20 Jahre Hamburger Stiftung für politisch Verfolgte

Von Nadine Dietrich · 12.09.2006
Nicht aufzuschrecken, wenn es an der Tür klingelt, nicht in Straßenkleidung zu schlafen, einzukaufen, ohne Angst vor Überfällen zu haben - für die Gäste der Hamburger "Stiftung für politisch Verfolgte" sind das keine Alltäglichkeiten, sie müssen sich erst wieder daran gewöhnen. Bislang 78 politisch Verfolgte, die sich für die Einhaltung der Menschenrechte in ihren Ländern einsetzen, hat die in Deutschland einmalige Stiftung in den 20 Jahren ihres Bestehens nach Hamburg eingeladen.
Ein Anruf bei Arturo Alape in Bogotá, der Hauptstadt Kolumbiens. Im Jahr 2000 war der Schriftsteller und Maler Gast der Hamburger Stiftung für politisch Verfolgte – das Stipendium rettete ihm das Leben.

"Die Einladung der Stiftung kam genau im richtigen Moment: Ich hatte wiederholt Morddrohungen bekommen – und es waren sehr direkte Drohungen. Der Grund war, ich hatte meine Biographie über den kolumbianischen Bauernführer Manuel Marulanda veröffentlich, das ist der Gründer der heute größten linksoppositionellen Guerillaorganisation in Kolumbien, der FARC."

Manuel Marulanda gilt in Kolumbien als "Staatsfeind Nummer Eins". Seit 40 Jahren kämpfen Marulandas FARC und der kolumbianische Staat erbittert gegeneinander. Arturo Alape macht die kolumbianischen Regierungen mitverantwortlich für dessen Radikalisierung. Paramilitärs, denen enge Kontakte zur staatlichen Armee Kolumbiens nachgesagt werden, drohten dem Schriftsteller daraufhin, ihn umzubringen.
Mit seiner Frau und den zwei kleinen Kindern floh Alape nach Hamburg. Heute lebt der 68-Jährige wieder sicher in Kolumbien.

"Ich denke schon, dass die Einladung der Stiftung für politisch Verfolgte Einfluss auf meine Sicherheit hat. Die anderen sehen: Ich bin so wichtig, dass man mich einlädt nach Europa, weil es offensichtlich gute politische Gründe dafür gibt. Diese Botschaft ist angekommen hier im Land."

Menschen wie den Schriftsteller Arturo Alape für ein Jahr nach Hamburg einzuladen, weil sie sich für Meinungsfreiheit und politische Mitbestimmung in ihren Ländern einsetzen und dabei ihr Leben riskieren - diese Idee hatte 1986 Klaus von Dohnanyi, damals war er Erster Bürgermeister in Hamburg.

"Der Ausgangspunkt war eine Überlegung von mir, die Erfahrung des dritten Reichs, dass sehr wichtige und einflussreiche Denker deutscher Sprache emigriert waren, aber im Ausland aufgrund ihrer wirtschaftlichen Situation kaum dazu in der Lage waren, daran zu arbeiten, woran sie eigentlich arbeiten wollten, nämlich an der Einflussnahme auf die Entwicklung in Deutschland selbst. Und da hab ich mir gedacht, wir müssen eine Stiftung gründen, allerdings können wir nicht eine Stiftung haben für alle Verfolgten, die ihr Land verlassen müssen, sondern wir wollten eben uns konzentrieren auf Menschen, die eine besondere geistige Rolle spielen können."

Insgesamt 77 politisch Verfolgte waren in den vergangenen 20 Jahren Gäste der Hamburger Stiftung: unter ihnen Frauenrechtlerinnen aus dem Iran, Oppositionspolitiker aus Nigeria, kurdische Rechtsanwälte und russische Journalisten.

