Über allen Gipfeln ist keine Ruh
31:18 Minuten
Gehören schnelles WLAN, eine Aufladestation für E-Bikes und jeden Abend Halligalli auf eine Berghütte? Die, die an der Alpen-Eventkultur verdienen, sagen ja. Vielen Wanderern aber geht der Spaß und Luxus in der Bergwelt längst zu weit.
Und ab durch das stählerne Drehkreuz, hinein in die Höllentalklamm. Die beginnt ein paar Kilometer von Garmisch-Partenkirchen entfernt, oberhalb des Örtchens Hammersbach. Der Eintritt wird vom Deutschen Alpenverein, kurz DAV, kassiert und damit hat sich mein kreditkartengroßer Vereinsausweis wieder ein bisschen gelohnt. Drei Euro billiger. Ich gehöre seit zehn Jahren zu dem Verein. Eines von 1,3 Millionen Mitgliedern des größten Bergsportvereins der Welt, der vor 150 Jahren gegründet wurde.
Ich habe Vorteile von dieser Mitgliedschaft. Aber ich bin nicht ganz im Reinen mit mir, ob ich das, was der DAV mit den Bergen anstellt, wirklich so gut finde. Die zweitägige Tour soll mir etwas mehr Klarheit bringen.
"Wir lieben die Berge", das ist das Motto, das der Alpenverein zu seinem 150. Geburtstag auf Fahnen, T-Shirts und Emailletassen gedruckt hat. Diese Liebe hat dazu geführt, dass im Tal kein Parkplatz mehr frei ist und diese Schlucht voller Wanderer ist. Die Besucher haben rote, grüne, blaue und schwarze Regenjacken an. Tagesausflügler aus dem nahen München, Touristen aus Fernost, Bergwanderer und Kletterer.
Man hört sie kaum wegen des Wildbachs. Er schneidet 150 Meter tief ins Gebirge. In die Wände der engen Schlucht sind enge Tunnelgänge und Galerien geschlagen worden. Gewaltig: Die Gischt stäubt, es tropft überall. Wer aufsteigt, presst sich an die Wand, um die, die von oben runterkommen, vorbeizulassen. 700 Meter entlang schauriger Abgründe, dann weitet sich die Schlucht schon wieder.
1000 Wanderer an schönen Tagen
Der Weg ist eine der Hauptrouten hinauf zu Deutschlands höchstem Gipfel, der Zugspitze, aber auch für Tagestouristen gut zu bewältigen. Um die 1000 Wanderer an schönen Tagen. Viele haben Turnschuhe an und nehmen in der engen tosenden Klamm ein bisschen von der Wucht und dem Nervenkitzel mit, für den die Alpen auch stehen. Sie zieht es nicht zum Gipfel, sondern zur Höllentalangerhütte auf 1387 Metern, zweieinhalb Stunden Weg. Die gehört auch dem DAV, genauer gesagt der Sektion München, dem größten und ältesten der 356 Regionalvereine, die zum Alpenverein gehören.
6,7 Millionen Euro teuer war das Haus. 2015 eröffnet. Es steht am Rand einer schotterbedeckten Talsohle. Die lange Terrasse ist voll besetzt, die Gäste haben Kaffee und Kuchen oder eine Limo vor sich stehen. Das Gebäude dahinter ist mit hellen Holzschindeln verkleidet. Für traditionelle Bergfreunde ist sie ein Fremdkörper, der den Anspruch des Vereins nach Einfachheit, Ursprünglichkeit und Authentizität verrät. Ich bin auch etwas irritiert.
"Es ist ein Pultdach, also kein klassisches Giebeldach, wie man es von einer Hütte erwarten würde, kein Almdach, sondern eine in der Berghang hineingetreppte Hütte, die deswegen diese treppenartige Bauweise hat, um auf den Lawinenschutz zu reagieren, so dass die Hütte beim Lawinenabgang keinen Schaden nimmt."
