"Nun sollte all das zerstört sein?"
Am Unglücksabend lauschte Henry Bernhard in der Weimarer Stadtkirche Bachkantaten in toller Besetzung - da störte das unablässige Heulen der Feuerwehrsirenen draußen immens. Erst zuhause begriff er, was da gebrannt hatte: die Bibliothek, die er mit 15 Jahren das erste Mal betreten hatte. Nun hat er die eindringlichen Schilderungen jener gesammelt, die damals vor Ort waren.
Am Abend des 2. September 2004 saß ich in der Weimarer Stadtkirche in einem Konzert. Joshua Rifkin dirigierte Bachkantaten, ein Spezialist, das Konzert war ein Genuss. Durchsichtig und klar der Klang. Aber nach einer halben Stunde mischten sich Feuerwehrsirenen in die Arien, immer wieder, immer mehr. Ich war genervt.
Joshua Rifkin: "Sie waren nicht der Einzige! Ich stand da am Dirigierpult, und ich frag mich: Was ist denn das? Ich war natürlich ziemlich empört darüber! Die zerstören mein Konzert!"
Helmut Seemann: "Ich habe mich an dem Abend in einer kleinen philosophischen Runde in Ettersburg aufgehalten und haben uns da mit Kant beschäftigt. Und ich hörte immer, wie mein auf kleine Flamme gestelltes Handy in meiner Tasche so vor sich hin brummte."
Helmut Seemann, damals und heute Präsident der Klassikstiftung Weimar.
"Schließlich habe ich gedacht: jetzt gehst Du doch mal dran! Und dann war es meine Frau, die mir sagte, dass die Bibliothek brennt. Ja, und so kam ich dann Gottseidank so kurz vor neun auf dem Platz der Demokratie an."
Anders als Helmut Seemann bekam ich keinen Anruf. Nach dem Konzert fuhr ich nach Hause und musste bald das Autofenster schließen, weil es zu sehr nach Rauch stank und verkohlte Papierfetzen hereinwehten. Erst zu Hause, als ich es in den Nachrichten hörte, begriff ich, was da in Weimar brannte: Die Bibliothek, die ich mit 15 Jahren das erste Mal betreten hatte, die mich beeindruckt hatte mit ihren unzähligen Zettelkästen und den alten Büchern, die vor mir manchmal über Jahrzehnte niemand ausgeliehen hatte. Die Anna Amalia Bibliothek stand in hellen Flammen. Und die kollektive Fassungslosigkeit darüber ist ein Sinnbild dafür, wie unvorstellbar das für alle war – außer vielleicht für die Feuerwehr.
Ralf Seeber: "Also, als ich die erste Lageerkundung gemacht habe, guckt man und hört nach typischen Geräuschen. Wie weit hat sich das Feuer ausgebreitet."
Ralf Seeber, damals der erste Einsatzleiter der Feuerwehr.
"Das Feuer arbeitet im Dachstuhl"
"Und dort gibt es so typische Geräusche, die ein Dachstuhlbrand macht Und daran kann man eigentlich schon hören: Aha, das ist nicht ein kleines Feuer oder eine begrenzte Geschichte, sondern das Feuer arbeitet mit dem Dachstuhl."
Michael Knoche: "Also, in der Situation habe ich mich eher wie ein Rettungssanitäter gefühlt, der jetzt klaren Kopf behalten muss und nicht ins Lamentieren ausbrechen darf."
Michael Knoche, damals wie heute Direktor der Anna Amalia Bibliothek.
"Wir haben zuerst versucht, die großen Kunstwerke, die man eben per Hand auch tragen konnte, aus dem Rokokosaal zu holen und dann angefangen, einzelne Bücher von den Regalen zu nehmen."
Über eine Menschenkette gelangten Gemälde, Plastiken und Bücher nach draußen, von Hand zu Hand.
Jürgen Weber: "Zu der Zeit lief schon das Löschwasser vom Dach über die Regale durch die Geschosse."
Jürgen Weber, Stellvertretender Direktor der Anna Amalia Bibliothek.
"Die Bücher sind dann nass geworden. Also, wir haben sie aus den Regalen genommen und weitergereicht. Von Person zu Person; das waren rund 200 Personen, die auf der Treppe standen. Und die Bücher sind auf diesem Weg so nach unten gekommen."
