150 Jahre "Alice im Wunderland"

Der Hutmacher und die Grinsekatze

Die 1959 entstandene Bronzestatue des Künstlers Jose de Creeft im New Yorker Central Park zeigt eine Szene aus "Alice im Wunderland".
Die 1959 entstandene Bronzestatue des Künstlers Jose de Creeft im New Yorker Central Park zeigt eine Szene aus "Alice im Wunderland". © Imago / Future Image
Von Carola Zinner |
Eine Raupe, die Wasserpfeife raucht, eine sadistische Kartenkönigin, ein Schnapphase: Lewis Carrolls "Alice im Wunderland" ist voller verrückter Einfälle und gehört längst zu den Klassikern der Kinderliteratur. Vor 150 Jahren ist es erstmals erschienen.
Oxford im Juli 1862. Der 30-jährige Mathematikdozent Charles Lutwidge Dodgson unternimmt zusammen mit einem Kollegen eine Kahnpartie auf der Themse. Mit im Boot sind die drei kleinen Töchter des Universitäts-Dekans, Lorina, Charlotte und Alice Liddell. Um den Mädchen die Zeit zu vertreiben, erzählt Dodgson eine selbst erfundene Geschichte, in der die 10-jährige Alice die Hauptrolle spielt. Schauplatz ist das "Wunderland", eine phantastische Welt voller seltsamer Figuren.
Da gibt es etwa eine Raupe, die Wasserpfeife raucht, Figuren aus einem Kartenspiel und eine grinsende Katze, die "Cheshire Cat".
"'Dort drüben', sagte die Katze und schwenkte ihre rechte Pfote, 'wohnt der Hutmacher, und hier' - und dabei winkte sie mit der anderen Pfote - 'wohnt der Schnapphase. Du kannst es dir heraussuchen, welchen du besuchen willst. Verrückt sind sie beide.' 'Aber ich will doch nicht unter Verrückte gehen!' widersprach Alice. 'Ach, dagegen lässt sich nichts machen', sagte die Katze; 'hier sind alle verrückt. Ich bin verrückt. Du bist verrückt.' 'Woher weißt du denn, dass ich verrückt bin?' fragte Alice. 'Musst du ja sein', sagte die Katze, 'sonst wärst du doch gar nicht hier.'"
Die Geschichte gefällt den Liddell-Mädchen so gut, dass Dodgson sie aufschreibt und mit Zeichnungen versieht. Drei Jahre später, am 16. April 1865, veröffentlicht er unter seinem Pseudonym Lewis Carroll die Druckfassung von "Alice's Adventures in Wonderland". Das Buch wird sofort ein Erfolg. Bis heute gehört es zu den Klassikern der Kinderbuchliteratur. Mehr noch, sagt der Literaturwissenschaftler Thomas Rommel, Rektor des Bard College Berlin [*] - "Alice im Wunderland" ist eine "kulturelle Ikone".
"Es gibt Filme darüber, es gibt Musik dazu, es gibt Zitate daraus, es ist in den Sprachschatz eingegangen, es gibt viele Redewendungen, die man wiederfindet, besonders im Englischen. Und das Interessante dabei ist, nicht jeder hat den Text gelesen, aber jeder kennt ihn und jeder kennt Figuren daraus."
Die Freude am Skurrilen
Ob in den Songs der Beatles, in den Bildern von Salvadore Dalí oder in den Filmen der Komiker-Truppe Monty Python: Zitate aus "Alice in Wonderland" sind heute allgegenwärtig.
"Es ist das Liebevoll-Anarchische, das Unbekümmerte, das Unberührte und das geradezu grandios Fantastische, das sich so sehr anbietet, um in Variationen später weiterverarbeitet zu werden. Dazu kommt auch noch, dass diese Vorstellung einer alternativen Welt, einer anderen Welt, in der die Gesetze von Logik, Schwerkraft, Sprache und Hierarchie aufgehoben sind, natürlich etwas Faszinierendes ist, in der sich die kindliche Phantasie wunderbar ausleben kann."
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Zeitgenössische Aufnahme des britischen Mathematikers Charles Lutwidge Dodgson, der unter seinem Künstlernamen Lewis Carroll als Autor des Kinderbuches "Alice im Wunderland" bekannt wurde. © picture-alliance/ dpa / UPPA 0033674
Alice nimmt es mit allen Herausforderungen des Wunderlandes auf, wo sie selbst mal groß wird und mal klein; mal hat sie einen Giraffenhals, mal spricht sie mit fremder Stimme. Auch, dass die "upper class" hier nach absurden, nicht durchschaubaren Regeln handelt, erschüttert die Heldin nicht: sie bleibt neugierig, selbstbewusst - und gebietet im richtigen Moment Einhalt.
"'Nein, nein!', sagte die Königin, 'zuerst die Strafe, dann das Urteil!' - 'Schluss mit dem Gefasel!' sagte Alice laut. 'Zuerst die Strafe, wo gibt's denn so was!' 'Du hältst den Mund!' sagte die Königin, krebsrot vor Zorn. 'Ich denke nicht daran', sagte Alice. 'Kopf ab mit ihr!' schrie die Königin aus Leibeskräften. Niemand rührte sich. 'Wer wird sich denn um euch scheren?', sagte Alice (denn sie hatte wieder ihre volle Größe erlangt), 'ihr seid ja nichts weiter als ein Kartenspiel.'"
"Das ist letztendlich das anarchische Potential dieses Buches. Dass so ein kleines Mädchen sich am Schluss hinstellt und auf den Tisch haut und sagt, 'das ist alles Unsinn, was die Königin hier sagt, die Köpfe werden nicht abgeschlagen!', das ist schon Rebellion in Reinkultur!"
Die Freude daran und am Skurrilen findet man bis heute im englischen Alltag. Und sollte es da mal wieder völlig verrückt zugehen, dann heißt es ganz einfach:

"That´s real Alice!"
[*] Anm. d. Red.: An dieser Stelle weicht das Manuskript von der Sendefassung ab. Das European College of Liberal Arts in Berlin heißt mittlerweile Bard College Berlin.
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