Die Lust am Reisen in Gedanken
Er unternahm fiktive Reisen an reale und imaginäre Orte, reiste als Old Shatterhand nach Nordamerika und als Kara Ben Nemsi in den Orient: Der Erfolg von Karl Mays Romanen lag in der Kombination von real Möglichem mit Imaginärem und starken Charakteren, sagt der Literaturwissenschaftler Werner Nell.
Er unternahm fiktive Reisen an reale und imaginäre Orte, reiste als Old Shatterhand nach Nordamerika und als Kara Ben Nemsi in den Orient – und prägte die Fantasien seiner Leser über ferne Länder: Heute vor 175 Jahren wurde Karl Friedrich May im sächsischen Ernstthal geboren. Insgesamt 94 Werke hat er zwischen 1870 und 1912 verfasst. Bekanntlich ist der sächsische Schriftsteller (1842-1912) selbst nie gereist, bevor oder während er seine Reiseabenteuer verfasste.
Der Literaturprofessor Werner Nell würdigt Mays fiktive Reisen an erfundene Schauplätze als gelungene Kombination real denkbarer Möglichkeiten der damaligen Zeit mit Imaginärem und Fantastischem. Mays Reisegeschichten zu erfundenen Schauplätzen in Nord- und Südamerika, die arabische Welt und Asien erzählten dabei von real Möglichem und kombinierten den zeitgenössischen Eskapismus mit "Sensationsgeschichten der Zeit" und starken Charakteren." Er hat im Prinzip Kolportage-Romane geschrieben", sagte Nell im Deutschlandradio Kultur. "Kolportage nicht im abwertenden Sinn. Er hat Dinge zusammengetragen, die sonst weit auseinanderliegen."
Reale Möglichkeiten, Imaginäres und "starke Charaktere"
Der Professor für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Halle-Wittenberg erklärt die Begeisterung, die Karl Mays Abenteuer auf ihre Leser ausgeübt hat und den riesigen Erfolg seiner Reiseromane mit geschickter Verknüpfung mehrere Elemente. Dabei verschmelze die zeitgenössischen Faszination für das Reisen mit neu entstandenen realen Möglichkeiten, etwa durch den Bau der Eisenbahnen, mit Imaginärem und Fantastischem und gelungenen Charakteren. So sei es May gelungen, "zum Teil sehr liebevoll gezeichnete Charaktere, auf der anderen Seite auch teils humoristisch gezeichnete, teils abseitige Bösewichte zu schaffen." Mit der Entstehung der Jugend als eigener Kategorie, als eigene Phase des Übergangs, böten die Romanhelden gerade dieser Gruppe die Möglichkeit eines faszinierenden Bildungsganges:
"Dieses Greenhorn der Old-Shatterhand- und Winnetou-Romane, das anfangs in die USA kommt und zu einem Mann wird, zu einem Helden wird, auch moralisch gefestigten Menschen wird, ist ein Faszinosum."
"Alles glatt gelogen" - schmälerte nicht den Erfolg
May habe sich auch erfolgreich auf Vorlagen aus dem französischen, englischen und amerikanischen Kolonialroman bezogen. Seine Romane seien zwar von vielen Zeitgenossen beispielsweise in Zeitschriften bereits als Fiktion kritisiert worden:
"Es sind ganze Dossiers erstellt worden von Autoren, die ihm nachweisen wollten, er hat das nicht erlebt. Die Reisen sind im Prinzip ganz fiktiv. Das ist glatt gelogen."
Allerdings könne bekanntermaßen aber auch eine negative Presse im Sinne einer Sensationsberichterstattung durchaus "nicht den Erfolg eines solchen Werkes schmälern, sondern vielmehr auch dazu beitragen, dass es weiter diskutiert und weiter gelesen wird," sagte Nell, in dessen "Atlas der fiktiven Orte. Eine Entdeckungsreise zu erfundenen Schauplätzen" (2011) sich neben vielen anderen fantastischen Orten aus der Weltliteratur auch das Karl May'schen Ardistan findet, ein wichtiger fiktiver Ort in Mays Spätwerk.
