Individualismus, des persönlichen Vorankommens, hat uns enorm geschadet." Mahnt Paul Collier in seinem Buch "Sozialer Kapitalismus". Wenn wir weiterhin die Idee gegenseitigen Verpflichtetseins vernachlässigen würden, so Collier, drohe eine "Rottweiler-Gesellschaft".
Diese Sorge kann einen gerade auch mit Blick auf den Bildungsbereich erfassen. Denn durch unsere Schulen weht kräftig der neoliberale Zeitgeist. Da ist nur noch von Kompetenzen die Rede, und selbstbestimmtem Fortschritt; es wird nach Kräften getestet, man lobt Wettbewerbe aus und verleiht Schulpreise. Im Gegenprogramm wird dann in Projekten und Workshops eine humanere Gesellschaft beschworen. Nur selten geht es um beides.
Dabei gelang es vor 100 Jahren bereits eine Zeitlang, diese Dinge miteinander zu verbinden - Leistungsorientierung, Chancengerechtigkeit und - nicht zuletzt - Sozialerziehung. Nach dem Ersten Weltkrieg begannen die Sozialdemokraten im sog. Roten Wien nämlich, ein modernes Schulsystem aufzubauen - erst die Nazis stampften vieles davon wieder ein.
Zwischen Tiefenpsychologie und Pädagogik
Ein Herzstück dieser Reform war die Brücke, die Alfred Adler zwischen Tiefenpsychologie und Pädagogik geschlagen hatte. Während Freud das Sexuelle damals als Triebfeder des Daseins deutete, betrachtete sein früher Kollege Adler dies nur als eine Ausdrucksform des Lebens. Seine Individualpsychologie ging mit dem zentralen Begriff "Gemeinschaftsgefühl" nicht nur davon aus, dass Menschen grundsätzlich sozial orientiert sind. Unter den Konzepten "Lebensstil" und "Finalität" entschlüsselte sie auch, nach welch unbewussten, persönlichen Zielsetzungen jeder von uns handelt. So eröffnete sich ein ganz neuer Blick, auch auf das Lernverhalten von Kindern, auf ihre Beziehungsgestaltung, ihre Konfliktstrategien. Selbst schwierigste Erziehungs- und Schulprobleme ließen sich plötzlich treffsicher diagnostizieren - und in der Folge abschwächen oder gar auflösen.
Ist es nicht eigentlich das, was der heutigen Lehrerweiterbildung fehlt? Stattdessen eröffnen allenthalben schulische Selbstlernzentren - was schwächeren Schülern kaum nützt, den krassen Lehrermangel allerdings geschickt kaschiert. Oder es werden Laptopklassen aus dem Boden gestampft - dabei ist mit solcher Aufrüstung noch gar nichts getan, weil es nämlich auf die Lehrer ankommt. Ob diese aber lernen, wie man schwierige Kinder tiefgehend verstehen und ihnen aus ihrer individuellen Patsche heraushelfen kann, das ist immer noch großer Zufall.
Die eigenen Sorgen aussprechen können
Ist es nicht eigentlich das, was der heutigen Lehrerweiterbildung fehlt? Stattdessen eröffnen allenthalben schulische Selbstlernzentren - was schwächeren Schülern kaum nützt, den krassen Lehrermangel allerdings geschickt kaschiert. Oder es werden Laptopklassen aus dem Boden gestampft - dabei ist mit solcher Aufrüstung noch gar nichts getan, weil es nämlich auf die Lehrer ankommt. Ob diese aber lernen, wie man schwierige Kinder tiefgehend verstehen und ihnen aus ihrer individuellen Patsche heraushelfen kann, das ist immer noch großer Zufall.
Genau das war in den 1920er Jahren zentrales Anliegen Adlers: Er schulte ratlose Lehrer in - wir würden heute sagen: schulischer Störungskompetenz, Er zeigte, wie man Problemschüler wohlwollend durchschauen - und zu konstruktiver Alternative ermutigen kann. Und ihm war auch klar, worin Prävention bestehen müsste - nämlich in mehr Betonung des Gemeinschaftlichen: Dass Lehrer zum Beispiel Gelegenheiten schaffen, dass Schüler sich über ihre Sorgen aussprechen können, etwa in einem moderierten Klassenrat, oder dass sie einander beim Lernen unterstützen.
Ein optimistisches Menschenbild
Alfred Adler war überzeugt von der unbegrenzten Lernfähigkeit jedes Kindes - niemand sei Sklave seiner Gene oder Gefangener seiner Kindheitsumstände. Sein optimistisches Menschenbild machte ihn in den 1930er Jahren zu einem der bekanntesten Psychologen der westlichen Welt. Als Erster erkannte er die Problematik emotionaler Verwöhnung, beschrieb den Einfluss der Geschwisterkonstellation auf Charakterbildung und Lebensstil. Viele seiner psychologischen Begriffe und pädagogischen Analysen wurden durch die Humanwissenschaften bestätigt - und sind im Groben in unser Alltagswissen eingesickert.
Seine Individualpsychologie löst nämlich nicht nur manches Geheimnis des Lernens, sondern birgt auch überraschende Perspektiven für die Kunst des Lebens. Denn dem Erwachsenen gelingt ein erfülltes Leben ebenfalls eher, wenn er sein Handeln auf innere Ziele befragt - und am Wohl seines Gegenübers, der anderen orientiert. Adlers verblüffender Rat an eine Tochter zu ihrer Heirat: "Vergesst bitte nicht, daß die Ehe eine Aufgabe ist, an der ihr beide mit Freude arbeiten müsst."