Zu komfortabel, zu modern, typisch Münchner
Das ist Thomas Gesell, der Hüttenbetreuer der Sektion München. Natürlich trägt er ein 150-Jahre-Jubiläums-T-Shirt, schwarz. Seinen Job macht er seit 15 Jahren hauptamtlich, und weil er ständig zu den elf Häusern dieser Sektion hochläuft, wölben sich seine Waden wie die Knollen von Hokkaidokürbissen. Er ist 53, der Teint rosig und die Haare fast weiß. Sein Verband hatte hier zuvor eine alte, baufällige Unterkunft, die nicht mehr zu renovieren war. Also wurde die Hütte 2013 abgerissen und ganz neu gebaut. Mit Wasserkraftwerk und einer großen Kläranlage. Seither hagelt es Kritik: zu komfortabel, zu modern, typisch Münchner! Thomas Gesell kann das schon fast nicht mehr hören.
"Bei der Höllentalangerhütte wurde ja auch immer wieder gesagt, das ist eine Komforthütte, das ist eine Luxushütte. Wo ich sag': Jede Pension im Tal, die kein Waschbecken im Zimmer hat, oder die Nasszelle, oder ein Etagen-WC, die muss zusperren, das ist nicht mehr zeitgemäß! Wir hier oben haben Etagenduschen, Etagen-WC. Kein einziges Zimmer hat ein Waschbecken drinnen. Das ist einfachster funktionaler Bergsteigerstandard, den wir hier haben. Aber es wird unterstellt, es wäre eine Luxushütte, das ist schlicht und ergreifend falsch."
Der Alpenverein ist wahrscheinlich der einzige Übernachtungsdienstleister auf der Welt, der peinlichst den Eindruck vermeidet, es könnte seinen Gästen zu gut gehen. Dabei ist er ein großer Player in der zentraleuropäischen Bergwelt. 322 Hütten, 20.000 Betten, 800.000 Übernachtungen pro Jahr.
"Unsere Hütte ist eine einfache Bergsteigerunterkunft und das soll sie bleiben. Es wird hier kein Schwimmbad geben und kein 2-Bett-Zimmer. Das können wir uns gar nicht leisten und das wollen wir konzeptionell auch nicht."
Thomas Gesell stapft mit seinen schweren Bergschuhen über die Terrasse und führt außen herum zum Eingang für Übernachtungsgäste im Untergeschoss. Er will beweisen, dass das Objekt zwar topmodern, im Kern aber doch nur eine einfache Hütte ist. Links zweigt ein langer Gang ab, die Wände aus Sichtbeton. Helles freundliches Licht. Ein Raum zum Aufhängen der nassen verschwitzten Kleider.
"Da kann man jetzt sagen, muss das belüftet sein, ist das nicht zuviel Technik. Jeder der viel auf Berghütten unterwegs ist und weiß wie schön das ist, wenn der Geruch der Schuhe am nächsten Tag an der Jacke hängt, der weiß, wie schön das ist, wenn Schuh- und Trockenraum getrennt sind."
Funktionale Nasszellen mit Rainforest-Duschköpfen
Auf dem Weg nach oben, kommt man an der Rezeption vorbei, dem einzigen Bereich mit Wlan-Empfang. Das habe man bewusst so gemacht, damit sich die Leute im Gastraum miteinander beschäftigen, sagt Gesell. Oben wieder Gänge mit Waschbeton. Funktionale Nasszellen mit Rainforest-Duschköpfen. Gegen Gebühr auch warm. Der Hüttenbetreuer lässt nichts aus.
"Etagen-WC, ganz spannend, einmal für Männlein, einmal für Weiblein, olfaktorisch leicht belegt – man riecht es so ein bisschen, man ist im WC, aber wo ist hier der Luxus? Zwei Urinale, es gibt drei Töpfe, es gibt Trennwände dazwischen, das ist Luxus, aber das war es dann auch schon."
Der Vergleich mit den Unterkünften im Tal hinkt etwas. Schließlich sind wir hier mitten im Hochgebirge. Jeder weiß: Im Gebirge gibt es keinen Hotelservice, da geht es um die Grundversorgung, da muss man sich einschränken. Dafür finde ich es ziemlich stylisch hier. Aber okay, eine klassische Hütte im Retro-Stil wäre auch albern. Jetzt geht es eine Tür weiter.
"Ja, hier sind wir gerade mittendrin im Beziehen des großen Matratzenlagers. Sie finden es hier alle luxuriös, nehme ich an. Das sind insgesamt 28 Schlafplätze."