Unten wickelten Helfer die Bücher einzeln in Frischhaltefolie. Nasse Bücher mit Leder- und Pergamenteinbänden verkleben sonst. Der Dachstuhl stand währenddessen innerlich in Flammen, sie leuchteten durch die Dachfenster, Rauch quoll heraus.
Eine dreiviertel Stunde, nachdem die Rauchmelder angeschlagen hatten, schlägt das Feuer durchs Dach. 10, 20 Meter hohe Stichflammen schießen in den Abendhimmel. Glühende Balken fallen herab, Buchseiten wirbeln durch die Luft. Eine ganze Etage Bücher und 37 historische Gemälde verbrennen.
Joshua Rifkin: "Sobald die letzte Note erklang, sagte man mir, die Bibliothek würde brennen! Und dann laufen wir alle nach draußen und wir sehen noch den Himmel eigentlich ganz feurig, und es glüht dort. Und wir waren wirklich zutiefst erschüttert, muss ich sagen."
330 Feuerwehrleute sind inzwischen im Einsatz, der Dachstuhl wirkt wie ein schwarzes Skelett vor rotem Grund. Die Rahmen der Dachfenster scheinen im Feuermeer zu schweben.
Ralf Seeber: "Die Situation wird so gefährlich: Keine Bücherbergung mehr, Brandbekämpfung nur noch von außen! Und zu diesem Zeitpunkt kam Dr. Knoche zu mir und sagte, Herr Seeber, wir müssen jetzt noch die Lutherbibel retten! Ich sage, 'Hm, Doktor, ich weiß nicht, wie sie aussieht … Wir können zusammen hingehen!' Das haben wir auch gemacht. Also ich habe geführt, Dr. Knoche ist mit, und dann hat er mir aus diesem Regal, dem gefühlten 10 Meter langen Bibelregal, hat er mir mehrere Bibeln in die Hand gedrückt, hat sich welche genommen, und dann sind wir wieder raus gerannt."
Die Lutherbibel ist Teil einer großen historischen Bibelsammlung. Sie stand in einem Regal an der Stirnseite des Rokokosaals. Hinter dem Regal führte die Treppe hoch ins brennende zweite Geschoss. Die Flammen erfassten Regal und Treppe. Immer wieder rollen Feuerwalzen über die Freiwilligen Feuerwehrleute, die diese Stelle halten.
Ralf Seeber: "Wenige Minuten danach hat Helmut Seemann zu mir gesagt: 'Herr Seeber, wir müssen Schiller retten! Der steht da oben irgendwo!' Ich bin ja an der Friedrich-Schiller-Schule gewesen, wo also dieses typische Schiller-Bild …, mit dem bin ich aufgewachsen, das ist für mich Sinnbild für Schiller, mit den lockigen Haaren und so … Und habe den von dieser Balustrade abgezerrt. War völlig erstaunt, wie schwer der eigentlich ist! Das war für mich emotionaler, als die Lutherbibel retten! Kannte ich vorher nicht, und hätte sicherlich auch nicht drin geblättert.'
Ralf Seeber, die Feuerwehr sind unschlüssig, ob die Decke der zweiten Galerie dem Brand standhalten würde.
Eine unglaublich mutige Entscheidung
Helmut Seemann: "Und auf dem Platz vor der Bibliothek kam ein Kolloquium von Statikern zusammen. Das waren Kollegen aus der Bauhaus-Universität, zum Teil aber auch Büros, mit denen wir die Restaurierung der Bibliothek planten."
Walter Grunwald: "Und da hat der Statiker mit dem Brandmeister gesprochen und gesagt: Die Decke hält! Die Decke hält mindestens vier Stunden, mindestens!"
Walter Grunwald ist der Architekt für die ohnehin geplante Sanierung der Bibliothek.
"Und daraufhin hat der Brandmeister die unglaublich mutige Entscheidung getroffen, die Leute wieder reinzulassen. Und das hat den Buchbestand gerettet! Ansonsten wären die Schäden viel, viel schlimmer gewesen!"
Helmut Seemann: "Aber eigentlich haben wir in dieser Nacht ja den Rokokosaal vollständig geräumt. Der war am nächsten Morgen praktisch leer."
40 Tonnen nasse Bücher werden in den kommenden Tagen nach Leipzig ins Zentrum für Bucherhaltung gebracht und zunächst eingefroren, um weiteren Verfall zu stoppen. 28.000 Bücher sind unversehrt geblieben, 90.000 Bücher sind geschädigt, von 25.000 Büchern gibt es keine Einbände mehr, ihre Ränder und Rücken sind verkohlt. 50.000 Bücher sind völlig verbrannt, ein Viertel des historischen Bestands.