Das Interview im Wortlaut:
Ute Welty: Er hat den edelsten aller Indianer erfunden und den eifrigsten aller muslimischen Pilger. Zwischen Winnetou und Hadschi Halef-Omar schickte Karl May uns aber auch auf Weltreise, ohne jedoch selbst zu reisen. Ja, mehr noch, die ersten Reiseromane schrieb May, als er im Gefängnis saß. Eine Tatsache, die auch Werner Nell fasziniert hat. Für seinen "Atlas der fiktiven Orte" hat sich der Literaturwissenschaftler intensiv auch mit Karl May beschäftigt, der heute vor 175 Jahren geboren wurde. Guten Morgen, Herr Nell!
Werner Nell: Guten Morgen, Frau Welty!
Welty: Haben Sie einen Lieblingsort im Werk von Karl May?
Nell: Einen Lieblingsort? Na, es gibt verschiedene. Sie haben es ja angesprochen gehabt, es gibt die Reiseberichte, die in den wilden Westen geführt haben, in die arabische Welt, nach Asien auch und nach Südamerika. Und wenn ich jetzt an einen Lieblingsort mich erinnere, der mich am ehesten fasziniert hat, darüber nachdenke, dann sind das eigentlich die beiden Romane, die am Rio de la Plata spielen, also in Südamerika, in Argentinien. Und da gibt es in einem, also im ersten Roman am Rio de la Plata, da gibt es weit im Urwald drin, man könnte sagen eine Art Steinblock, und innerhalb dieses Steinblocks wiederum gibt es eine Art Schloss und eine kleine Landschaft, einen utopischen Ort, könnte man vielleicht sogar sagen, im Kleinen. Das hat mich sehr fasziniert als Leser natürlich in einer Zeit, als ich als Kind und als Jugendlicher das gelesen habe.
Welty: Wie hat es Karl May geschafft, seine Leser mit auf diese imaginäre Reise mitzunehmen? Was war sein Erfolgsrezept, das ja offensichtlich bei Ihnen bis heute nachwirkt? Denn Sie haben das ja eben auch beschrieben.
"Er schreibt Geschichten in einer Welt, in der es technisch gesehen möglich gewesen wäre, dass jemand solche Reisen gemacht hat"
Nell: Ich habe darüber nachgedacht, also auch im Vorfeld dieses Gesprächs, das wir jetzt führen, und ich glaube, es sind zwei Punkte, die man da ansprechen kann. Das eine ist, er hat im Prinzip Kolportageromane geschrieben, und zwar Kolportage nicht in einem ganz abwertenden Sinn, sondern ganz einfach in dem Sinne, als dass eben Dinge zusammengetragen wurden und werden, die ansonsten, man könnte vielleicht sagen, eher weit auseinander liegen. Also eine Faszination für das Reisen, zeitgenössische Sensationsgeschichten – es ist die Zeit Ende des 19. Jahrhunderts, in der weltweit Eisenbahnbau stattfindet, in der eben die Möglichkeit des Reisens überhaupt so auf den Weg gebracht wird natürlich. Noch hundert Jahre oder vielleicht sogar 50 Jahre früher hätte man gesagt, es ist unmöglich, dass jemand diese Reisen tatsächlich alle gemacht hat. Karl May hat sie ja auch nicht gemacht, aber er schreibt eben diese Geschichten in einer Welt, in der es technisch gesehen möglich gewesen wäre, dass jemand solche Reisen gemacht hat. Und das zusammenzuziehen, also diesen Eskapismus, die Sensationsgeschichten der Zeit und eben dann entsprechend auch noch starke Charaktere aufzubauen. Zum Teil sehr liebevoll gezeichnete Charaktere, auf der anderen Seite aber dann entsprechend auch teils humoristisch gezeichnet, teils ganz abseitig gezeigte Bösewichte zu schaffen, das ist ein weiterer Faktor. Das wäre die eine Seite. Der zweite Faktor, von dem ich, glaube ich, ausgehen muss: Es ist die Zeit, in der der Soziologe Max Weber, die Moderne als das eiserne Gehäuse, als einen Käfig diagnostizierte. Und der Anspruch des Publikums, auch eines dann eben, eines Publikums, das lesen kann und sich eben über die Welt Gedanken machen kann, auch Informationen hat, besteht darin, über die Grenzen hinaus dieses eisernen Gehäuses zu kommen.
Welty: Also ein doppelter Eskapismus?
Nell: Das hat Karl May angeboten.