Drei Etagen-Betten, 75 Zentimeter breite Matratzen, eine neben der anderen. Eine Wanderin zieht einen dünnen Baumwollschlafsack aus der Hülle und breitet ihn aus. Der obligatorische Hüttenschlafsack, den braucht sie, weil die Bettwäsche nur alle zwei Wochen gewechselt wird.
"Sehr offen. Wir haben noch keine Schallbremsen drin, das heißt, wenn sich auf der rechten Seite ein Schnarcher drin befindet, dann haben die auf der anderen Seite auch was davon. Es ist wunderschön, sie lachen noch, sie werden es heute Abend erleben, warten sie nur. Es ist mehrstimmig, es ist interessant."
Gesell verlässt den Gruppenschlafraum und geht wieder nach unten. Dort sind die beiden Gasträume. Sehr offen, mit großen Fenstern, vielleicht 50 Gäste an den langen Tischen. Es dämmert draußen, die Tagesgäste sind größtenteils wieder weg. Diejenigen, die jetzt noch da sind, meinen es ernst mit dem Bergerlebnis und haben oft mehrtägige Touren vor oder hinter sich. Viele wollen morgen über das Höllental und den Gletscher auf die Zugspitze.
Man kann in die Küche sehen, dort wird das Drei-Gänge-Menü für die Halbpension-Gäste bereitet. Es riecht nach Speck. Für die Nacht ist die Höllentalangerhütte wieder einmal ausgebucht. Wandern ist trendy geworden, auch dank des DAV. Die Alpen ziehen mehr Gäste an, denn je zuvor. Gesell setzt sich an einen Tisch neben dem Kachelofen.
Eine nicht enden wollende Luxusdebatte
"Der Grundstein für diese Entwicklung wurde sicherlich in den 150 Jahren gelegt, durch das Anlegen des Hütten- und Wegenetzes, um eben auch abgelegene Täler und Regionen touristisch zu erschließen. Das ist ja auch die ursprüngliche Aufgabe des Alpenvereins gewesen: "Die touristische Erschließung der Bergregionen durch Hütten und durch Wege."
Die Gründungsmitglieder des DAV wollten allen ermöglichen, die Bergwelt zu erleben. 1869, das war die Industrialisierung, die Verstädterung – Beschleunigung und Masse. Der Mensch sollte in der erhabenen, einfachen Bergwelt wieder zu sich finden und Kraft schöpfen. Daher kommt auch die nicht enden wollende Luxusdebatte im Verein. Nebenbei, das spielte auch eine Rolle, sollten die abgehängten Bergbewohner mit den Besuchern Geld verdienen können. Der Alpenverein hält das bis heute am Laufen. Mit einem dichten Netz an Kletterhallen in der Fläche lockt er den Nachwuchs an.
"Ohne Wege und ohne Hütten gibt es auch keinen alpinen Tourismus. Kein Mensch würde Urlaub machen in einer Region die nur aus einer Talstraße besteht, wo ich dann nur zu meiner Pension gehen kann, aber sobald ich dann rechts und links abzweigen möchte, den Berg hochgehen möchte, keinen Steig und keinen vernünftigen Weg mehr habe. Dann wäre sofort Ende des Tourismus."
Allerdings ist den Vereinsmitgliedern früh aufgegangen, dass sie das, was sie da für die Allgemeinheit erschließen, auch verändern. "Der Tourist zerstört, was er sucht, indem er es findet." Das Zitat von Jürgen Habermas passt wunderbar in die Bergwelt. Der DAV hat sich einen Ausbaustopp für Hütten und Wege verordnet – und zwar schon 1928. Unterkünfte und Wege sollten nur in besonderen Ausnahmefällen gebaut werden. Seit 1956 wurden keine neuen Standorte mehr eröffnet. Vielleicht war das zu spät, um den Ansturm auf die Berge zu bremsen. Gesell schüttelt den Kopf.
"Man muss aber die Kirche beim Dorf lassen, wir sind nur einer von sehr vielen. Es dominieren einfach die vordergründig ökonomischen Interessen und damit ist die Macht des Alpenvereins per se durchaus begrenzt."