"Ich bewundere sie, ich bewundere sie alle. Ich finde, das ist ein enormer Mut, und eine Entscheidung fürs Leben, sein Leben so einer Idee zu widmen, so einer guten Idee, nämlich Demokratie und Freiheit. Und sich nicht einschüchtern zu lassen und so viel hinzunehmen."

Sagt Martina Bäurle, sie leitet seit 15 Jahren die Stiftung und ist für die Auswahl und die Betreuung der Gäste verantwortlich.

"Ich hab ja auch schon viele Familien gesehen, die zerrissen sind. Die vorher Redakteure waren, Herausgeber von Zeitungen, die alles verloren haben, ihr Haus, ihren Lebensstandard, ihre Anerkennung, ihr sozialen Status. Und das ist ja auch das Anliegen von Herrn von Dohnanyi gewesen, diese Stiftung zu gründen, dass sie wenigstens ein Jahr mal ausspannen können, ohne die Angst zu haben, wovon lebe ich morgen, wie kann ich die Stromrechnung bezahlen. Dass das wenigstens ein Jahr mal aufhört."

Die Stiftung für politisch Verfolgte zahlt ihren Gästen nicht nur die Flugtickets nach Deutschland, sondern auch ein Jahr lang die Wohnungsmiete, einen monatlichen Unterhalt, die Telefonkosten, Krankenversicherungen, Sprachkurse und vieles mehr. 25 bis 33.000 Euro kostet ein Gast pro Jahr – je nachdem wie viele Familienmitglieder er mitbringt.
Die Stiftung selbst finanziert sich durch den Hamburger Senat, der der Stiftung vier Jahre hintereinander 250.000 Euro überwies und durch private Spenden. Davon wird auch die Öffentlichkeitsarbeit der Stiftungsgäste bezahlt. Der Schriftsteller und Maler Arturo Alape - am Telefon in Bogotá - erinnert sich:

"Es war ein wunderschönes Jahr in Hamburg, obwohl es eine erzwungene Reise gewesen ist. Ich habe über Kolumbien sehr viele Konferenzen abgehalten. Wenn ich mich richtig erinnere, waren das 25 bis 30 Konferenzen in diesem Jahr und dann drei Ausstellungen mit meinen Bildern und Collagen. Außerdem habe ich einen Roman begonnen und ihn auch fast fertig geschrieben. Aber vor allen Dingen habe ich es sehr, sehr genossen, mit meiner Familie glücklich zusammen sein zu können. Ein Familienalltag leben zu dürfen – dafür danke ich der Stiftung und vor allem Martina Bäurle persönlich."

Martina Bäurle erhält viele Anfragen von Betroffenen, die ihr Briefe oder E-Mails schreiben, sie bekommt Hinweise von Menschenrechtsorganisationen, Politikern und Journalisten, die Kontakte zu politisch Verfolgten in Not haben.

"Wir haben keine Berufsschwerpunkte und auch keine Länderschwerpunkte, also theoretisch können wir die fünf bis acht Stipendienplätze mit einem einzigen Land besetzen, also acht Mal Iraner oder Iranerinnen. Es gibt keine Berufssparten, das heißt, dass wir Journalisten, Schriftsteller, aber auch Bauernführer, Psychiater, Apotheker im Programm hatten. Das Kriterium ist immer, sich politisch engagiert haben für Demokratie und Freiheit. Und wir wählen aus, wer hat keine Möglichkeit, sich zu verstecken, wer wird verhaftet werden, wer ist akut bedroht?"

In einigen Fällen wurde die Einladung der Stiftung ganz spontan ausgesprochen und rettete dadurch politisch Verfolgten das Leben.
So geschehen im Fall zweier iranischer Frauenrechtlerinnen Ende der 90er Jahre, sie waren elf Jahre lang immer wieder inhaftiert und gefoltert worden. Martina Bäurle:

"Die Iranerinnen sind aus dem Gefängnis geflüchtet, sie haben einen Hafturlaub zur Flucht genutzt und sind bis in die Türkei gekommen, dort wurden sie aufgegriffen und da gab’s dann die Möglichkeit, entweder Rückschiebung in den Iran oder anstelle die beiden in den Iran zurückschieben, würden wir sie gern nach Hamburg einladen. Dem hat der Richter stattgegeben, so haben wir das Leben der beiden gerettet."

