1968 im schwäbischen Biberach

Aufruhr in der Provinz

Demonstrationen der APO gegen den Auftritt von Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger am 22. April 1968 auf dem Biberacher Marktplatz.
Demonstrationen der APO gegen den Auftritt von Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger am 22. April 1968 auf dem Biberacher Marktplatz. © Volkhart Müller/Museum Biberach
Von Frank Wiesner |
Studentenrevolte, lange Haare, laute Musik. Auch im schwäbischen Biberach sorgten die 68er für Unruhe. Der Besuch von Bundeskanzler Kiesinger eskaliert und Gymnasiasten müssen sich in einem Porno-Prozess verantworten. Die damals Beteilgten erzählen.
Die Stones – als musikalische Vorbilder der Rebellion durften sie damals auf keiner Party fehlen. Demonstrationen gegen den Vietnam-Krieg, Rudi Dutschke, der Tod von Martin Luther King – die Metropolen der Revolte waren weit weg, aber der Geist erfasste auch die Kleinstadt Biberach an der Riss. Demonstrationen und Sit Ins, unerhört bunte Moden, "Hippiemusik", rebellische Schülerzeitungen.
Claus-Wilhelm Hoffmann war damals Oberbürgermeister in Biberach, mit 35 Jahren der jüngste in Deutschland.
"Wir haben keine Universität und von daher auch keine Studenten. Bei uns waren es überwiegend Schüler, die sich engagiert haben. Und sinnvoller Weise auch engagiert haben. Das war etwas, was überfällig war, die 68er Bewegung."
Diese Haltung ist ungewöhnlich für einen CDU-Mann im konservativen Oberschwaben. Im März/April 1968 ist Wahlkampf in Baden-Württemberg. Die NPD tritt in der brechend vollen Gigelberghalle auf. Die Jugend hält das nicht mehr aus. Am 14. März gründen Eckard Leupolz und Martin Heilig eine eigene APO in Biberach. Martin Heilig ist heute 80 Jahre alt.
Dächer von Biberach an der Riß.
Revoluzzertum kam im beschaulichen Biberach nicht gut an.© imago stock&people
"Sie müssen sich das so vorstellen. Du wächst da am Kirchplatz auf und dann hast Du es mit alten Männern zu tun vom 1. Weltkrieg und die reagieren ihre üble Laune an uns ab, ihre Unzufriedenheit und schlagen auf uns spielende Kinder willkürlich ohne Grund ein."

"Maikäfer flieg" für Bundeskanzler Kiesinger

In den 60er Jahren passiert das öfter. Und dann kommt Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger zu einer Wahlkampfrede auf den Biberacher Marktplatz. Genau 11 Tage, nachdem ein NPD-Anhänger den Studentenführer Rudi Dutschke in Berlin niedergeschossen hatte. Straßenschlachten, Ausschreitungen gehören in diesen Tagen zum Alltag in Großstädten. Und in Biberach? "Maikäfer flieg" singt die örtliche APO bei Kiesingers Auftritt auf dem Marktplatz.
"Maikäfer flieg. In Vietnam ist Krieg. Der Völkermord geht weiter, wir Deutschen wählen weiter unsere CDU…. (Kiesinger am Mikrofon:) So. Nun aber habe ich genug. Ich bitte die Störer, wenn sie die Versammlung weiterhin auf diese Weise stören und die hier anwesenden Landsleute nicht dazu kommen lassen zu hören, was ich zu sagen habe, vom Platz zu entfernen."
Das lassen sich die Biberacher Bürger auf dem Marktplatz nicht zweimal sagen. Kiesinger verliert die Kontrolle, die Situation im Zentrum Biberachs eskaliert, hörbar auf Originalaufnahmen des Bayrischen Rundfunks:
"Nicht zuschlagen.. nicht zuschlagen.."
"Das hat mich so beeindruckt, dass ich meine Sekretärin mit dem Goldenen Buch wieder weggeschickt habe, weil ich nicht wollte, dass ein Bundeskanzler, der offen auf dem Marktplatz zu Gewalt aufrief, sich bei uns ins Goldene Buch einträgt", sagt der Biberacher Ex-OB Klaus-Wilhelm Hoffmann rückblickend.

