150 Jahre US-Nationalpark Yellowstone
Mitten im Yellowstone-Nationalpark liegt der Grand Prismatic Spring, eine der 10.000 heißen Quellen auf dem Gelände. Die Farben entstehen durch Organismen, die Licht unterschiedlich reflektieren. © Unsplash / Dan Meyers
Dort, wo der Wolf tanzt
21:13 Minuten
Geysire und Grizzlys, Wasserfälle und Wölfe – das und mehr ist Yellowstone. Vor 150 Jahren, am 1. März 1872, wurde der weltweit erste Nationalpark in den Rocky Mountains eröffnet. Sein Ziel: Besucheransturm mit Naturschutz verbinden. Gelingt das?
Bisons werden mit Pick-up Trucks zusammengetrieben – nicht zu Pferd.
Riesige Tiere, mit braun-schwarzem Fell, zwischen 400 und 800 Kilogramm schwer, rennen vor den Autos davon: eine Gruppe von 50 Bullen, Kühen und Jungtieren.
Die weißen Trucks krachen über gefrorene Furchen des Weidelands. Die Bisons einzufangen, soll schnell gehen, und wenn möglich, schon beim ersten Versuch gelingen.
„Das zweite Mal ist immer schwieriger, denn die Tiere wissen schon was passiert und fliehen. Du musst sie in diesen Gang bekommen. Wenn sie dort sind, springt der erste Fahrer raus, schließt das Tor, sonst rennen sie wieder zurück“, erzählt Robbie Magnan.
Er ist Sioux, also American Indian und Chef der Behörde für Jagd und Fischerei im Reservat Fort Peck, ganz im Nordosten von Montana. Er hat das Ziel, wilde Bisons bei indigenen Gemeinschaften in anderen US-Bundesstaaten neu anzusiedeln. Die Tiere stammen ursprünglich aus dem Yellowstone-Park.
Wildnis als schützenswertes nationales Erbe
1872 erhob Nordamerika die Wildnis zum ersten Mal zum schützenswerten, nationalen Erbe. Das Habitat von Bisons, Wölfen und uralten Kiefern im Nordwesten der USA war aber von Anfang an auch als Freizeitpark gedacht – zur Erholung im Sinne von Kurbädern in Deutschland oder der Schweiz.
Dabei sollten Besucher kommen, die traditionell in Yellowstone jagenden indigenen Amerikaner aber sollten verschwinden. Und wie kommen Ranger, Tiere und Besucher 150 Jahre später miteinander zurecht?
Der Versuch, echte, ursprüngliche Wildnis zu bewahren, hat bis heute nichts von seiner Bedeutung verloren, sagt Park-Biologe Chris Geremia.
„Es ist unglaublich wichtig. Du brauchst diese letzten Flecken, die seit langer Zeit naturbelassen sind. Und wir werden alles tun, um sie auch in der Zukunft zu erhalten. Weißt du, ich habe es gesehen, wenn Leute in den Park kommen und diese riesigen Bison-Herden erleben“, erzählt er.
„Da erwacht etwas, sie bekommen wieder eine Verbindung zur Geschichte, zu dem, was Nordamerika ausmachte. Und du kannst dem keinen finanziellen Wert beimessen, diesem Gefühl von Wildnis. Und deshalb sind diese Orte wichtig.“
“Two, four, five … small group today.” Marieleigh zählt die Fahrgäste durch. Im Winter sind die Besuchergruppen im Yellowstone-Park klein.
Zur Snow Lodge am berühmten Old Faithful Geysir geht es nur mit dem Schneebus eines Touranbieters. Knallgelbe Busse, deren Reifen einen Durchmesser von mehr als einem Meter haben.
Ein Nationalpark so groß wie Zypern
Die Fahrt dauert im Winter mit einigen Stopps drei bis vier Stunden. Insgesamt hat der Yellowstone-Park eine Fläche, die fast so groß ist wie die Insel Zypern. Das Gebiet liegt zum größten Teil im Bundesstaat Wyoming, im Krater des Yellowstone-Vulkans. Dessen Caldera ist vor über 640.000 Jahren entstanden.
Im Winter sind weiße Wasser- und Dampfsäulen über dem Land besonders gut zu sehen: Heiße Quellen, die zeigen, wie aktiv die Magmakammer darunter noch ist.
11.000 Jahre reichen im Yellowstone die ältesten menschlichen Spuren zurück: 27 indigene amerikanische Gemeinschaften seien durch das Gebiet gezogen, erklärt Marieleigh. Wobei die Tukudika, eine Gruppe der nördlichen Shoshone, das gesamte Jahr über im Gebiet des Yellowstone lebten.
