1968 und die deutsche Literatur
1968 war auch ein Datum für die Kunst: An der Literatur zum Beispiel ging die Revolte nicht vorbei. Die Schriftsteller reagierten, mit neuen ästhetischen Ideen und Ansätzen. Ein Begriff stand dabei im Mittelpunkt: die Wirklichkeit! Sie galt es auch literarisch zu verändern.
"Die Aufstellung des 1. FC Nürnberg vom 27. Januar 1968: Wabra – Leupold – Popp – Ludwig Müller – Wernauer – Blankenburg – Starek – Strehl – Brungs – Heinz Müller – Volkert. Spielbeginn 15 Uhr."
Nein, Peter Handke war ganz bestimmt kein Street Fighting Man, kein Straßenkämpfer, auch kein rebellischer Student, doch sein Gedicht mit der Mannschaft des 1. FC Nürnberg atmet ganz den Geist der Zeit, in der es entstand. Poetische Lyrik, Stimmung, Gefühl? Von wegen! Fakten, Realität: "Nicht Literatur als Kunst, sondern Wirklichkeit" wird Günter Wallraff im Rückblick auf die 60er Jahre die Losung der Stunde zusammenfassen: Es ist das Jahrzehnt des Dokuments. Begonnen hat es mit Politik, der Erinnerung an die Vergangenheit, der mit Akten und Fakten belegte Schock des Holocaust.
Böttiger: "Man muss sich vorstellen, dass der Auschwitz-Prozess in den 60er Jahren in Frankfurt tatsächlich eine große Öffentlichkeitswirksamkeit hatte und dass dafür im Grunde keine literarischen Mittel zur Verfügung standen. Wenn man sich die Literatur vor Augen führt, die damals in den Lesebüchern stand, also Georg Britting, Albrecht Goes, Werner Bergengruen – das ist natürlich eine Literatur, die dafür gar keine Sprache hatte. Und der erste Gedanke, der naheliegend war, ist, die Dinge wirklich zu dokumentieren. Deswegen hatte Peter Weiss einen großen Erfolg, in dem er en Auschwitz-Prozess protokollarisch verwendete, und dann ging es: durch Fakten, durch Materialien vor Augen zu führen, was die Literatur bisher gar nicht im Blickfeld hatte."
Der Literaturkritiker Helmut Böttiger, der eine Geschichte der deutschen Literatur nach 1945 vorgelegt hat, benennt den Auftakt der ästhetischen Revolte. Vor allem die jüngere Generation der Schriftsteller und Dramatiker sucht den direkten Anschluss an die Wirklichkeit. Die Fiktion, die erfundene Geschichte, das poetische Idyll geraten unter den Verdacht eskapistischer Verschleierung. Rolf Hochhuth provoziert mit seinem Papst-Drama "Der Stellvertreter", Alexander Kluge dokumentiert in "Schlachtbeschreibung" den Untergang der 6. Armee in Stalingrad. Martin Walser schreibt ein Vorwort für Erika Runges "Bottroper Protokolle", es sind Einblicke in die Welt der Arbeiter. Hans Magnus Enzensberger fordert eine neue, politische "Alphabetisierung Deutschlands":
"Der Schriftsteller, der sich darauf einlässt, verspürt plötzlich eine kritische Wechselwirkung, ein Feedback zwischen Leser und Schreiber, von dem er sich als Belletrist nichts konnte träumen lassen. Statt blöder Rezensionen, in denen ihm bescheinigt wurde, dass er sich von seinem zweiten bis zu seinem dritten Buch vielversprechend weiterentwickelt habe, wohingegen sein viertes Buch eine herbe Enttäuschung gewesen sei, erfährt er nun Korrekturen, Widerstände, Beschimpfungen, Gegenbeweise, mit einem Wort: Folgen!"
Hans Magnus Enzensberger formuliert diesen Appell in der Zeitschrift des Suhrkamp-Verlags, dem heute legendären "Kursbuch 15" vom November 1968. Der Band versammelt mehrere Essays von Schriftstellern und Kritikern zum Stand der Literatur. Zusammen genommen, verkünden sie das Ende der bürgerlichen Ästhetik, den Tod der Literaturkritik, ja der Literatur selbst – einer Literatur, die nicht begreift, was die Stunde geschlagen hat. Enzensberger schreibt:
"Für literarische Kunstwerke lässt sich eine wesentliche gesellschaftliche Funktion in unserer Lage nicht angeben. Wer Literatur als Kunst macht, ist damit nicht widerlegt, er kann aber auch nicht mehr gerechtfertigt werden. Wenn die intelligentesten Köpfe zwischen zwanzig und dreißig mehr auf ein Agitationsmodell geben als auf einen experimentellen Text; wenn sie lieber Faktographien benutzen als Schelmenromane; wenn sie darauf pfeifen, Belletristik zu machen und zu kaufen: Das sind freilich gute Zeichen."