Walter Grunwald: "Ich habe brennende Städte gesehen, da ist in jeder Nacht mehr vernichtet als zehn Bibliotheken. Und für mich war das ein Kriegserlebnis. Als ich auf dem Brandschutt da oben stand und die Hitze von der Glut durch meine Schuhsohlen gespürt habe, war es für mich wieder Krieg. Aber für alle anderen war es das erstmalige Erlebnis einer solchen Katastrophe, einer solchen Kulturkatastrophe. Das war ein Brand, der wirklich die Welt erschüttert hat."
Joshua Rifkin: "Und hat man uns dann dazu eingeladen, am Abend darauf ein Konzert auf der Wiese vor der Bibliothek zu machen. Und das war nochmals ein ganz, ganz gravierendes, erschütterndes Erlebnis: ich meine, wir sahen das Skelett der Bibliothek hinter uns. Und dann waren fast alle Menschen Weimars dorthin gelaufen … Die brauchten irgendwie den Trost dieser Musik."
Keine persönlichen Schuldzuweisungen
Drei Tage lang qualmte die Bibliothek noch, bis die letzten Glutnester gefunden waren. Vor dem Wiederaufbau der Bibliothek stand dann die Frage nach der Brandursache, nach Schuld oder Verantwortung. Das Feuer war an einem überlasteten Elektrokabel ausgebrochen. Der Bibliotheksdirektor Knoche.
Michael Knoche: "Das BKA hat ja hier lange ermittelt und hat zum Schluss festgestellt, dass es eine persönliche Verantwortung für keinen geben kann. Die Restaurierungen waren vorbereitet; wir wussten alle, dass es sich hier um Kabel handelt, die mindestens seit 1940 existiert hatten und dass es entsprechend heikel war, den Betrieb hier überhaupt noch aufrecht zu erhalten."
Der Wiederaufbau der Bibliothek, deren Sanierung ohnehin geplant war – für den Architekten der Auftrag seines Lebens.
Walter Grunwald: "Das Spannende daran war eigentlich, dass durch die Vernichtung des Feuers, durch dieses Wasser überall drin, mussten wir viele, viel Dinge aufmachen: Fußböden, Wandpaneele, Einrichtungen in der Bibliothek. Die hätte ins die Denkmalpflege NIE erlaubt aufzumachen."
Der Rokokosaal erscheint 2007 nach drei Jahren Sanierung so schön wie zuvor. Bis auf die total verbrannte zweite Galerie: Sie wird als Sonderlesesaal modern gestaltet. In der Mitte, um das Auge, das den Blick bis zum Boden des Saals freigibt, umhüllt ein großer Glasquader museumsgleich die verbrannte Balustrade und den Originalfußboden, den die dicke Bücher-, Holz- und Schieferschicht vorm Verbrennen gerettet hat. Ein Sarkophag.
"Ich hab mal gesagt, als wir das Gebäude übergeben haben: Ich war nie so gut in meinem Leben als Architekt. Und ich bin überzeugt davon: Keiner von den anderen, die dort gearbeitet haben, waren je so gut in ihrem Leben. Und keiner – mich eingeschlossen – wird jemals wieder so gut sein. Es war einmalig."
14 Millionen kostet die Bibliothek, die jetzt wirklich feuersicher sein soll. Der Geldbedarf für Sanierung und Wiederbeschaffung der Bücher wird auf 67 Millionen Euro geschätzt. Knapp 40 Millionen sind bislang geflossen – Geld von Bund und Land, aber auch von 22.000 Spendern, großen wie kleinen.
"Diese ganzen Spenden: Es war wirklich permanentes Gesprächsthema zwischen uns, die an dem Gebäude bauen. Ja, es waren nicht die Millionen, die jemand spenden kann aus irgendeinem Stiftungsding, sondern für uns, die daran beteiligt waren: Es waren die 1-Euro-Spenden, die es wertvoll gemacht haben. Es waren wirklich Kinder und Jugendliche und … waren das die Spenden. Ja."
Hunderttausend Bücher mit Wasser-, Hitze-, Rauchschäden
Schlimmer als dem Gebäude ging es den Büchern. Nie zuvor wurde irgendwo auf der Welt versucht, eine derartige Masse von beschädigten Büchern wieder herzustellen. Hunderttausend Bücher mit Wasser-, Hitze-, Rauchschäden, 25.000 Aschebücher. Die leicht geschädigten Bücher wurden in Werkstätten quer durch Europa saniert. Die Aschebücher lagern in der Karlsmühle, einem alten Lagerhaus in Weimar.
