Die Jubiläums-Gala vom Circus Sonnenstich steigt am 2. und 3. Juni 2018 im Berliner Admiralspalast.
Starke Seelen
Ein Artistenzirkus für Menschen mit Behinderungen? Als Michael Andrees vor 20 Jahren die Idee dazu hatte, haben ihn viele ausgelacht. Mittlerweile arbeiten seine Mitglieder selbst als Ausbilder.
Rola Bola Bretter liegen auf dem Boden, Diabolos surren wie Insekten in den Händen der Artisten. Auf einer großen Turnmatte liegen bäuchlings drei junge, kräftige Männer: Jannic, Oskar und Mario. Sie sollen sich wie bei Liegestützen von den Matten abdrücken und dabei federleicht über den Rücken des jeweils anderen springen. Leicht soll es aussehen, doch die stunt-artige Showeinlage ist alles andere als leicht. Und was macht Oskar? Er bleibt einfach liegen.
"Natürlich kannst Du das, Oskar! Ihr seid dann auf einer super-coolen Bühne! Ihr habt so´ne tolle Power! Das Publikum will eure Power sehen! Oskar hoch mit Dir, und zeig mal, Liegestützensprung über Mario. Und Power! Oh, nö, Oskar…!"
Die meisten Künstler leben mit einem Downsyndrom
Michael Andrees feuert an, spricht gut zu, lobt und herzt. Gemeinsam mit seiner Frau, der Theaterregisseurin Katharina Andrees und vier professionellen Artisten trainiert er 15 junge Männer und Frauen für die Vorstellung im Admiralspalast. Vor 20 Jahren hat er den Circus Sonnenstich in Berlin gegründet: einen Artistenzirkus für Menschen mit Behinderungen. Die meisten leben mit einem Downsyndrom. So wie Jannic, Oskar und Mario. Wie fast alle Künstler, die an diesem Nachmittag trainieren, sind sie seit vielen Jahren beim Circus Sonnenstich - und hier erwachsen geworden.
"Hallo, ich bin Jannic, ich bin 27 Jahre alt, ich bin glücklich und ich bin gut drauf."
"Und was machst Du, was ist deine Disziplin?"
"Spaßvogel sein!"
"Und machst Du sonst noch was?"
"Ich übe gerne Diabolo, Akrobatik und Trapez."
Der schlaksige Jannic ist mittlerweile so gut im Diabolo, dass er Workshops für Anfänger gibt.
So wie der 27-jährige Florian, auch er hat das Downsyndrom. Seit 16 Jahren arbeitet er als Artist, seit acht Jahren ist er im Circus Sonnenstich.
Florian entwickelt eigene Tricks
"Florian hat nicht nur eine Liebe zum Diabolo, sondern eine wissenschaftliche Begeisterung. Wir haben so zwei, drei Jahre gebraucht, wo wir an Grenzen gestoßen sind und dann haben wir uns immer besser verstanden, dann ist irgendwann der Kipp-Punkt gekommen, wo sich bei Florian alles gelöst hat. Und seitdem entwickelt der Tricks, wo man denkt, das gibt es doch überhaupt nicht! Wo ein Mensch, der ihn von außen sieht sich vielleicht fragt: hab ich das Recht, diesen Menschen behindert zu nennen? Der ist doch so gut, so professionell, der hat so eine Ausstrahlung! Das ist herrlich."
Florian führt seinen aktuellen Lieblingstrick vor. Das dünne Seil zwischen den beiden Handstöcken des Diabolo spannt er um seinen angewinkelten Oberarm. Der Kegel hüpft durch seine Armbeuge hin und her, rotiert mit Tempo unter dem Arm hindurch, schnellt durch die Luft und landet dann wieder sicher auf dem Seil. Die flinken Hände des jungen Mannes arbeiten dabei mit einem Tempo, das einem beim Zuschauen schwindelig wird. Florian, ansonsten im Leben auf Hilfe angewiesen, macht in dieser Disziplin keiner was vor.
Das Einzigartige herauskitzeln
"Zu der Zeit als ich angefangen habe, 1997, hat ja niemand geglaubt, dass das möglich ist. Man hat mir auch von vielen Dingen abgeraten, weil man gesagt hat, Menschen ohne eine Behinderung, die können das doch viel besser und auch viel ästhetischer. Warum machst Du das überhaupt? Mich hat es von Anfang an interessiert, mit jedem Menschen herauszukitzeln, was könnte seine persönliche Exzellenz sein? Das war die Herausforderung, ich wusste nicht, ob's gelingt, aber es ist gelungen."
Florian muss heute etwas früher los, seine Mutter holt ihn ab. Vorher geht er zu Circus-Papa Michael Andrees und umarmt ihn ganz fest. Andrees weiß: Zusammen proben sie hier nicht nur für eine starke Show. Sie arbeiten an starken Seelen:
"Menschen mit einer Behinderung bekommen ihr Leben lang Hilfe und manche haben wirklich die Schnauze voll, Hilfe zu bekommen. Es ist so wichtig, alle Trainingsprozesse so zu organisieren, dass jeder Mensch Hilfegeber sein kann. Das stärkt die Seele total, wenn man nicht nur Teilhabe hat sondern auch Teilgeber ist und wirklich auch den anderen Menschen Dinge mitgeben kann."