"Durchstoßt das Sexualtabu"

Alsbald entbrannte im beschaulichen Biberach ein Kulturkampf. Die bis dato eher unauffällige, sogar durch Inserate finanzierte Schülerzeitung des Wieland-Gymnasiums "Funzel" war nach den Auffassungen der Biberacher APO zu angepasst an die herrschende Politik und die überkommenen, veralteten Moralvorstellungen der Erwachsenen in Biberach wie in Bonn. "Venceremos" wurde geboren, ein subversives Blatt - benannt nach einem chilenischen Kampflied: "Wir werden siegen".
Die zweite Ausgabe kostet 50 Pfennig für Schüler, 99 Pfennig Lehrer und 10 D-Mark für Oberstudiendirektoren. Es wird gewettert gegen Autoritäten, Lehrer Politiker und für freie Sexualität geworben.
"Durchstoßt das Sexualtabu" lautet der Titel der vierten Ausgabe. Auf der Titelseite ist ein riesiger Phallus gemalt. Die Macher hatten offenbar schon mit Schwierigkeiten gerechnet. Zum normalen Preis werden für Schüler nun 50 Pfennig für Rechtshilfe draufgeschlagen, Erwachsene müssen eine D-Mark Rechtshilfeaufschlag bezahlen, nur – Zitat - "impotente Pauker" bekommen das Blatt für 40 Pfennig.
Das Blatt erregt Aufmerksamkeit bis in den baden-württembergischen Landtag. NPD-Abgeordnete bezeichnen es als - Zitat - "pornographische Machwerk". Die katholische Kirche veröffentlicht eine Resolution. Ein Aufschrei der Entrüstung geht durch die ganze Stadt - und das halbe Land. Der Gemeinderat Biberach beschäftigt sich damit. Die Staatsanwaltschaft ermittelt, es kommt zu Hausdurchuchungen.
Kunsthistoriker Ulrich Weitz, damals Schüler am Wieland-Gymnasium und einer der Gründer von "Venceremos", erinnert sich: "Dann waren zwei Hausdurchsuchungen bei mir, war meine Mutter eher so emotional. Als die Hausdurchsuchung war, hat sie dann so 50 Vencermos-Hefte in dem Bett meiner kleinen Schwester versteckt. Ja."

Eine versteckte Schreibmaschine in Österreich

Gesucht hat die Polizei die Schreibmaschine, auf der "Venceromos" geschrieben wurde. 50 Jahre später ist sie in der Ausstellung über Biberach `68 zu sehen. Damals jedoch hatte Ulrich Weitz die Schreibmaschine längst in Österreich in einer Berghütte versteckt. Dort sind auch die Artikel entstanden.
Plakat zur Ausstellung "68" im Museum Biberach.
Plakat zur Ausstellung "68" im Museum Biberach.© Museum Biberach
Die Jugend steht am Pranger. Im Biberacher Porno-Prozess werden Schüler des Wieland-Gymnasiums für ihre Unmoral zur Verantwortung gezogen. Als in diesem Prozess allerdings Oberbürgermeister Claus-Wilhelm Hoffmann vor Gericht aussagt, dass die Gewalt am Tag der Kiesinger-Rede vom Biberacher Bürgertum ausging und nicht von den jungen Demonstranten, beruhigen sich die Gemüter.
Beliebt hat sich der OB beim Establishment mit seiner Haltung nicht gemacht. "Ich habe mich nie darum bemüht, Lob zu ernten mit dem was ich tue, sondern habe immer versucht, das Richtige zu tun. Das war nicht immer das, was in der Stadt oder auch darüber hinaus populär war. Es war mein Ziel, nie von einem geraden Weg abzugehen."

Mehr als ein Revoluzzer-Spiel in den Metropolen

Einer, der damals die Dinge beobachtet hat, ist der Ochsenhausener Jo Angele, vor allem mit seiner Kamera. Einige seiner Bilder sind in der Biberacher Ausstellung als Zeitdokumente zu sehen. Die 68er waren nicht umsonst, sagt er heute: "Ich denke schon, das hat einige aufgerüttelt. Irgendwie ist klar geworden, man muss etwas tun, wenn irgendwo etwas nicht richtig läuft. Da muss man dagegen steuern."
Dieser Gedanke war bis in die schwäbische Provinz durchgedrungen. Und die Unruhe dort war ein Indiz, dass die Revolte mehr war als nur ein Revoluzzer-Spiel in den Metropolen.

Eine Ausstellung im Museum Biberach dokumentiert die heiße Phase der 68er-Revolte in Biberach. Sie läuft noch bis zum 14. Oktober 2018.

Mehr zum Thema