Im Frühjahr vergangenen Jahres machte der damalige ARD-Korrespondent in Russland Udo Lilischkies die Stiftung auf einen tschetschenischen Pressefotografen aufmerksam, der in Lebensgefahr schwebte. Nur wenige Monate später, im September 2005, kam Musa Sadulajew aus Grosny nach Hamburg. Martina Bäurle holte ihn und seinen zehnjährigen Sohn Adam vom Flughafen ab.

"Wir haben ihn eingeladen, weil wir gehört haben, dass er aufgrund seiner Fotos sich verstecken musste. Er hat Säuberungsaktionen fotografiert – junge Männer werden aus den Häusern geholt, werden gefoltert und erschossen. Ein befreundeter Kameramann, der diese Situation auch aufgenommen hat, der wurde gesucht und wenig später erschossen aufgefunden. Musa Sadulajew musste sich Tag für Tag versteckt halten, er hat in Kleidern geschlafen und regelmäßig die Wohnungen gewechselt. Wir freuen uns, dass es ihm gelungen ist, am Leben zu bleiben."

Ein Mann in Jeans und Pullover, mit schwarzen Haaren und müdem, grauem Gesicht kommt hinter der milchweißen Glaswand des Hamburger Ankunftsterminals hervor – einen kleinen Jungen an der einen Hand, in der anderen eine Sporttasche. Die beiden bleiben stehen, schauen sich ratlos um. Das müssen sie sein. Martina Bäurle geht auf sie zu ...

Musa Sadulajew hält die Träger der Sporttasche fest umklammert. Erst als er in seiner Hamburger Gastwohnung angekommen und die Haustür abgeschlossen ist, stellt er sie langsam auf den Boden und lässt sie los: 1800 Fotos auf mehreren CDs gespeichert hat er aus Tschetschenien herausgeschmuggelt.

Brisantes Material, denn seit zehn Jahren dokumentiert Musa Sadulajew den Terror in seinem Heimatland Tschetschenien. Er hat viele Fotos an die US-amerikanische Nachrichtenagentur Associated Press verkauft, dadurch sind sie in Tageszeitungen auf der ganzen Welt erschienen.
Sehr zum Ärger der russischen Regierung: Wladimir Putin spricht gern von einer Normalisierung der Lage, von einer Befriedung des Nordkaukasus’ – doch Musa Sadulajews Bilder bezeugen das Gegenteil und strafen Putin Lügen. Deshalb wurde der Fotograf verfolgt.

"Ich wurde mehr als einmal verhaftet und verhört – von russischen Militärs oder von der pro-russischen, tschetschenischen Polizei. Auch Freunde von mir sind vom russischen Geheimdienst abgeholt und ausgehorcht worden. Man wollte wissen, wo ich wohne, mit wem ich verkehre. Von da an bin ich abends nicht mehr nach Hause gefahren und habe jede Nacht woanders geschlafen."

Der bedrohliche Alltag in Tschetschenien lässt Musa Sadulajew auch in Hamburg nicht los. Als er in Deutschland ankam, hatte er permanent Kopfschmerzen und auch die nächtliche Stille hier machte ihm Angst, er war Gefechtslärm gewöhnt.

"”Wer nicht in einem Land wie Tschetschenien gelebt hat, der wird das nicht verstehen können. Ich bin anfangs bei jedem Geräusch zusammengezuckt. Wenn irgendwo geschossen wird, dann weißt du, wo die Feinde sind. Aber wenn es still ist, dann weißt du nicht, wo es als nächstes losgeht.""

Das Einleben falle allen Stipendiaten schwer, sagt die Stiftungschefin Martina Bäurle, zu gegenwärtig sei die permanente physische und psychische Bedrohung in ihren Heimatländern.