„Wenn man sich nur mal kurz vorstellt, was sie durchmachen mussten, um hier draußen durchzuhalten. Sie konnten besonders gut Häute gerben, um aus Bison- und Hirschhäuten Schuhe und Kleidung herzustellen“, sagt sie.
„Sie stellten Waffen aus den Hörnern der Dickhornschafe her. Und sie legten sie in die heißen Quellen, um sie biegsamer zu machen. Dann fertigten sie daraus Bögen mit Pfeilspitzen aus vulkanischem Glasgestein, Obsidian.“
Indigene Bevölkerung wurde vertrieben
Dieses Kapitel in der Geschichte endete mit dem Zug der europäischen Siedler in Richtung Westen: mit den Kriegen, den Morden und der Vertreibung der indigenen Bevölkerung Nordamerikas in Reservate.
Mit der Zerstörung gehen Mythen einher, einer davon: An dieser Stelle kam den aus Europa eingewanderten Eroberern zum ersten Mal die Idee, die amerikanische Wildnis zu retten.
„Das ist der Nationalpark-Berg. Und es gibt zwei coole Sachen dazu zu sagen: Zum einen ist er ein gutes Beispiel für den Kraterrand. Wir sind jetzt also innen, in der Caldera. Genau da, wo man sein möchte, wenn der Vulkan wieder ausbricht.“
Am Fuß des Berges trifft außerdem das warme Wasser des Firehole-Flusses, gespeist aus Geysiren mit dem schnell fließenden Gibbon-Fluss zusammen.
Wer hatte wann die erste Idee zum Park?
Genau dort soll 1870 zum ersten Mal die Idee eines Nationalparks entstanden sein. So steht es sogar auf einer grauen Metallplatte, einem historischen Orientierungspunkt am Flussufer.
Männer saßen um ein Lagerfeuer. Sie nannten sich die Washburn-Expedition: „Und einer der Männer um das Feuer sagte: ‚Wartet! Wartet mal!‘ ‚Wir sollen nicht selbstsüchtig sein und das Land für uns haben wollen. Wir sollten es bewahren. Wir nennen es einen Nationalpark'.“
Doch dran haben Historiker seit den 1960er-Jahren Zweifel. Obwohl die Geschichte immer noch auf Touren durch den Yellowstone-Park erzählt wird, ist die Wahrscheinlichkeit für so ein Gespräch sehr gering:
„Denn all diese Männer führten sehr detailliert Tagebücher. Und keiner schrieb über diese revolutionäre Unterhaltung. Das Detaillierteste, was jemand über die Nacht schrieb, war: ‚Nicht gut geschlafen, dachte an Familie und Geschäfte daheim.‘“
Wildnis, die so schön ist wie ein Schloss
Die Berichte der Washburn-Expedition hatten immerhin großes Interesse geweckt. Der Gedanke, Amerikas Wildnis könnte einen gleichen Stellenwert haben, wie Europas Schlösser und Kathedralen, war zwar schon 70 Jahre alt. Doch jetzt war die Idee eines Nationalparks auch im US-Kongress in Washington zu hören, erklärt Andrew Winston von der Juristischen Bibliothek der Library of Congress.
„Nachdem, was wir bei der Recherche in unseren Dokumenten gefunden haben, war der Anstoß ein Bericht von Professor Hayden. Hayden hatte die Aufgabe, eine Expedition zusammen zu stellen, um das Gebiet zu kartografieren und zu erkunden, das als Nationalpark bestimmt werden sollte.“
Winston hat in einem Lesesaal Veröffentlichungen mit Gesetzestexten, Bücher voller Sitzungsprotokolle, Stiche und Karten zusammengetragen. Damals, als nur wenige unter großem Aufwand Yellowstone besuchen konnten, wurden die Beschreibungen von Ferdinand Vandeveer Hayden zur Grundlang der Gesetzgebung.
Mit Yellowstone begann eine neue Ära
Bibliothekarin Anna Price sucht in einem schweren Wälzer, dessen Buchrücken bereits gebrochen ist, nach Haydens Berichten.
„Er hat viele Berichte über die Jahre geschrieben, in denen er durch die Wildnis zog. Dieser insbesondere ist mehr als 500 Seiten lang. Und es ist einfach unglaublich detailliert, wie er die Landschaft beschreibt. Der Bericht enthält Zeichnungen und Karten“, erklärt sie.
