Heimatlos durch den Alltag driften
Keine Helden, nur wenige Dialoge, Protagonisten, die sich nach Veränderung sehnen, aber meist in ihrem sozialen Umfeld verharren: Vor 20 Jahren entstand die Berliner Schule - und es gibt sie noch. Der neueste Streich ist "Western" von Regisseurin Valeska Grisebach.
Filmausschnitt "Western": "Wo soll es hingehen? / Nach Bulgarien. / Und was da? / Arbeiten! / Arbeiten? Arbeiten kannst du auch in Deutschland."
Deutsche Bauarbeiter brechen nach Bulgarien auf, um dort ein Wasserkraftwerk zu bauen. Wobei die bergige Landschaft Abenteuergefühle auslöst und Hahnenkämpfe. Valeska Grisebach erzählt mit "Western" aber auch eine zeitgenössische Geschichte.
Valeska Grisebach: "Weil da auch zwei unterschiedliche Perspektiven Europas aufeinandertreffen: Diese Deutschen, die da mit ihrer großen Technik und ihren Maschinen ankommen im Hochstatus, in dieses ärmste Land von Europa, Bulgarien."
Zugleich knüpft Valeska Grisebachs "Western" an den Ursprung der Berlin Schule an: Es gibt keine klassische Dreiaktstruktur, keine Helden und nur wenige Dialoge.
Rückblick: Mitte der 90er-Jahre finden in Berlin einige Filmschaffende zu einer Gruppe zusammen, die den deutschen Kinokomödienboom ablehnt und sich eher am deutschen Autorenfilm der 70er-Jahre orientiert. Dazu gehören zunächst Christian Petzold, Angela Schanelec und Thomas Arslan. Alle drei zeigen in ihren Filmen oft lange Einstellungen und Protagonisten mit Alltagsproblemen. Christian Petzold gelingt mit "Die innere Sicherheit", ein erster großer Achtungserfolg. Das Werk über die Tochter eines Ex-Terroristen-Paares auf der Flucht gewinnt 2001 den Deutschen Filmpreis.
Filmausschnitt "Innere Sicherheit": "Wir müssen hier weg, Caro. / Warum müssen wir denn schon wieder umziehen. / Du fandst es doch hier scheiße. / Ihr wollt mir doch nicht erzählen, dass ihr hier wegwollt, nur weil ich es scheiße fand."
Zweite Generation mit Regisseuren wie Hochhäusler und Heisenberg
Anschließend dreht Petzold Filme wie "Gespenster", "Yella" oder "Barbara", die den Sprung in den Berlinale-Wettbewerb schaffen. Sie zeigen Charaktere, die heimatlos durchs Leben driften. Und Angela Schanelec macht Filme über Frauencharaktere. Eine wichtige Neuerung kommt mit der zweiten Generation der Berliner Schule. Mit Regisseuren wie Christoph Hochhäusler und Benjamin Heisenberg, die 1998 die Filmzeitschrift "Revolver" in München gründen und die 2003 nach Berlin kommen. Heisenberg ist Namensgeber des Filmemachermagazins, das zum Forum der Berliner Schule wird.
Benjamin Heisenberg: "Es gibt ja auch diesen Mae West-Spruch: 'Hast du einen Revolver in der Tasche, oder freust du dich bloß, mich zu sehen?' Und da dachte ich, das sind lauter gute Konnotationen. Und es ist gefährlich, nostalgisch, rockig."
In Revolver attackiert Christoph Hochhäusler unter der Überschrift "Kino muss gefährlich sein" auch das Deutsche Unterhaltungskino:
"Große Filme gedeihen nicht im lauwarmen Milieu. Seien wir realistisch, untersuchen wir die Wirklichkeit. Erforschen wir die Schmerzgrenze mit den Mitteln des Films. Es wird Zeit, im Dickicht ausdrucksloser Ironie den Mut zu einem neuen Ernst zu finden."
"Gegen eine internationale Tendenz des Konsumkinos"
Hochhäusler versucht, die "Berliner Schule" zu einem Markenzeichen zu machen, will dazu auf dem Filmfestival in Cannes ein Manifest veröffentlichen. Doch die anderen lehnen ab. Immerhin starten Filmreihen unter dem Label "Berliner Schule" in Frankreich, den USA oder China. Wichtiger noch: In den 0er-Jahren stoßen Maren Ade und Ulrich Köhler stoßen hinzu, Nikolaus Wackerbarth und Henner Winckler. Die Filme der Berliner Schule werden nun immer spannender, dramaturgisch ansprechender und vielseitiger. Dennoch bleibt für Christoph Hochhäusler eine wichtige Verbindung.
Christoph Hochhäusler: "Gegen eine internationale Tendenz des Konsumkinos, dem völligen Verbrauch von Erzählformen, völlig ausgeleierten, immer gleichen Effektmaximierungsdramaturgien. Letztlich ist es die Sehnsucht, die Erzählung zu erretten."
Hochhäusler dreht mit "Die Lügen der Sieger" einen Film über Lobbyismus, Wackerbarth präsentiert die Tragikomödie "Casting" und Maren Ade gelingt mit der Vater-Tochter-Beziehung "Toni Erdmann" der Spagat zwischen Autorenfilm und Erfolgskino. Stilistisch hat das nur noch wenig mit dem zu tun, was die Berliner Schule einst ausmachte. Aber diese Filme zeigen Gesellschaftspolitik, subversiven Humor und den Reifungsprozess aller Beteiligten.