In der obersten Etage stehen Paletten, Dutzende, vielleicht auch Hundert. Voller grauer Pappkisten, größere, kleinere. Ein Geruch von kalter Asche liegt in der Luft.
Alexandra Schmidt: "Ja, der Geruch ist ganz typisch. Aber der hat schon nachgelassen. Das war vor einigen Jahren deutlich intensiver, wenn man hier hineinkam."
Alexandra Schmidt ist Leiterin Bestandserhaltung der Anna Amalia Bibliothek.
"In vielen dieser Kisten sind Bände, von denen wir noch nichts wissen. Das sieht man auch: Die Paletten sind teilweise noch komplett ungeöffnet. Wir können aber mal in so eine Kiste reingucken! Das sind die schwer brandgeschädigten Bände …"
Ein Haufen Asche, möchte man sagen. Ein stark verkohltes Buch, die ersten Seiten fehlen ganz.
"Und die Verpackungssituation, wie sie seither herrscht."
Etwa 15 Bücher, schätzen die Mitarbeiter, schaffen sie pro Tag zu identifizieren. 15 von 25.000. Die Aschebücher, die restauriert werden sollen, weil sie nicht so stark geschädigt oder weil sie so wertvoll sind, gehen nach Legefeld bei Weimar. In einer schmucklosen Halle hat der Restaurator Günter Müller eine Werkstatt aufgebaut, in der wie am Fließband Aschebücher restauriert werden. Große Geräte aus Edelstahl stehen herum, die grauen Pappkisten aus der Karlsmühle, alles ist sauber wie in einer Klinik. Kein einziges Buch ist zu sehen.
Günter Müller: "Nun stellen sie sich das bildlich bitte mal vor: Etwa 28.000 solcher Schachteln! Was für eine gewaltige Aufgabe da ist! Glücklicherweise ist das alles schon dokumentiert. Wir wissen also genau, können uns darauf verlassen, dass diese Objekte in der richtigen Reihenfolge … Das ist zum Beispiel eine hebräische Druckschrift; die fängt von hinten an."
Müller war bereits Rentner, als die Anna Amalia vor zehn Jahren brannte. 2007 hat er wieder angefangen zu arbeiten und ein Verfahren entwickelt, in dem über Nacht Hunderte Buch-Seiten auf einmal gewaschen werden können, so dass Ruß, Schlamm, Gifte entweichen. Am Morgen darauf beginnt der Zauber, der aus einem verkohlten Buch-Rest wieder ein Buch macht.
"Das ist das flüssige Papier, ja!"
Er schöpft mit einer Kelle eine milchige Flüssigkeit aus einem Kübel.
"In diesem Gerät wird eigentlich flüssiges Papier automatisch an alle Fehlstellenbereiche geleitet, das heißt: an klaffende Risse, an verbrannte Randstellen, wo das Papier fehlt. Das wird ergänzt mit flüssigem Papier. Und jetzt beginnt eigentlich die Schwierigkeit, wie es dann zu einem Blattgefüge kommt, dass es also eine dauerhafte Verbindung mit dem Original eingeht. Und diese Verbindung wird hergestellt mit diesem speziellen Japan-Papier."
Das ist wie so ein Flies eigentlich …
"Richtig! … und einem ganz speziellen Klebstoff, den ich entwickelt habe, den gibt es nicht zu kaufen."
Das hauchdünne Japanpapier ist etwa 40 mal leichter als gewöhnliches Druckerpapier. Es umschließt die Originalseiten auf der Vorder- und Rückseite und hinterlässt einen feinen milchigen Schleier auf den historischen Seiten. Nachdem sie getrocknet sind, lassen sich die vormals spröden und angebrannten Seiten wieder blättern wie ein neues Buch.
Vier bis fünf Euro Restaurierungskosten pro Buch
"Vor allem, wir müssen auch kostengünstig arbeiten! Bei der Masse, bei schätzungsweise 1,4 Millionen Blättern, die wir eigentlich machen müssen, muss ich schon kalkulieren, dass am Ende praktisch so ein Blatt nur vier bis fünf Euro kostet und nicht eben 80 Euro!"
Michael Knoche: "Ja, Gottseidank haben wir den Einstieg in die Mengenrestaurierung geschafft!"
