"Geburtshelferin der abstrakten Kunst"
Heute feiert die Fotografie den 175. Geburtstag: Der Historiker Gerhard Paul erinnert anlässlich des Jubiläums an Fotos, die Geschichte gemacht haben - und erläutert, was die Entstehung der abstrakten Malerei mit der Erfindung des Fotoapparates zu tun hat.
Dieter Kassel: Heute feiert die Welt den 175. Geburtstag der Fotografie. Wobei natürlich, wie bei all diesen Erfindungen das ein bisschen willkürlich ist, wie man den Tag festgelegt hat. Im Grunde genommen gibt es auch mindestens drei, möglicherweise mehr Männer, denen man zugestehen müsste, die Fotografie erfunden zu haben.
Geeinigt hat man sich aber auf den 19. August 1839 als Geburtsdatum, weil damals in der Akademie der Wissenschaften in Paris das Daguerre-Verfahren vorgestellt wurde in all seinen Einzelheiten und anschließend Frankreich diese französische Erfindung der Welt zum Geschenk machte.
Deshalb ist nun heute der Geburtstag der Fotografie, und deshalb reden wir heute mit Gerhard Paul, Historiker an der Universität Flensburg mit den Spezialgebieten Medialität und auch Visualität der Geschichte.
Schönen guten Morgen!
Gerhard Paul: Guten Morgen!
Kassel: Man weiß heute, dass der Satz "Bilder lügen nicht" längst nicht mehr stimmt. Aber hat er je gestimmt? Haben Bilder vor 175 Jahren die Wahrheit erzählt?
Paul: Die Bilder haben die Wahrheit erzählt. Wir reden von der Fotografie, und die Fotografie ist immer ein Ausschnitt gewesen, ein Ausschnitt von Realität. Und dieser Ausschnitt ist natürlich subjektiv geprägt. Der Fotograf hat überlegt, was fotografiert er von Realität, von daher ist in die Fotografie immer schon diese subjektive Auswahl im Grunde eingebrannt.
Aber lassen Sie mich noch etwas zu Ihrer Anmoderation sagen. Ganz typisch: Die Medien feiern den Medienevent. Es ist nichts anderes gewesen als das, was heute vor 175 Jahren passiert ist. Die Fotografie gibt es länger. Die ersten Fotografien von Daguerre resultieren aus den Jahren vorher. Wie gesagt, man hat sich geeinigt auf den Medienevent - finde ich ganz spannend.
Kassel: Von dem es keine Fotos gibt, oder doch?
Paul: So weit ich weiß, gibt es davon keine Fotos.
Kassel: Was natürlich schon wieder interessant ist bei gerade diesem Medienevent. Sie haben mich ja fast ein ganz kleines bisschen vorhin schon korrigiert, weil ich halt von Bildern gesprochen habe, und das ist natürlich entscheidend gerade für diese Zeit, der Unterschied von gemalten Bildern und Fotografie. Gab es da durch die Erfindung der Fotografie so eine Art Übergangsphase?
Das 20. Jahrhundert maßgeblich geprägt
Paul: Nein, das kann man so nicht sagen. Die Fotografie hat zwar sehr schnell auch die Maler fasziniert, die sich zusammengetan haben und sehr früh überlegt haben, was bedeutet das eigentlich für unsere Kunst. Und es hat nicht wenige Maler gegeben, die ihren Job an den Nagel gehängt haben und Fotografen geworden sind. Viele haben gedacht, die naturalistische Darstellungsweise des 19. Jahrhunderts ist dahin, die Fotografie kann das alles viel besser.
Das hat aber zu einem interessanten Effekt geführt. Vielleicht etwas später, 30, 40 Jahre oder 50 Jahre später, dass man sich wieder auf die genuinen Mittel der Malerei besonnen hat, also auf die Farbe, auf die Form. Im Grunde kann man sagen, ist die Fotografie ein Stück weit auch die Geburtshelferin der abstrakten Kunst, die das 20. Jahrhundert ja maßgeblich geprägt hat.
Kassel: Wann begann denn in der Fotografie eigentlich die Zeit, als Fotos Geschichte schreiben konnten, was ja sicherlich auch einer Voraussetzung bedurfte, nämlich der Reproduzierbarkeit?
Paul: Richtig. Die Reproduzierbarkeit, die gibt es im Grunde erst seit den 70er-Jahren des 19. Jahrhunderts. Das sind aber einzelne Zeitungen gewesen, das sind Großstadtzeitungen gewesen, in New York, in Paris, in Berlin. Auf das Land, hier zu mir nach Flensburg, hat das überhaupt nicht ausgestrahlt.
