Andreas Kraß ist Professor am Institut für deutsche Literatur und Leiter der Forschungsstelle Kulturgeschichte der Sexualität an der Humboldt-Universität zu Berlin. Letzte Buchpublikation: Ein Herz und eine Seele. Geschichte der Männerfreundschaft. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag, 2016.
Den Vollmann oder das Vollweib gibt es nicht
Zwei Geschlechter erfassen die Realität der menschlichen Existenz nicht, sagte der Pionier der Sexualwissenschaft, Magnus Hirschfeld. Mit seiner "Zwischenstufenlehre" wurde er zum Ahnherrn der Gendertheorie – und gleichzeitig heftig bekämpft, meint Andreas Kraß.
Magnus Hirschfeld erlebt seit einigen Jahren eine Renaissance. Der Sexualwissenschaftler hatte im Juli 1919 im Berliner Tiergarten, wo heute das Haus der Kulturen der Welt steht, sein international renommiertes Institut für Sexualwissenschaft gegründet, weltweit das erste seiner Art.
Hirschfeld-Renaissance
Die Nationalsozialisten plünderten das Institut am Vorabend der Bücherverbrennung, im 15. Jahr seines Bestehens. Zwei Jahre später starb Hirschfeld im französischen Exil. Die Auslöschung war gründlich, und auch in den Jahrzehnten nach Kriegsende wollte man von dem homosexuellen Juden und politischen Aktivisten, der sich mit seinem Wissenschaftlich-humanitären Komitee gegen die Kriminalisierung schwuler Männer eingesetzt hatte, nichts mehr wissen.
Erst 2011 wendete sich das Blatt, als die damalige Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger die Bundesstiftung Magnus Hirschfeld ins Leben rief, eine aus Bundesmitteln finanzierte Einrichtung, die queere Bildungs- und Forschungsprojekte fördert. Dass Hirschfeld Namenspatron der Einrichtung wurde, ist kein Wunder, vertrat er doch bereits im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts Positionen, die auch für die heutigen Geschlechterdiskussionen relevant sind.
DEN Mann oder DIE Frau gibt es nicht
Hirschfelds Ideen sind immer noch verblüffend innovativ. Dies gilt vor allem für seine sogenannte "Zwischenstufenlehre", eine Vorläuferin der heutigen Geschlechtertheorie. Hirschfeld lehrte, dass der Gegensatz von Mann und Frau eine Fiktion sei, dass es also den Mann und die Frau im Grunde nie gegeben habe, sondern immer nur Zwischenstufen, Mischungsverhältnisse.
Dabei differenzierte Hirschfeld zwischen Körper und Geist. In physischer Hinsicht betrachtete er zum einen die Geschlechtsorgane und zum anderen die Vielzahl sonstiger körperlicher Eigenschaften. In psychischer Hinsicht blickte er zum einen auf den Geschlechtstrieb – wir würden heute von der sexuellen Orientierung sprechen – und zum anderen auf die Vielzahl sonstiger geistiger Eigenschaften.
Keine klare Geschlechterordnung
Nach Hirschfeld kann der Mensch in jeder dieser Eigenschaften eher männlich oder weiblich geprägt sein, was eine große Zahl an Kombinationsmöglichkeiten zur Folge hat. Es gibt also nicht den "Vollmann" und die "Vollfrau", wie Hirschfeld sagte, sondern tausendfache Stufen dazwischen.
Jeder Mensch bildet seine eigene Zwischenstufe, sein eigenes drittes Geschlecht, wie man auch sagte. Damit ist die heteronormative Wunschvorstellung einer klaren Ordnung der Geschlechter und der Sexualität ad absurdum geführt.
Kein Wunder, dass Hirschfelds Vorstellungen von den Nationalsozialisten bekämpft wurden, wie auch heute aufgeklärte Vorstellungen von Geschlecht und Sexualität wieder heftig attackiert werden – man denke nur an die erbitterten Polemiken gegen den angeblichen "Gender-Wahn".
"Rasse" als Konstrukt
Gewiss: Hirschfelds Lehren beruhen teilweise auf Voraussetzungen, die die heutige Geschlechterforschung nicht mehr vertritt. Vor allem weist sie die Lehre der Eugenik zurück, die im frühen 20. Jahrhundert als wissenschaftlicher Konsens galt und zunächst auch von Hirschfeld geteilt wurde. Doch schrieb Hirschfeld unter dem Eindruck des Nationalsozialismus ein Buch gegen den Rassismus, in dem er deutlich erklärte, dass Rasse keine Realität, sondern ein Konstrukt sei, eines, das freilich Realitäten schafft. Dasselbe gilt dann auch für das Geschlecht, auch wenn das vielerorts bestritten wird.