Welty: Inwieweit war er typisch für die Literaten seiner Zeit. Sie haben eben gesagt, es war ja theoretisch schon möglich zu reisen, aber Reisen war sehr anstrengend, aufwendig, wahrscheinlich auch sehr teuer?
Realistische Perspektive, Imaginäres und Fantastisches
Nell: Das ist eben die Frage, wie man reist. Karl May selbst schreibt das ja auch so zusammen, dass er im Prinzip mit den Frachtschiffen unterwegs ist zunächst einmal, also da, wo er sozusagen seine autobiografisch gezeichneten Figuren hat, und dann erst sich sozusagen leisten kann, größere Reisen zu machen. In den späteren Romanen ist es anders. Da ist es dann entsprechend auch so, dass Adelsfamilien oder reiche Bürgergesellschaften so was finanzieren oder eben auch die Reisenden selbst gut gestellt sind. Das heißt, da gibt es verschiedene Möglichkeiten, die aber alle, man könnte eben sagen, so etwas wie realistische Perspektiven enthalten und mit sehr imaginären und sehr fantastischen Dingen dann zusammenziehen. Und er ist nicht der einzige, der in dieser Zeit Reiseromane schreibt. Er hat ja auch Vorlagen gehabt, Gabriel Ferry beispielsweise , der eben den "Waldläufer" geschrieben hat, das war dann etwas, was Karl May mehr oder weniger abgeschrieben hat beziehungsweise umgestaltet hat. Es gibt in der französischen Literatur den Kolonialroman, den gibt es in der englischen Literatur als Joseph Conrad, wenn man mal einen Namen nennen will dazu. Das haben Sie in der amerikanischen Literatur mit den "Leatherstocking Tales", also mit James Fenimore Cooper, "Die Erschließung des Westens". Das ist schon im Prinzip ein Genre, das europaweit und auch darüber hinaus dann eben bis nach Nordamerika hinaus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine große Rolle spielt, und da nimmt er teil.
Welty: War den Lesern denn damals eigentlich klar, dass es um fiktive und nicht um reale Orte ging? Oder war das überhaupt gar nicht wichtig?
Das Publikum ist geteilt
Nell: Ich glaube, da muss man sehen, es gibt verschiedene Lesergruppen. Karl Mays Leben, auch sein Schreiben, auch sein Erfolg ist ja eben auch davon begleitet gewesen, dass er mit Prozessen verfolgt wurde, dass es Kampagnen in Zeitschriften gegen ihn gab, dass ganze Dossiers erstellt wurden von Autoren, die ihm nachweisen wollten, er hat das nicht erlebt, die Reisen sind im Prinzip ganz fiktiv, das ist glatt gelogen, das ist abgeschrieben und so weiter. Das heißt, das Publikum ist schon irgendwie auch geteilt. Allerdings wissen wir eben auch, dass auch eine negative Presse und eine entsprechende Sensationsberichterstattung über Lügen, wenn man jetzt mal was Aktuelles sagen will, durchaus nicht den Erfolg eines solchen Werkes schmälern müssen, sondern im Gegenteil dazu beitragen, dass weiter diskutiert wird, auch weiter gelesen wird. Und was man eben sagen muss, ist auch noch, die Zeit, in der – jetzt mal etwas pointiert gesagt – die Jugend als eigene Kategorie, als eine eigene Art quasi des Übergangs, als eine Art Generationsgestalt erfunden wird, ein bisschen überspitzt gesagt, und er zeigt eben für Jugendliche insbesondere diese Möglichkeit des, na sagen wir, des Bildungsganges. Und diese Rolle, dass eben dann dieses Greenhorn, das am Anfang der Old-Shatterhand-Romane oder eben der Winnetou-Romane dann in die USA kommt und dann eben auch zu einem Mann wird, zu einem Helden wird, zu einem auch moralisch gefestigten Menschen wird, das ist ein Faszinosum, das eben entsprechend dann auch die Leserinnen und Leser fasziniert hat.
Welty: Der Literaturwissenschaftler Werner Nell über fiktive Orte beim realen Karl May, der heute vor 175 Jahren geboren wurde. Haben Sie sehr herzlichen Dank für dieses Gespräch!
Nell: Gern geschehen, vielen Dank!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.