Der Münchner Hüttenbetreuer schaut zum Fenster. Es ist praktisch dunkel in dem engen Tal und es regnet. Aber Thomas Gesell muss wieder runter. Morgen wird er bei im Salzburger Land auf 2800 Metern in einer anderen Hütte der Münchner Sektion erwartet. Noch einen Espresso, dann eilt er davon.
Keine Spur von Hüttenzauber
Der Hüttenzauber stellt sich nicht so richtig ein bei mir. Das liegt vielleicht an meinen antiquierten Erwartungen. Urig und heimelig ist es hier nicht. Eher laut und funktional. Ich stehe auf. Es ist auch Zeit. Morgen steht eine lange Tour bevor, quer durch das Wettersteingebirge. Oben im Schlaftrakt richte ich mich in einem Achterzimmer ein. Für die Bergschuhe war, nebenbei gesagt, kein Ständer mehr frei im Keller. Mein Hüttenschlafsack, darüber eine Wolldecke. Die Matratze ist bequem. Nachts streckt mir meine Bettnachbarin die Füße in die Kniekehlen, aber es schnarcht erstaunlicherweise keiner. Aber mit der Ruhe ist es früh vorbei. Ab halb vier poltern Männer durch den Gang, die es nicht erwarten können, zur Zugspitze aufzubrechen.
Um sieben ist der Gastraum kaum besetzt, die meisten sind wohl schon weg. Es gibt zwei Brote und je zwei Scheiben Wurst und Käse, dazu ein kleines Schälchen Müsli. An der Theke kann man sich noch ein Lunchpaket mit zwei Stullen, Apfel und Müsliriegel besorgen. Das brauche ich heute.
Der Morgen ist kühl, der Himmel tiefblau. Es soll erst am Nachmittag wieder regnen. Ich breche zur Meilerhütte bei der Dreitorspitze auf, weit weg von den Warmduschern und Tagestouristen. Die Strecke dorthin ist laut Alpenvereinstourenportal 16 Kilometer lang, 1000 Meter Abstieg, 2000 Meter Anstieg. Siebeneinhalb Stunden Weg. Es hätten auch neun Stunden mit Klettersteigen sein können. Ein Angebot für Wanderer, die das Abenteuer suchen – und die fitter sind als ich. Es gibt eben nicht nur den einen Weg zum Ziel.
Viele Wege führen durch die Alpen. 30.000 Kilometer unterhalten die Sektionen des Alpenvereins. Das Teilstück hoch zum Hupfleitenjoch ist ganz komfortabel. Stufen, wenn es zu steil wird, ein Stahlseil zum Festhalten, wenn der Abgrund neben mir gähnt. Die Alpen sind gewaltig, aber der DAV achtet über weite Strecken darauf, dass sie einem nicht zu gefährlich werden. Im Amtsdeutsch heißt das "Die touristische Erschließung der Alpen" – ich würde sagen, die ist vollendet. Manchmal fühle ich mich überbehütet. Sorgfältig sind an den Abzweigungen Wegweiser aufgestellt, damit man sich nicht verläuft. Die ebenfalls darauf angegebenen Wegzeiten sind meistens ganz freundlich und machen Laune, wenn man sie unterbietet.
Ich profitiere von der tollen Infrastruktur – schon weil ich kein Essen für die zweieinhalb Tage mitschleppen muss, der Rucksack ist leicht. Als ich früher mit meinem Vater, ein DAV-Veteran, beim Wandern war, war das die größte Herausforderung: das Gepäck. Wie hält man es leicht? Was wiegt wenig und macht trotzdem satt? Wir haben gewetteifert um die besten Ideen. In den letzten Jahren habe ich genau das wieder schätzen gelernt: Wie herrlich einsam kann es sein, wenn man den Proviant für mehrere Tage mitschleppen muss, weil nicht alle paar Stunden eine Wirtschaft auftaucht. Zwei junge Männer in Funktionskleidung und ganz ohne Gepäck kommen mir auf einem niedrigen Kammabschnitt entgegen.
Große Nachfrage für den bequemen Berggenuss
Die beiden rennen den Weg fast hinunter, den ich eben 400 Höhenmeter heraufgekeucht bin. Aber sie kommen von der Seilbahn hergerannt. Das ist der bequeme Weg für Bergliebhaber. Man lässt sich in die Höhe bringen. In dem Gebiet nahe Garmisch-Partenkirchen gibt es Bahnen ohne Ende: die Kreuzeckbahn, Wankbahn, Zugspitzbahn oder die Alpspitzbahn. Von der kommt man sogar zur Nervenkitzel-Aussichtsplattform AlpspiX: Da steht der Wanderer auf einem Gitter 1000 Meter über dem Grund und guckt hinunter. Ohne vorher stundenlang zu schwitzen.