Böttiger: "Es war damals etwas, was in der Luft lag, er hat gewittert, dass wenn er jetzt der Literatur den Tod erklärt, dann meint er natürlich von vornherein den Literaturbetrieb, der die bestehenden Verhältnisse sanktioniert. Das hatte er im Auge, das wurde auch von jedem damals so deutlich gelesen in dieser Form. Wie man das heute verkürzt versteht, dass Literatur gar keinen Sinn mehr habe, das war damals gar nicht im Horizont, die Literatur war so dominant, sie beherrschte auch die Tagespolitik, sie war eine große Autorität. Wenn ein Schriftsteller etwas sagte, dann war das eine moralische Autorität, vor diesem Hintergrund ist es zu verstehen."
Heute weist Hans Magnus Enzensberger die Rolle des Totengräbers der Literatur entrüstet von sich, doch etliche Kollegen machten – wenn auch nur kurzzeitig – ernst. 1970 veröffentlicht Martin Walser den Text "Fiction", ein Abgesang auf den traditionellen Roman bürgerlicher Provenienz. Peter Handke taucht ganz ein in die eigene Innenwelt, auch er will keine "fremden" Geschichten schreiben. Wolf Wondratschek formuliert süffisant: "Romane waren noch Zeiten." – Natürlich war die Literatur keineswegs tot. Bald reüssierten die Autoren, allen voran Martin Walser, wieder mit prallen Fiktionen, die Nachrichten aus der Arbeitswelt waren schnell von gestern. 1968 in der Literatur bedeutete eine Phase von kurzer Leidenschaftlichkeit, von blitzenden Visionen, die durchaus wirkten, auch wenn sie nur Episode blieben. Helmut Böttiger:
Böttiger: "Es war auf jeden Fall ein Epochenschnitt in der Geschichte der Bundesrepublik und deswegen auch der Geschichte der Literatur. Die Neuansätze nach 1968 – also, wenn man die Schlagworte der Neuen Subjektivität nimmt, Nicolas Born, Rolf-Dieter Brinkmann – die sind nur durch die 68er Bewegung zu erklären. Die Texte selbst, die dort entstanden sind, sind nur zeitaktuell wichtig und literarisch eher belanglos, aber als Wirkung, ein neues Terrain für literarische Diskussionen zu schaffen, ist diese Zeit wirklich eminent bedeutend."
Beitrag zum Nachhören (MP3-Audio)
Nein, Peter Handke war ganz bestimmt kein Street Fighting Man, kein Straßenkämpfer, auch kein rebellischer Student, doch sein Gedicht mit der Mannschaft des 1. FC Nürnberg atmet ganz den Geist der Zeit, in der es entstand. Poetische Lyrik, Stimmung, Gefühl? Von wegen! Fakten, Realität: "Nicht Literatur als Kunst, sondern Wirklichkeit" wird Günter Wallraff im Rückblick auf die 60er Jahre die Losung der Stunde zusammenfassen: Es ist das Jahrzehnt des Dokuments. Begonnen hat es mit Politik, der Erinnerung an die Vergangenheit, der mit Akten und Fakten belegte Schock des Holocaust.
Böttiger: "Man muss sich vorstellen, dass der Auschwitz-Prozess in den 60er Jahren in Frankfurt tatsächlich eine große Öffentlichkeitswirksamkeit hatte und dass dafür im Grunde keine literarischen Mittel zur Verfügung standen. Wenn man sich die Literatur vor Augen führt, die damals in den Lesebüchern stand, also Georg Britting, Albrecht Goes, Werner Bergengruen – das ist natürlich eine Literatur, die dafür gar keine Sprache hatte. Und der erste Gedanke, der naheliegend war, ist, die Dinge wirklich zu dokumentieren. Deswegen hatte Peter Weiss einen großen Erfolg, in dem er en Auschwitz-Prozess protokollarisch verwendete, und dann ging es: durch Fakten, durch Materialien vor Augen zu führen, was die Literatur bisher gar nicht im Blickfeld hatte."
