Sachbücher zum Jahr 1923

Krisen und Aufruhr vor 100 Jahren

13:32 Minuten
Französische Soldaten in Essen bei der Besetzung des Ruhrgebiets durch französische Truppen. Links hält ein Soldat ein Pferd, andere Soldaten gehen in der Straße umher, ganz rechts steht ein Fotograf mit seiner aufgebauten Kamera.
Besetzung von Essen durch französische Soldaten am 11. Januar 1923. Die "Ruhrkrise" war die erste von zahlreichen Krisen in dem Jahr. © picture-alliance / brandstaetter images / Austrian Archives (S) / Anonym
Von Florian Felix Weyh · 05.01.2023
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1923 ist ein Jahr, das nicht in großem Umfang in die Schulbücher eingegangen ist. Es verkörpert aber einen Krisenhöhepunkt in der jungen Weimarer Republik. 100 Jahre später gibt es eine ganze Reihe Bücher zu dem Jahr – und hier den Überblick dazu.
Die erste Krise im Krisenjahr ist gleich im Januar, bis Dezember kommt viel dazu: Es beginnt also mit der Besetzung des Ruhrgebiets durch Frankreich und Belgien, um Reparationszahlungen zu sichern. Der teure und durch Gelddrucken finanzierte Widerstand der Reichsregierung in Berlin dagegen verwandelt die schon vorhandene Inflation in eine Hyperinflation.
Kabinette unterschiedlicher Parteienkonstellationen wechseln sich ab. In Sachsen bildet sich eine Volksfront-Regierung aus SPD und KPD, die Berlin mithilfe der Reichswehr gewaltsam absetzt. In Bayern verhängt der „Generalstaatskommissar“ mit diktatorischen Vollmachten Gustav von Kahr den Ausnahmezustand, wogegen sich Berlin aus Angst vor Befehlsverweigerungen nicht vorzugehen traut („Reichswehr schießt nicht auf Reichswehr.“).
Der Münchner Hitler-Putsch im November scheitert dennoch an genau diesem weit rechts stehenden Gustav von Kahr. Im Rheinland und in der Pfalz existieren Separatistenbewegungen.
Gleichzeitig erblüht die von allen wilhelminischen Zwängen befreite Kultur in Theater, Literatur, Malerei. Grund genug für viele Verlage, dieses Jahr zum Thema eines Sachbuchs zu machen. Gemeinsam ist allen Büchern, dass sie – oft identisches – Bildmaterial aus der Zeit enthalten. Die Großwetterlage wird natürlich überall aufgegriffen, sechs der hier vorgestellten gehen bei einem Thema in die Tiefe.

Christian Bommarius: „Im Rausch des Aufruhrs. Deutschland 1923"
dtv, München 2022
344 Seiten, 24 Euro

Der Sieger im Veröffentlichungswettlauf: schon neun Monate vor dem Stichtag auf dem Markt. Versierter Autor mit Jahrgangsbuch-Erfahrung („1949“). Zwölf Monate in zwölf Kapiteln, gut lesbar und anekdotenreich erzählt. Im Anhang Kurzbiografien der wichtigsten Personen. Small Talk taugliche Einstiegslektüre. Ein Detail, das anderswo fehlt: die Berufung der ersten deutschen Professorin (Margarete von Wrangell, Lehrstuhl für Pflanzenernährung).

Volker Ullrich: „Deutschland 1923. Das Jahr am Abgrund"
C.H. Beck, München 2022
442 Seiten, 28 Euro

Ein Versuch des Ex-Geschichtsredakteurs der "Zeit", „das verwickelte Knäuel der Krisenphänomene zu entwirren“. Gegliedert in Themenfelder wie Ruhrkampf, Inflation, „Ruf nach Diktatur“. Stark analytisch, schwach anekdotisch, unaufgeregter Stil. Im Schlusskapitel Ausblick auf die Entwicklung in den nachfolgenden Jahren. Solider Allrounder für Interessierte.

Ein Detail, das anderswo fehlt: erste Wahlberichterstattung im Radio (allerdings erst 1924).

Jutta Hoffritz: „Totentanz. 1923 und seine Folgen"
HarperCollins, Hamburg 2022
336 Seiten, 23 Euro

Atemlos im Twitter-Stil geschrieben, bis zu zwölf Leerzeilen auf einer Seite. Unterteilt in Monate, schildert die Autorin das historische Geschehen am Beispiel von Zeitgenossen wie Käthe Kollwitz oder Anita Berber. Viel Kultur, weniger politische Analyse, dargeboten als schnell drehendes Karussell. Schwindelgefahr bei der Lektüre!