Diese Art der Bergeroberung sieht der Alpenverein kritisch. Gut so, finde ich, aber andererseits: es gibt eine Nachfrage für den bequemen Berggenuss, und die wächst. Und wo eine Nachfrage ist, da ist auch der Investor nicht weit, der ein passendes Angebot macht. Sollen nur diejenigen auf den Gipfel dürfen, die ihn ohne Hilfe erklimmen? Und wer bestimmt darüber? 1927 wurde der Naturschutz in die Satzung aufgenommen. Der DAV befindet sich damit in einem anstrengenden Spagat zwischen Tourismus und Schutz in den Alpen.
Sanfter Tourismus, Ursprünglichkeit, Authentizität: Man bemüht sich mit umweltfreundlichen Hütten und Regionalprodukten. Aber Hardcore-Alpenbewahrer, wie der Extrembergsteiger Reinhold Messner, fordern, dass der Alpenverein doch einfach seine Hütten stilllegen soll und die Wege aufgeben. Dann wäre wirklich über allen Gipfel – und dazwischen – Ruhe. Außerdem würde es weniger Straßen und Parkplätze in den Tälern brauchen.
So weit wird es nicht kommen, aber im DAV wird schon darüber gestritten, welche Art von moderner Mobilität in die Berge passt.
Auf dem schmalen Pfad hinüber zur Hochalm ist das Profil eines Fahrradreifens zu erkennen. Dort pest ein Sportler auf seinem Mountainbike die steile Schotterpiste hinunter.
Auf dem schmalen Pfad hinüber zur Hochalm ist das Profil eines Fahrradreifens zu erkennen. Dort pest ein Sportler auf seinem Mountainbike die steile Schotterpiste hinunter.
Ein älteres Ehepaar weicht vorsichtshalber zu Seite. Von unten kommt, erheblich langsamer, wieder einer rauf. Dirk aus Grainau hat das grüne Shirt bis zum Nabel aufgezippt, Schweiß glänzt auf seiner rasierten Brust.
"Ja, das ist für mich ein bisschen grenzwertig wegen der Steigung."
Der 48-Jährige gehört offenbar zu den Achtsamen unter den Bergradlern.
"Also ich finde man sollte als Radlfahrer auf Wegen bleiben, die für Radfahrer auch geeignet sind. Ich bin jetzt nicht dafür, dass man irgendwelche Trails runterfährt. Insofern finde ich, dass wenn man gegenseitig Rücksicht nimmt, es wunderbar funktioniert. Ich bin auch so noch nicht in Situationen gekommen, in denen mich Wanderer beschimpft haben. Weil ich nicht die Singletrails fahre, ich bin mehr der Forststraßenfahrer."
Die Berge als Funpark
Ein Netter. Aber seit Jahren kommen mit den Mountainbikes noch mehr Leute noch schneller und weiter in die Berge hinein. Der Bundesverband des DAV empfiehlt seinen Sektionen inzwischen, keine Ladestationen für E-Bikes auf den Hütten anzubieten. Man will dem Wildwuchs Einhalt gebieten. Andererseits, so die Kritiker, übernehmen dann eben die privaten Anbieter die E-Biker. Und der DAV verliert seinen Einfluss auf die Radler.
Ich wandere weiter, jetzt geht es bergab: Von der Hochalm über den Bernardeinsteig hinunter auf 1000 Meter ins Reintal. Der Weg zieht sich sanft den Hang entlang. Unten führt eine Brücke über die weiß-blaue Partnach. Und dann wird es ätzend.
Der Weg am Oberreintalbach hinauf zum Schachen. Endlose Serpentinen im Bergwald. 20 Meter, Kehre links, 20 Meter Kehre rechts. Bald ist das Hemd durchgeschwitzt und es hört einfach nicht auf. Genau diese Strecke habe ich gehasst, als mein Vater mich hier hinaufgetrieben hat. Jetzt bin ich ihm dankbar dafür. Der Kulturgeograf Werner Bätzing hat darüber publiziert, dass das Erleben von Anstrengung und Langeweile zum authentischen Bergerlebnis dazugehört. Dass der Mensch sich dadurch von seinem Alltagsleben frei machen kann – vorausgesetzt er mag sich anstrengen.