Und ein kurzes Kapitel, das Hayden dem Gesetz zur Gründung des Yellowstone-Nationalparks gewidmet hatte:
„Er schreibt: Ich habe kurz zusammengefasst, wie das Gesetz verabschiedet wurde. Weil ich glaube, dass es eine Ära begründen wird in der allgemeinen Entwicklung wissenschaftlicher Ideen nicht nur in diesem Land, sondern überall in der zivilisierten Welt.“
Unterzeichnet am 1. März 1872 von US-Präsident Ulysses S. Grant. Yellowstone – der erste Nationalpark der Welt. Und der Anfang ging erst einmal gründlich schief.
„Wir wussten nicht, was wir tun“, sagt der Superintendant des Yellowstone-Nationalparks, Cam Sholly, über die Zeit damals in einem Videochat. Es gab noch keine Ranger, also Wildhüter. Wyoming und Montana waren noch nicht einmal Bundesstaaten.
Und die Hauptstadt Washington entsandte das Militär: „Die Politik der Regierung war es, den Park von Raubtieren zu säubern. Und das taten wir. Massenweise.“
Raubtiere passten nicht ins Konzept
Denn der Nationalpark war auch als Freizeitpark für Amerikaner eingerichtet worden. Raubtiere passten nicht ins Konzept.
Cam Sholly erzählt: „Wir rotteten Wölfe aus und Pumas. Wir bastelten am Ökosystem herum und kippten es – damals unwissentlich – völlig aus dem Gleichgewicht.“
„Der Yellowstone war nicht wegen seiner Wildtiere unter Schutz gestellt worden“, sagt Scott, ein weiterer Tourguide im Yellowstone. Er lenkt seinen Bus mit Gästen noch vor Sonnenaufgang in Richtung Lamar Valley. Eine schneebedeckte Talsole, auf der wieder Bisons, Wölfe, Kojoten und Elche zu sehen sind, sobald sich der Nebelteppich verzogen hat.
„1872 gab es hier Bisons, Hirsche, Wölfe, Bären – und das war nicht ungewöhnlich für die Vereinigten Staaten. Was es nur im Yellowstone gab, waren die heißen Quellen. Man könnte fast sagen, der Park wurde wegen seiner Landschaft unter Schutz gestellt“, sagt er.
Land ohne Einwohner. In gewisser Weise spiegeln die ersten Jahre des Nationalparks den Umgang mit der Natur im Rest von Nordamerika und zuvor in Europa wider. Scott und Marieleigh erklären das den Touristen am Beispiel der Bisons so:
„Bisons repräsentieren für mich den Yellowstone-Park und den amerikanischen Westen“, sagt sie. „Um 1600 lebten schätzungsweise weit mehr als 30 Millionen Bisons im heutigen Gebiet der Vereinigten Staaten“, erzählt er. Marieleigh weiter: „Und Züge mussten tagelang warten, bis eine Herde die Gleise überquert hatte.“
Siedler jagten Tiere
Mit der Ankunft der Siedler wurden Tiere gejagt – aus ganz unterschiedlichen Gründen.
„Als wir nach Westen zogen, erst bis zum Mississippi und dann darüber hinaus, waren Bisons einfache Nahrung“, erklärt Scott. Marieleigh erzählt: „Siedler kamen hierher und begannen Bisons in großer Zahl zu töten.“
Scott weiter: „Und es gab – ich nenne sie die Indianer-Kriege. Die US-Regierung entschied, indigene Amerikaner von ihrem Land in Reservate zu vertreiben. Und sie dachten, wenn wir die Bisons ausrotten, dann wird es leichter, die indigenen Amerikaner zu vertreiben.“
„In kürzester Zeit blieben von 30 Millionen Bisons nur noch 400 Tiere übrig. Das war alles“, sagt Marieleigh. Im Yellowstone-Park, dem Ort ursprünglicher Wildnis, waren es nur noch 25 Bisons. Eine kleine Gruppe im Pelikan Valley, nördlich des Yellowstone-Sees.
„Dann änderte sich zum Glück die Denkweise darüber, was ein Nationalpark sein soll. Dass das bedeutet, dass wir das Land, aber auch alle Tiere und die Pflanzen schützen müssen“, sagt sie.
„Sind die nicht großartig, fast Dinosaurier.“ Dinosaurier? Damit meint Jossie eine Gruppe von Bisons, nicht weit von ihr. Die Tiere durchfurchen mit ihren Schädeln den Schnee am Ufer des Firehole-Flusses im Yellowstone-Park. Sie suchen Grasspitzen zum Fressen.
