Content ist nichts, Kontext ist alles
Dass Poesie äußerst lebendig ist, beweisen auf dem Poesiefestival Berlin volle Ränge auch bis zum späten Abend und eine Vielfalt an Performances, Lesungen, Rap-Einlagen und poetisch-filmischen Installationen. Vor allem zeigt sich: Poesie heute ist mehr als das "klassische" Gedicht.
Mehr performt als gelesen, mehr gehechelt als gesprochen. Der Bretone Christian Prigent schleudert dem Publikum mit seiner "Liste des langues que je parle" gleich zum Auftakt die wichtigste Erkenntnis des Festivals entgegen: Jede Form der Sprachverwendung ist Poesie, allein auf den Kontext kommt es an.
Bei der "Nacht der Poesie" verschlägt es den rund 1000 Zuhörern und selbst den Performern die Sprache. Als einer der wenigen verlässt sich Reiner Kunze auf die Wirkung des langsam gesprochenen Wortes.
"Vers zur Jahrtausendwende"
Der heute 81-jährige ehemalige DDR-Dissident, den die Staatssicherheit aus Angst vor der Macht seiner Worte unter dem Decknamen "Lyrik" überwachte, setzt mit seinen bedächtigen Kurzgedichten den Kontrapunkt.
"Wir haben immer eine Wahl.
Und sei es, uns denen nicht zu beugen,
die sie uns nahmen."
Und sei es, uns denen nicht zu beugen,
die sie uns nahmen."
Poetischer Taumel
Das überbordende Spektrum stürzte das Publikum schon am Eröffnungsabend in eine Art poetischen Taumel. Das Kapital der Poesie: schier unerschöpflich, grenzenlos, sehr laut, sehr leise, analog und digital und vor allem: äußerst widersprüchlich.
Peer Trilcke: "Auf der einen Seite kann ich intuitiv nachvollziehen, dass heute sehr unterschiedliche Formen, Formate und Praktiken als dichterisch, als poetisch bezeichnet werden. Dass es zum Beispiel neben dem gedruckten Gedichtband eine Poesie der Performance, eine Poesie des Tweets gibt. Dass es Algorithmus-basierte Dichtung gibt. Auf der anderen Seite aber kann ich das alles nicht mehr unter einen Hut bringen. Der Begriff der Dichtung zerfällt mir."
Bekannte der Göttinger Dichter und Blogger Peer Trilcke. Aber wozu braucht man eigentlich einengende Begriffe?
Kenneth Goldsmith: "We skim, parse, bookmark, copy, paste, forward, share and spam. Reading is the last thing we do with language."
Wir schöpfen ab, zergliedern, bookmarken, kopieren, fügen ein, teilen und schmeißen weg. Lesen ist das Letzte, was wir mit Sprache tun, sagt der US-amerikanische Lyriker Kenneth Goldsmith, der sein "uncreative writing", sein "unkreatives Schreiben" bereits bei den Obamas im Weißen Haus vortragen durfte.
"Auslöschung von Inhalt"
Goldsmith: "Wenn Sie Kunst nicht in der Absicht machen, dass sie kopiert wird, machen sie keine Kunst des 21. Jahrhunderts. Das Internet zerstört die Literatur, und das ist gut so. Zeitgenössisches Schreiben bedeutet die Auslöschung von Inhalt. Die Zukunft des Schreibens ist die Verwaltung von Leere. Die Zukunft des Schreibens ist, nicht zu schreiben."
Stocksteif in breit gestreiftem Anzug und mit todernster Miene sitzt Goldsmith auf der leeren Bühne und das überwiegend junge Publikum aus der Kreativbranche sitzt andächtig da und staunt. Überhaupt dominieren die rund 30-Jährigen sowohl auf der Bühne als auch im Publikum. Sicher auch, weil das Festival noch experimenteller und wilder klingt als in den Vorjahren.
Content ist nichts, Kontext ist alles. In punkig-alternativer Bühnen-Pose irgendwo zwischen Nico und Kim Gordon kombiniert die deutsch-britische Musikerin Annika Henderson Dub-Rhythmen mit vieldeutigen Versassoziationen.
Ganz offensichtlich kehrt die moderne Dichtung auf dem Berliner Poesiefestival zu ihren Ursprüngen zurück: auf den Vortrag vor Publikum, auf den Auftritt des Dichtenden und auf die unmittelbare, situative Wirkung der Verse kommt es an.