Viele wollen das eben nicht, und deswegen wimmelt es in den Alpen von Seilbahnen, Sommerrodelbahnen und Abenteuerrutschen. Die Berge – ein Funpark. Der DAV ist da auch nicht ganz unbeteiligt. Er engagiert sich stark im Berg- und Kletter-Leistungssport, da geht es nicht um die Natur, sie dient den Athleten höchstens als pittoreske Kulisse.
Der Weg zieht sich, aber irgendwann hören die hohen Fichten auf und machen niedrigen Latschenkiefern Platz, es gibt wieder mehr Landschaft zu sehen. Nur drei Leute sind mir auf dem Weg nach oben begegnet. Endlich Ruhe. Mein Körper hat seinen Rhythmus gefunden. Schließlich wird es eben und ich gehe und gehe um eine Biegung und das ockerbraune Schachenschloss mit bayerischer Fahne nebenan kommt in den Blick. Und auch noch Blasmusik!
"König Ludwig II. von Bayern hat traditionell heute Geburtstag und dadurch wird morgens hier ein Bergmesse gefeiert und das ist noch Frühschoppen, der Rest davon. Kennen Sie das nicht?"
Die beiden Kölner Ludwig-II.-Fans finden es lustig, dass ich nichtsahnend in die Geburtstagsparty gestolpert bin. Hier am Königshaus am Schachen, für das der romantische Monarch 1869 den Grundstein gelegt hat – dem Jahr, in dem der Deutsche Alpenverein gegründet wurde. Das wäre eine Gelegenheit, um über wahren Luxus auf 1876 Metern zu sprechen: Zirbelholzvertäfelungen, Indoor-Springbrunnen, Himmelbetten.
Soll ich auf der Alm gleich unterhalb noch was trinken? Der Trubel ist zu groß und der Himmel zieht auch schon wieder bedenklich zu. Es ist später Nachmittag. Ich will ja noch die ursprüngliche Hütte finden, die ohne Schnick-Schnack, die Meilerhütte. Da will ich übernachten. Der Ältere gibt Tipps.
"Sie können aber auch weiter, hier zur Meilerhütte, das ist die höchste hier. 2300 und noch was hoch. Anderthalb Stunden wird da beschrieben. Ich als Kölner halte das für untertrieben, wir brauchen da mehr für."
Nach acht Stunden endlich am Ziel
Die letzten 500 Höhenmeter. Die Vegetation wird spärlich, auf einem kleinen Plateau weiden Schafe zwischen Nebelschwaden. Es nieselt. Die Beine sind schwer nach acht Stunden Laufen. Der Blick nach oben sucht vergeblich nach der Hütte. Dann taucht sie auf einem Felsgrat auf. Grau und trotzig. Endlich. Ich bin auf 2376 Höhenmetern an der Grenze von Bayern zu Tirol.
"Servus Grüß Dich, schön Dich zu sehen!"
Marisa Sattlegger begrüßt mich in dem kleinen Anbau der Meilerhütte, der als Eingang und Trockenraum dient. Sie ist auf eine drahtige Art schlank und hat die blonden Haare zum Zopf gebunden. Ihr Händedruck ist fest. Sie hat einen ziemlich harten Job.
"Du musst dich komplett umstellen: Wir haben kein Wasser, du kannst nicht den Wasserhahn aufdrehen und es kommt unendlich viel Wasser. Wir haben zwei Zisternen, du musst einfach lernen zu sparen, wenn kein Regen kommt. Strom: Wir haben Solarstrom. Alles ist nicht möglich mit Solarstrom. Die wichtigsten Geräte wie Gefriertruhe haben wir schon, aber wir haben keinen Strom im Überfluss. Du musst einfach lernen, mit dem, was du hast, da heroben zu haushalten. Wenn kein Wasser mehr da ist, dann haben wir ein Problem."