Die Fotografien kamen in die Zeitung im Grunde erst, in die Tageszeitung erst nach dem Ersten Weltkrieg. Und seit dieser Zeit können wir überhaupt davon reden, dass auch politische Ereignisse per Fotografie an die Rezipienten, an die Leser von Zeitungen und von Magazinen kamen. Im Grunde - Fotografie, die Geschichte gemacht hat - eigentlich können wir davon erst seit den 30er-Jahren, vielleicht sogar seit dem Dritten Reich sprechen. Da bildeten sich auch dann so die ersten Medienikonen heraus, die aus dieser Bilderflut herausragten.
In den 20er-Jahren war das - das ist keine Fotografie, die Geschichte gemacht hat, aber eine Fotografie, die interkulturell bekannt war, die in den USA genau so bekannt war wie in Frankreich oder in Berlin, dieses wunderbare Foto von der Bananenrocktänzerin, die viele ja im Kopf haben, von Josephine Baker - das ist vielleicht so die erste Ikone. Die zweite Ikone dann, eine Unglücksikone in den 30er-Jahren, vor allen Dingen, weil es ein Schnappschuss einer Katastrophe war, der Zeppelin "Hindenburg", der 1936 in Lakehurst explodiert ist. Da waren viele Fotografen dabei, die das festgehalten haben. Übrigens auch die erste Farbreportage einer Katastrophe, die in einer Zeitung erschien.
Kassel: Wann begannen denn Fotografien auch zu Werkzeugen der Propaganda und durchaus auch zu Werkzeugen der Täuschung zu werden?
Durch Retuschierpinsel nachgeholfen
Paul: Das ist recht früh. Das geht im Grunde schon in den 70er-Jahren des 19. Jahrhunderts los. Man hat eigentlich schon unmittelbar nach der Fotografie, nach der Erfindung der Fotografie entdeckt, dass man Fotografien auch verändern kann. Man muss sich das vorstellen, das waren ja zwar technisch höchst ausgefeilte Verfahren, aber es kamen immer Fehler vor. Die Abbildungen waren nicht perfekt.
Man hat der Perfektion durch die Retuschierpinsel nachgeholfen. Und dieser Retuschierpinsel ist dann im Grunde auch das Medium gewesen, durch das Fotografien verändert worden sind. Und in politischen Auseinandersetzungen, soweit mir das bekannt ist, ist es eigentlich das erste Mal im deutsch-französischen Krieg beziehungsweise zur Zeit der Pariser Commune 1871, wo sowohl Bilder inszeniert worden sind für den Fotografen, um damit Politik zu machen, als auch Bilder retuschiert worden sind, um eine gewünschte Aussage zu erzielen. Und das geht dann mit Geschwindigkeit weiter.
Im Ersten Weltkrieg ist beispielsweise eine Fotografie, die uns heute im Kopf herumschwirrt, eine wirklich authentische Abbildung vom Geschehen. Die meisten Fotografien sind gestellt, sind vor dem Krieg aufgenommen worden oder sind eben für die Zeitung auch bereits retuschiert worden.
Kassel: Springen wir viele, viele Jahrzehnte zur Digitalisierung. Hat das eigentlich, diese Möglichkeit, ganz billig hundert Fotos in der Minute zu machen, hat das eigentlich das einzelne Foto völlig entwertet?
Das Foto wird zur Rechenoperation
Paul: Die Frage ist, ob überhaupt das, was wir im digitalen Zeitalter haben, ob wir das noch als Bild betrachten können. Es ist ja im Grunde eine Rechenoperation. Es ist ja nicht mehr die Abbildung wie bei Daguerre. Bei Daguerre brannte sich im empathischen Sinne noch die Realität auf die Platte ein.
Heute, das, was wir am Computer sehen, das sind Rechenoperationen, die visualisiert werden. Das sind ja keine direkten Abbildungen mehr. Man merkt es am ehesten oft in den Farben. Die Farben sind mitunter sehr verändert, die Computer untereinander kommunizieren, verändern Farbe, et cetera. Und das hat natürlich möglich gemacht, dass auch die Bilder, dass man in diesen Rechenvorgang eingreifen kann und heute nicht mehr den Retuschierpinsel braucht, sondern durch eine Rechenoperation ein Bild auch verändern kann.
Also, die Veränderbarkeit durch Photoshop - jeder macht das tagtäglich mit seinen privaten Fotos, die er eventuell verschickt - die Möglichkeit, Bilder zu verändern, ist deutlich gestiegen, und damit ist auch ein Stück weit die Fotografie als Abbildung von Realität entwertet worden.
Kassel: Sagt der Historiker Gerhard Paul von der Universität Flensburg zum heutigen 175. Geburtstag der Fotografie, wenn man zumindest eine Medieninszenierung als Anlass für diesen Geburtstag nimmt. Das haben wir ja unter anderem auch geklärt.
Ich danke Ihnen sehr für das Gespräch, Herr Paul!
Paul: Bitte schön!
Kassel: Tschüs nach Flensburg!
Paul: Tschüs!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.