Ein Detail, das anderswo fehlt: Der Industrielle Hugo Stinnes war nicht nur als Inflationskönig bekannt, er liebte auch Rindfleisch mit Meerrettich.

Peter Longerich: „Außer Kontrolle. Deutschland 1923"
Molden, Wien 2022
320 Seiten, 33 Euro


Tiefgehende Analyse eines Geschichtsprofessors mit dem Ziel, die „Beherrschbarkeit komplexer Krisen“ zu ergründen. Nicht chronologisch, mit zusätzlichen Informationen über die Vorjahre. Nachvollziehbare Erklärung der Hyperinflation. Auch Blick über die Grenze hinweg nach Österreich. Umfangreicher Quellenapparat, dennoch verständlicher Stil – eine gute Wahl.

Ein Detail, das anderswo fehlt: Touristen in Berlin nannte man „Valutahyänen“.

Mark Jones: „1923. Ein deutsches Trauma"
Übersetzt von Norbert Juraschitz
Propyläen, Berlin 2022
384 Seiten, 26 Euro


Einziges Buch eines ausländischen Historikers über das deutsche Jahr 1923. Fokus auf die Ruhrbesetzung. Sehr kritisch gegenüber der französischen Besetzungspolitik. Äußerlich nach Monaten gegliedert, inhaltlich jedoch kapitelweise ein Schwerpunktthema (Mai = sexuelle Gewalt im Ruhrkampf). Geeignet als Ergänzungslektüre zu Ullrich oder Longerich.

Ein Detail, das anderswo fehlt: die Bewertung von 1923 als „geglücktes Jahr in der deutschen Demokratiegeschichte“.

Peter Süß: „1923. Endstation – Alles einsteigen!"
Berenberg, Berlin 2022
336 Seiten, 28 Euro


Hier regiert der flapsige Tonfall. Ein Bilderbogen, eine Revue, eine Illustrierte – oder eine „monthly soap“ aus historischem Material? Der vom Fernsehen kommende Autor huldigt dem Prinzip der anekdotischen Relevanz. Viel Kultur und Society, wenig Wirtschaft und Politik. Für alle, die pralle Unterhaltung suchen.

Ein Detail, das anderswo fehlt: Philosoph Carl Schmitt „mampft Unmengen von Pralinen, vorzugsweise vor dem Schlafengehen".

Nicolai Hannig, Detlev Mares (Hg.): „Krise! Wie 1923 die Welt erschütterte"
wbg academic, Darmstadt 2022
240 Seiten, 40 Euro


14 über Deutschland hinausreichende Aufsätze zu 1923: Das große Erdbeben in Japan, der griechisch-türkische Gebietskonflikt, Mussolinis Italien – sogar die Ukraine kommt vor. Ein Reader mit vertieftem Wissen und Spuren eines beginnenden Historikerstreits (gegen die deutschfreundliche Haltung von Mark Jones).

Ein Detail, das anderswo fehlt: Im Ruhrgebiet gab es „die seit Jahrzehnten beste Ernte in den Kleingärten“.

Karl Heinrich Pohl: „Sachsen 1923. Das linksrepublikanische Projekt – eine vertane Chance für die Weimarer Demokratie?
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2022
308 Seiten, 45 Euro


Ein Historiker ordnet die sächsische SPD-KPD-Regierung als „linksrepublikanisches Projekt“ ein. Problematisch: Die KPD wollte nie eine Republik (was der Autor einräumt). Sehr detaillierte Darstellung der sächsischen Geschehnisse. Würdigung der Regierungserfolge in der Schulpolitik und beim Arbeitsschutz.

Ein Detail, das anderswo fehlt: Die „proletarischen Hundertschaften“ zur Verteidigung der Linkskoalition waren weitgehend unbewaffnet.

Werner Boschmann (Hrsg.): „Ruhrbesetzung 1923. Ein Jahr spricht für sich"
Henselowsky Boschmann, Bottrop 2022
208 Seiten, 19,80 Euro


Die Ruhrbesetzung in Originaldokumenten aus der Zeit: deutsche und französische Propagandabroschüren, Erinnerungen, Denkschriften, Ansichtskarten. Mentalitätsgeschichte aus erster Hand, weitgehend unkommentiert, aber mit sachlichen Erläuterungen versehen.

Ein Detail, das anderswo fehlt: Am „Dattelner Abendmahl“ nahmen verfeindete Deutsche und Franzosen gemeinsam teil.

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