Das bewirtschaftete Haus der Sektion Garmisch-Partenkirchen steht eigentlich nur, weil der Alpenverein verhindern wollte, dass hier oben ein vereinsfremder Berggasthof aufmacht und die Bergwelt kommerzialisiert.
"Das ist also Originalzustand von 1911. Das ist der Vorraum, wir haben hier die Lagerräume, rechts und links haben wir dann eine kleine Gaststube und eine große Gaststube."
Links geht noch ein kleiner Gang ab.
"Trockentoiletten: Deckel auf, Geschäft hineinverrichten, Deckel zu. Ohne Wasserspülung, das Scheißhäuserl und das Pissoir für die Männer. Gehen wir nach oben!"
Im ersten Stock gibt es Mehrbettzimmer, im zweiten Stock das große Matratzenlager. Es sieht ganz gemütlich aus. 9 Euro die Nacht für Mitglieder, 19 ohne Ausweis.
"Nicht so wie man sich früher vorgestellt hat, dass zehn in einer Reihe sind mit 60-Matratzen, sondern wir haben Dreierreihen und überall 80 Zentimeter. Jawoll, auch der Wanderer muss gut schlafen."
Küche ohne Wasser und Strom
Beim Hinausgehen bückt sie sich rasch zu einer der wenigen Steckdosen im Haus. Da hat jemand seine Bluetooth-Kopfhörer mit einem USB-Ladegerät reingesteckt. Sie zieht den Stecker. Marisa Sattlegger führt das Haus schon in der zweiten Generation. Bei ihren Eltern hat es noch nicht einmal Steckdosen gegeben.
"Die haben weder ein Wasser in der Küche gehabt noch Strom. Ich weiß noch, als Kinder hatten wir Taschenlampen und wenn die Batterien alle waren, dann hattest du ein Problem, weil du so schnell nicht wieder ins Tal gekommen bist. Ich weiß nicht, wenn meine Eltern nicht hierhergekommen wären, dann wäre ich vielleicht woanders."
Die Wirtin arbeitet hier vier Monate im Jahr vom Morgen bis tief in die Nacht. Sie macht das gerne. Aber muss der Mensch hier wirklich einen Stützpunkt unterhalten?
"Ich glaube wenn es die Übernachtungsmöglichkeit nicht gäbe hier oben, dann wäre auch viel weniger los."
Wäre es nicht besser für Natur, wenn weniger los wäre? Die Hüttenwirtin zögert kurz.
"Ja gut, klar, wenn der Mensch nicht auf den Berg kommt. Aber im Endeffekt: die sind doch alle vernünftig, kommen rauf und gehen auf die Dreitorspitze und wieder runter, und jeder nimmt seinen Müll wieder mit. Ich würde sagen, das macht der Natur gar nichts."
Sie nickt noch einmal bekräftigend, dann geht sie wieder runter. Sie muss wieder zu ihren anderen Gästen.
Im Gastraum sitzen etwa 25 Bergsteiger und Wanderer. Es ist warm, kleine Fenster, man sitzt eng beieinander, manche spielen Karten. Man kommt leicht ins Gespräch. Der Schwede David erzählt von seinen Erlebnissen auf dem Fernwanderweg Via Alpina.
"In the Karwendelhaus two nights ago. 40 People and most of them snored."
Ingo aus Berlin von einer Bergtour in Südamerika.
"Ich habe auch schon bei Indianern geschlafen, war auch nicht schlecht. In Ecuador, bei Rangern auf 3000 Metern und bei Indianern."
Es stellt sich so etwas wie Verbundenheit ein. Ein erweitertes Lagerfeuer in einer Umgebung, die nicht für Menschen gemacht ist. Alle, die hier sind, haben beim Aufstieg genauso gekeucht und geschwitzt wie ich. Wir wollten es so. Jetzt sind wir fernab. Vom Alltag, von Freunden, von der Familie. Und am nächsten Morgen – nach einer Nacht auf Matratze 70, ohne Toilettenspülung und ohne heiße Dusche – stehe ich noch vor dem Frühstück draußen und gucke still mit den anderen in die Berge. Die Sonne streicht golden die Dreitorspitze hinunter, auf der anderen Seite leuchtet die Zugspitze auf. Ich bin glücklich, dass ich hier sein kann, dass es die Hütte gibt, die das möglich macht.