Vom Freizeitpark zum Nationalpark
„Das scheinen Kühe und Jungtiere zu sein“, sagt sie. „Die Bullen sind für sich allein, bis die Brunftzeit beginnt. Das ist im August. Dann ziehen sie alle ins Lamar- oder Hayden-Tal. Dort wetteifern die Bullen um die Kühe. Ein ziemliches Schauspiel.“
Jossie führt eine Gruppe von Besuchern durch verschneite Hänge entlang des Firehole-Flusses. Alle haben Schneeschuhe an, die knirschen bei jedem Schritt. Die Schneedecke darunter ist bis zu einem Meter dick.
Während zu Beginn die Wildnis im Yellowstone vor allem als Freizeitpark begriffen wurde, und Bären zum Beispiel mit offenen Mülleimern in die Nähe der Touristen gelockt wurden, wirkt es heute zumindest ausgeglichen. Doch den Naturschutz mit dem Ansturm der Nationalpark-Besucher in Balance zu halten, wird schwieriger, wenn die Zahl der Reisenden steigt wie in den vergangenen Jahren.
Schon jetzt werben Reiseanbieter, der Winter sei die geheime Saison, um Yellowstone zu erleben. Noch ist die Anzahl der Gruppen, die mit Motorschlitten für einen Tag in den Park kommen, begrenzt – aber es ist eben auch nicht mehr ganz verboten. Dabei entspricht Schneeschuhwandern viel eher dem Puls des Parks.
„Das ist ein Gebiet, um den Schnee zu untersuchen. Vielleicht fragt ihr euch woher ich das weiß“, sagt Jossie. Es steht auf einem Schild das sie mit ihrer Gruppe erreicht hat. Unter dem pulvrigen Schnee liegen Platten aus Gummi, die innen mit einer Flüssigkeit gefüllt sind, ein Messgerät. Damit lässt sich sagen, wie viel Schnee gefallen ist oder wie viel taut.
Signale des Klimawandels im Park
All die Daten sind notwendig, um langfristige Trends herauszufinden, erklärt die Geologin Ann Rodman.
„Die Leute sind leicht gefangen von dem, was sie dieses Jahr sehen, denn das betrifft sie. Aber es geht wirklich um den langfristigen Trend über 30 Jahre. Denn wenn man sich Wetterdaten anschaut, dann ist jedes Jahr anders als das Jahr zuvor“, erklärt sie.
Das Gespräch mit Ann Rodman geht über Schneearten, die unterschiedlichen Wassermengen, die sie halten, Klimakarten, verschobene Jahreszeiten, Stichtage und die Signale des Klimawandels im Park. Eine Karte, die sich langsam verändert, zeigt die Schneedecke in höheren Lagen.
„Ich durchlaufe das im Zeitraffer, das ist näher an der heutigen Zeit. Das ist eine Voraussage für die Zukunft: der rapide Wandel, der am Ende des Jahrhunderts erwartet wird. Man erwartet, dass die höher gelegenen Gebiete innerhalb des Parks dann keine vom Schnee dominierten Gebiete mehr sind“, sagt sie.
Damit würde dann der Speicher fehlen, der die weit unten gelegenen Gebiete, Flüsse und Seen von Frühjahr bis Sommer mit Schmelzwasser versorgt. Es würde die Ökologie dramatisch verändern. Und es bringt den Park schon jetzt unter Zugzwang.
„Es braucht Entscheidungen. Überwiegend hatten wir die Natur sich selbst überlassen. Aber wir werden das überdenken müssen, wenn zum Beispiel die Wahrscheinlichkeit von Waldbränden immer größer und größer wird“, sagt sie.
„Welche Orte wollen wir dann als ursprünglich bewahren und das Feuer nicht kontrollieren, jedes Mal wenn es durchzieht?“
Wird die Wildnis überleben?
Den Rahmen der Entscheidung bildet „RAD – resist, accept, direct“. Das heißt übersetzt: Entweder werden die Ranger und Wissenschaftler weiter versuchen, die Veränderung des Habitats aufzuhalten. Mitunter ergebe das Sinn, sagt Rodman.
Oder man akzeptiert, dass einige Dinge sich verändern, und lässt es geschehen. Die dritte Variante: Der Nationalpark entscheidet, welche Veränderungen am günstigsten für das ökologische System wären und versucht, die Entwicklung in diese Richtung zu lenken. Aber kann Wildnis dann überhaupt als Wildnis überleben?
Die Geschichte des Yellowstone Parks wirkt wie ein großes Labor. Der immer neue Versuch, 9000 Quadratkilometer ursprüngliche Wildnis zu erhalten – und das nicht nur als Freizeitpark zur Freude der Besucher. Sondern auch als das von der UNESCO erklärte Biosphärenreservat zum Wohl von Natur und Tieren. Das wäre das beste Geschenk für alle – zum 150. Geburtstag des ältesten Nationalparks der Welt.