Der Literaturkritiker Helmut Böttiger, der eine Geschichte der deutschen Literatur nach 1945 vorgelegt hat, benennt den Auftakt der ästhetischen Revolte. Vor allem die jüngere Generation der Schriftsteller und Dramatiker sucht den direkten Anschluss an die Wirklichkeit. Die Fiktion, die erfundene Geschichte, das poetische Idyll geraten unter den Verdacht eskapistischer Verschleierung. Rolf Hochhuth provoziert mit seinem Papst-Drama "Der Stellvertreter", Alexander Kluge dokumentiert in "Schlachtbeschreibung" den Untergang der 6. Armee in Stalingrad. Martin Walser schreibt ein Vorwort für Erika Runges "Bottroper Protokolle", es sind Einblicke in die Welt der Arbeiter. Hans Magnus Enzensberger fordert eine neue, politische "Alphabetisierung Deutschlands":
"Der Schriftsteller, der sich darauf einlässt, verspürt plötzlich eine kritische Wechselwirkung, ein Feedback zwischen Leser und Schreiber, von dem er sich als Belletrist nichts konnte träumen lassen. Statt blöder Rezensionen, in denen ihm bescheinigt wurde, dass er sich von seinem zweiten bis zu seinem dritten Buch vielversprechend weiterentwickelt habe, wohingegen sein viertes Buch eine herbe Enttäuschung gewesen sei, erfährt er nun Korrekturen, Widerstände, Beschimpfungen, Gegenbeweise, mit einem Wort: Folgen!"
Hans Magnus Enzensberger formuliert diesen Appell in der Zeitschrift des Suhrkamp-Verlags, dem heute legendären "Kursbuch 15" vom November 1968. Der Band versammelt mehrere Essays von Schriftstellern und Kritikern zum Stand der Literatur. Zusammen genommen, verkünden sie das Ende der bürgerlichen Ästhetik, den Tod der Literaturkritik, ja der Literatur selbst – einer Literatur, die nicht begreift, was die Stunde geschlagen hat. Enzensberger schreibt:
"Für literarische Kunstwerke lässt sich eine wesentliche gesellschaftliche Funktion in unserer Lage nicht angeben. Wer Literatur als Kunst macht, ist damit nicht widerlegt, er kann aber auch nicht mehr gerechtfertigt werden. Wenn die intelligentesten Köpfe zwischen zwanzig und dreißig mehr auf ein Agitationsmodell geben als auf einen experimentellen Text; wenn sie lieber Faktographien benutzen als Schelmenromane; wenn sie darauf pfeifen, Belletristik zu machen und zu kaufen: Das sind freilich gute Zeichen."
Böttiger: "Es war damals etwas, was in der Luft lag, er hat gewittert, dass wenn er jetzt der Literatur den Tod erklärt, dann meint er natürlich von vornherein den Literaturbetrieb, der die bestehenden Verhältnisse sanktioniert. Das hatte er im Auge, das wurde auch von jedem damals so deutlich gelesen in dieser Form. Wie man das heute verkürzt versteht, dass Literatur gar keinen Sinn mehr habe, das war damals gar nicht im Horizont, die Literatur war so dominant, sie beherrschte auch die Tagespolitik, sie war eine große Autorität. Wenn ein Schriftsteller etwas sagte, dann war das eine moralische Autorität, vor diesem Hintergrund ist es zu verstehen."
Heute weist Hans Magnus Enzensberger die Rolle des Totengräbers der Literatur entrüstet von sich, doch etliche Kollegen machten – wenn auch nur kurzzeitig – ernst. 1970 veröffentlicht Martin Walser den Text "Fiction", ein Abgesang auf den traditionellen Roman bürgerlicher Provenienz. Peter Handke taucht ganz ein in die eigene Innenwelt, auch er will keine "fremden" Geschichten schreiben. Wolf Wondratschek formuliert süffisant: "Romane waren noch Zeiten." – Natürlich war die Literatur keineswegs tot. Bald reüssierten die Autoren, allen voran Martin Walser, wieder mit prallen Fiktionen, die Nachrichten aus der Arbeitswelt waren schnell von gestern. 1968 in der Literatur bedeutete eine Phase von kurzer Leidenschaftlichkeit, von blitzenden Visionen, die durchaus wirkten, auch wenn sie nur Episode blieben. Helmut Böttiger:
Böttiger: "Es war auf jeden Fall ein Epochenschnitt in der Geschichte der Bundesrepublik und deswegen auch der Geschichte der Literatur. Die Neuansätze nach 1968 – also, wenn man die Schlagworte der Neuen Subjektivität nimmt, Nicolas Born, Rolf-Dieter Brinkmann – die sind nur durch die 68er Bewegung zu erklären. Die Texte selbst, die dort entstanden sind, sind nur zeitaktuell wichtig und literarisch eher belanglos, aber als Wirkung, ein neues Terrain für literarische Diskussionen zu schaffen, ist diese Zeit wirklich eminent bedeutend."
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