Meint Michael Knoche, Direktor der Anna Amalia Bibliothek.
"Ja, wir haben 25.000 Aschebücher gezählt, und wir haben bisher 2200 restauriert. Das ist also noch ne große Menge, die vor uns liegt; aber wir sind uns auch sicher, dass wir auf keinen Fall mehr als die Hälfte dieser 25.000 restaurieren wollen, weil die andere Hälfte einfach zu fragmentiert ist."
Günter Müller: "Wichtig ist jetzt der Text und nicht jetzt etwa Einbandvarianten, Verzierungen, Kosmetik, weil bei diesen Aschebüchern die Einbände … Die gibt es nicht mehr, die sind also verbrannt."
Seit dem Brand hat die Bibliothek 40.000 Bücher neu erhalten, fast die Hälfte als Geschenk. 10.000 davon sind Bücher, die beim Brand verloren gegangen sind, meist in derselben Ausgabe. Der Präsident der Klassik-Stiftung, Helmut Seemann ist – wie immer – Optimist.
Helmut Seemann: "Ich glaube, dass der Verlust, der da erlitten wurde, ein kulturgeschichtlicher Verlust ist, den wir aber in vieler Hinsicht schon jetzt nicht nur kompensieren, sondern überkompensieren konnten. Das heißt, wir haben Verluste, die nicht wieder gutzumachen sind, durch neue Erwerbungen und neue Sammlungen so punktgenau ersetzen können, dass man sagen kann: Die Bibliothek ist eigentlich in ihrer Sammelkraft, in dem, was sie anzieht, was sie vermittelt an Zusammenhang von Kulturgeschichte, heute fast stärker, als sie vor dem Brand gewesen ist. Und das wird in einem halben Jahrhundert mit Sicherheit noch sehr viel stärker sein."
Das Gebäude bekam eine völlig neue Statik verpasst, unsichtbar für die Besucher. Und die strömen zuhauf: 90.000 im Jahr dürfen den Rokoko-Saal betreten, der bis vor zehn Jahren nur wenigen überhaupt bekannt war.
"Wenn sie heute in die Bibliothek gehen … Was sie erleben, ist immer dasselbe: Sie haben eine plaudernde Gruppe, und dann geht die Tür auf, und sie treten da ein, und es wird still. Es ist eine unglaubliche Erfahrung jedes Mal: Wenn sie mit einer Gruppe in den Rokokosaal kommen, hören die Menschen auf zu sprechen! Warum tun die das? Denn es ist doch ein Ort der Aufklärung! Und Aufklärung hat doch mit Diskurs zu tun, hat doch mit Sich-Ausdrücken zu tun! Aber die Menschen fangen an zu schweigen, sie werden erst mal still. Und das ist, glaube ich, das, was diesen Ort so einzigartig macht: Das ist ein sakraler Ort der Aufklärung! Hier ist etwas Zivilreligiöses im Spiel. Die Menschen merken: Hier haben wir es mit dem Zentrum unserer Identität zu tun! Wir sind aufgeklärte Menschen, aber wir wissen: Es gibt heilige Orte. Und ein solch heiliger Ort ist diese Bibliothek."
Walter Grunwald: "Es ist genau das, was sie sagen: Die Leute bewegen sich darin wie in einer Kirche! Und warum bewegen sie sich wie in einer Kirche? Weil: Es ist eine Kirche! Weil: Die Architektur ist eine protestantische Hallenkirche! Und auch dadurch, dass wir das jetzt …, dass das Gebäude so ins öffentliche Bewusstsein gerutscht ist, das ist durch den Brand, das ist durch die öffentliche Wahrnehmung eines unglaublich wertvollen Gebäudes für eine Generation, für die Brand nicht wie für mich …Ja: Ganze Städte sind verbrannt!"
Und wie geht es dem Feuerwehrmann, zehn Jahre nach dem Brand?
Ralf Seeber: "Ich meine, es gab andere Feuer und andere dramatische Einsätze, aber das wird sicherlich das wohl prägendste Ereignis sein! Also, wenn man Weimarer ist, dann ist man auch mit Leib und Seele der Klassik verhaftet! Jetzt sieht man das natürlich mit noch intensiveren Augen! Also mein Verhältnis, dass ich Kultur in mich aufsauge, ist sicherlich um das Doppelte gestiegen! Um einfach zu sagen: Das muss ich gesehen haben!"