"Die ersten drei Monate sind sehr, sehr schwer. Wenn man so auf Hochspannung ist und so aufpassen muss in seinem Land, die Gefahr sofort erkennen und sich in Sicherheit bringen muss, dann läuft der Körper natürlich auf 180 Prozent und wenn er dann endlich mal zur Ruhe kommen darf, dann ist das schon so, dass man entweder in so eine Art Depression fällt oder tatsächlich krank wird, weil der Körper endlich mal sich das holen darf.
Aber das geht vorüber, nach drei Monaten ist das vorbei. Ich hab noch keinen erlebt, der dann nicht sofort was machen wollte – voller Energie und dann auch losging und eine schöne Arbeit geleistet hat."

Auch Musa Sadulajews Kopfschmerzen legten sich und er begann wieder zu arbeiten. Martina Bäurle vermittelte seine Fotos an namhafte Zeitungen und Magazine, arrangierte Podiumsdiskussionen und Pressegespräche. In Hannover, Baden-Baden und Potsdam zeigte Musa Sadulajew in großen Ausstellungen seine Bilder vom Alltag in Tschetschenien: Eine Frau, die auf einem zerschossenen Friedhof weint, Kinder vor brennenden Fabrikanlagen, russische Panzer vor zerbombten Wohnhäusern.

"”Ich habe viel veröffentlicht in Deutschland und Europa und mir ist bewusst, dass das auch in Russland bemerkt wurde. Natürlich wird das vielen Behörden und Politikern nicht gefallen, aber ich bereue meine Arbeit in Deutschland nicht. Es wäre gelogen zu sagen, ich habe keine Angst nach Tschetschenien zurückzugehen. Natürlich habe ich Angst.""

Doch das Heimweh überwiegt.

"Man kann das verallgemeinern: Sie haben alle großes Heimweh und da ist auch immer die Wehmut, Familienangehörige zurückgelassen zu haben und auch den politischen Kreis."

Martina Bäurle, Leiterin der Hamburger Stiftung für politisch Verfolgte.

"Hier ist es besser: kein Krieg, keine Gefahr, aber das Gefühl stellt sich gar nicht ein: Ich möchte hier bleiben. Sie berichten hier von ihrem Land, hier kann ich einem großen Kreis mitteilen, was bei mir los ist – Ausstellungen, Vorträge, Lesungen, bis zum Europaparlament, in der Hoffnung, dass sich etwas verändert. 80 Prozent gehen auch zurück und 20 Prozent bleiben hier, weil sie wissen, dass sie verhaftet werden oder gleich wieder verschleppt werden."

Im Fall von Musa Sadulajew fürchtet Martina Bäurle zum ersten Mal die Heimkehr eines Stipendiaten. Sie sagt, es gebe in Tschetschenien zu viele unberechenbare Kriegsparteien und kaum jemand habe international die Courage, Wladimir Putin zum Tschetschenienkrieg auch nur die Meinung zu sagen. Der Abschied von Musa und seinem zehnjährigen Sohn Adam, mit dem sie oft Fahrrad fahren und schwimmen war, fällt ihr schwer.

Gestern stand Martina Bäurle wieder am Hamburger Flughafen: Die Sadulajews sind zurück nach Tschetschenien geflogen.

"Ich muss wirklich sagen, von all denen, die ich betreut habe und das waren viele, über 70, ist keinem was nach ihrer Rückkehr passiert – weder ins Gefängnis noch Schlimmeres, ermordet oder ... Offensichtlich hat das internationale Auge, das auf sie geschaut hat, oder der Aufenthalt hier oder die Staaten wollen ein gutes Verhältnis zu Deutschland haben und überlegen sich: Naja, die haben den eingeladen, dann lassen wir den wohl eher in Ruhe. Und das hoffe ich natürlich auch sehr für Musa ...."